Io non ci volevo venire
von Roberto Alajmo
Seit seiner Kindheit wird Giovanni, übergewichtig und geistig etwas träge, an den Rand gedrängt. Als eine Dreißigjährige spurlos verschwindet, gerät er samt seiner Familie in einen Strudel, dem er nicht gewachsen ist.
Giovà der Schläfer
Nein, Giovà ist wahrlich nicht die hellste Kerze auf der Torte der Familie Di Dio, aber wenigstens die schwerste, und zwar sowohl bezüglich seines Körpergewichts als auch von Begriff. Bei wichtigen Gesprächen, etwa mit la signora Antonietta, seiner Mutter, neigt er dazu, sich vor jeder inhaltlichen Reaktion ein Zeitpolster zu verschaffen, indem er Teile der soeben gehörten Äußerung erst einmal wörtlich wiederholt. Seinen Gesprächspartnern genügt das oft schon, um das Heft wieder selber in die Hand zu nehmen. Kommen auch nur minimal indirekte Aussageweisen ins Spiel, etwa eine rhetorische Frage oder gar Ironie, ist der brave, aber naive Giovanni den Taktiken der Anderen rettungslos ausgeliefert.
Als die Haupthandlung ihren Lauf nimmt, ist Giovanni um die fünfzig Jahre alt und führt ein rundum ruhiges, im Großen und Ganzen zufriedenes Leben auf der Seite der Befehlsempfänger. Er kennt seine Schwächen und hat sich mit ihnen abgefunden. Schon bei den Straßenfußballturnieren seiner Kindheit hat er seine Lektionen gelernt. Mangels anderer Vorzüge als seines Volumens durfte er nur als Torwart mitmachen oder gar nicht. Für ein bisschen Anerkennung bei den ›richtigen‹ Spielern warf er sich ohne Rücksicht auf Verluste an Haut, Blut und Knochen jedem anfliegenden Ball entgegen auf den rauen Asphalt, doch honoriert wurde der schmerzhafte Einsatz nie.
Noch immer wohnt Giovà in der kleinen Wohnung seiner Eltern in Partanna, einem öden Vorort von Palermo, den er nie verlassen hat. Dort ist er im hierarchischen Gefüge der Familie und der kleinen Leute des Viertels fest einsortiert und hat sich privat allerlei kommode Nischen eingerichtet, um Unannehmlichkeiten und allzu großem Druck auszuweichen. Den übt in erster Linie seine Mutter aus. Was die gewitzte, mit allen Wassern gewaschene, radikale Pragmatikerin anordnet, gilt, und ihre Versuche, aus ihrem Sohn noch etwas zu machen, hat sie nie aufgegeben. Takt und Skrupel sind ihr unbekannt, manchmal fehlt ihr auch der Realitätssinn. So hält sie unermüdlich die Augen nach einer Frau für ihn offen, bugsiert ihn hin zu der ahnungslosen Kandidatin, gibt ihm lauthals Anweisungen wie einem Sechsjährigen. Selbst Giovanni registriert die ungezählten Peinlichkeiten, hat aber nicht die Mittel, sich gegen die resolut wohlmeinende Mamà zu wehren. Andererseits kann sie sich stets auf seine Unterstützung in praktischen Dingen verlassen, etwa beim Einkaufstütenschleppen oder als Begleiter beim Arztbesuch.
Als ihr Sohn etwa zwanzig Jahre alt war, fand la signora Antonietta es an der Zeit, dass er sich nach einer bezahlten Arbeit umsehe, und in Kenntnis seiner Limitationen begleitete und unterstützte sie ihn, als er sich mit diesem Anliegen bei lo Zzu vorstellte. Nun ist »lo Zio« zwar nicht einmal entfernt verwandt mit den Di Dio, aber als anerkannter Patron des ganzen Viertels irgendwie auch für sie zuständig. Ihm gehört die Bar Cristallo, vor der er den ganzen Tag auf einem simplen Stuhl sitzt, vor seinen zahlreichen Jüngern Hof hält und alle unsichtbaren Fäden zieht. Nichts geschieht hier, ohne dass er davon weiß. Womit niemand gerechnet hätte, trat ein: Schon nach ein paar Tagen wurde Giovà – wiewohl bar jeglicher Qualifikation – bei der Sicherheitsagentur des geometra Piscitello eingestellt und klappert seither Nacht für Nacht in seinem Dienst-Panda eine Anzahl von villette ab, was deren Eigentümern, ob an- oder abwesend, das Gefühl vermitteln soll, ihr Besitz sei sicher. Neben dem geregelten Salär und einer gewissen Amtsautorität durch die (leider viel zu enge) Uniform nebst Dienstpistole bietet die allnächtliche Arbeitszeit Giovanni willkommene Vorteile, insbesondere ausgiebige Pausen für ein Schläfchen oder ein kräftiges Frühstück, ehe er sich in der Agenzia abmeldet, um zu Hause seine verdiente Nachtruhe einzufordern.
