Die strahlende Kraft der Hölzer
Wäre Edvard Hirifjell ein Baum, dann hätte er ein Problem: Er hätte keine Wurzeln. Sein Stamm würde auf einem Stückchen Erde stehen, von dem er nicht einmal weiß, ob er dort jemals verwurzelt war.
Als vernunftbegabter und beweglicher Mensch kann Edvard seine Lage wenigstens zu klären versuchen. Weniger dramatisch und rätselhaft als die des Baumes ist sie nicht.
Der junge Mann, 1968 geboren, wuchs bei seinem Großvater Sverre auf dem einsamen Hirifjell-Hof hoch oben im norwegischen Gudbrandstal auf. Großmutter Alma starb, als Edvard noch keine zehn Jahre alt war, und den gesamten Rest der Familie kennt er nur vom Hörensagen. Von Großonkel Einar, Sverres Bruder, weiß er nur, dass er Ende des Krieges fiel, mit seinem Vater Walter verbindet ihn keinerlei Erinnerung oder Emotion, und von seiner Mutter Nicole ist lediglich ein »Duft«, die Farbe Blau, ihre »Wärme«, die Weichheit des Beins, an das er sich geklammert hat, haften geblieben – gute Gefühle, die Edvard gern sehnsuchtsvoll auskostet.
Die spärlichen Informationen über seine Wurzeln handeln von deren Verlust, und Edvard verdankt sie ausschließlich dem Großvater. 1971 reisten Edvards Eltern im schwarzen »Prachtmercedes«, den Sverre ihnen dafür geliehen hatte, ins nordfranzösische Authuille, Nicole Daireauxs Heimatstadt. Dort wurden am 23. September ihre Leichen aufgefunden. Die Obduktion ergab, dass sie Kampfgas eingeatmet hatten und danach in einem Fluss ertranken. Das Gas entstammte einer Granate, wie noch viele im Boden des Frontverlaufs des I. Weltkriegs ruhen.
Warum Walter und Nicole Hirifjell das eingezäunte alte Schlachtfeld betraten und sich dem allseits bekannten tödlichen Risiko ausgesetzt hatten, ist eines der vielen Geheimnisse, die Edvards Kindheit und Jugend überschatten.
Als Drittklässler fällt Edvard zufällig ein kurzer Bericht in die Hände, der im Heimatjahrbuch der Gegend für das Jahr 1971 abgedruckt ist. Über die ihm schon bekannten Fakten zum Tod seiner Eltern in der Fremde hinaus liest er hier, dass die Verunglückten ihren dreijährigen Sohn dabei hatten, dass er für vier Tage spurlos verschwand, so dass die Polizei eine Entführung fürchtete, ehe er über einhundert Kilometer entfernt in einer Arztpraxis unversehrt aufgefunden wurde.
Edvard erinnert sich an nichts von alledem. Die drängendsten Fragen seiner obskuren Existenz – Wer bin ich? Wer sind meine Eltern? Was geschah 1971 in Frankreich? – bleiben unbeantwortet. Denn der Großvater verschiebt die Aufklärung hartnäckig auf später. Dass er ihm erst »alles erzählen« wolle, wenn er »groß genug« sei, macht den Waisenjungen aggressiv, lässt ihn in Tobsuchtsanfälle ausbrechen.
Als Sverre Hirifjell 1991 von einem Tag auf den anderen stirbt und all sein begehrtes Wissen mit ins Grab nimmt, ist Edvard verzweifelt. Wie soll er nun jemals herausfinden, was es mit seiner Vergangenheit auf sich hat? Er muss sich selbst der schwierigen Aufgabe stellen.
Ein wichtiger Zeitzeuge ist Pfarrer Thallaug, der der Gemeinde länger als ein halbes Jahrhundert dient, bereits die Eltern und Großeltern getraut hatte und Sverre nun beerdigen