Giovanni hat eine Zwillingsschwester, doch Mariella ist in allen Teilen sein glattes Gegenstück: rank und schlank, clever und geschickt, fix und nicht auf den Mund gefallen. Sie ist sogar verlobt, was ihr einen gesellschaftlichen Status der Arriviertheit garantiert, auch wenn Toni, der fidanzato, kurz nach Abgabe seines Eheversprechens Sizilien verließ, um in Turin zu arbeiten, und in Partanna nie mehr gesehen ward. Gelegentlich besucht Mariella ihn für eine Weile, aber zu einer Hochzeit kam es nie. Immerhin versorgt er Mariella so weit, dass sie sich die Unabhängigkeit einer eigenen kleinen Wohnung erlauben kann.
Dies ist das übersichtliche Spielfeld, auf dem sich eine witzige und aberwitzige Handlung entfaltet, erst gemächlich, dann immer turbulenter, drastischer und absurder. Der Auslöser ist simpel (eines Wintertages verschwindet eine Dreißigjährige spurlos), und mehr kann nicht verraten werden, denn alles, was sich nun ergibt, ist unerwartet und verblüffend. Mit Giovà als sympathisch-naivem, auf geradezu tragische Weise unfähigem Anti-Helden, der unvermutet in die Rolle des ›Ermittlers‹ gerät, greift das Chaos um sich. Die Handlung weitet sich aus, bleibt aber im überschaubaren Rahmen des Örtchens und des Milieus.
Roberto Alajmo konnte schon mit »Es war der Sohn« [› Rezension] (auch verfilmt) einen großen Erfolg erzielen. Er beherrscht alle Register der humoristischen sizilianischen Erzähltradition, wie sie sich auch in den berühmten Puppenspielen niedergeschlagen hat. Er gestaltet seine Figuren mit feinsinniger Psychologie, begleitet ihren Weg mit analytischer Akribie und setzt seine Handlung mit einer amüsanten Tendenz zum Dramatisieren um. Wie ein guter Regisseur führt der Erzähler ständig alle Figuren am Zügel, hat alle seine Schäfchen gleichzeitig im Blick. Keine Handbewegung, keine Nuance des Mienenspiels und vor allem keine Regung in den tiefsten Winkeln der Seelen bleibt uns verborgen. Wir erfahren, wer gerade worüber brütet, wohin strebt, sich worüber ärgert, wofür welche Revanche sucht, Überlegenheit auskostet oder um Anerkennung kämpft, welche Alternativen er oder sie abwägt. Inhaltliches Epizentrum ist das Gefüge der matriarchalischen sizilianischen Familie, in der jeder für den anderen geradesteht.
All dies erläutert Alajmo einfühlsam und humorvoll, gern mit ironischen Seitenhieben auf volkstümlich gehegte Besonderheiten weiblichen Verhaltens, fragwürdige Vorstellungen und sizilianische Eigenheiten versehen. Witzig: Der Erzähler ›übersetzt‹ in Aussagen, was sich die Protagonisten zwischen den Zeilen, per Blick, per Gedanken zuraunen.
Insgesamt ein unterhaltsamer Krimi, der hauptsächlich psychologisch-kommunikativ punktet und bei dem die Tätersuche Kapriolen schlägt. Die Sprache ist mittelschwer und übrigens fast frei von Dialekt und Umgangssprache.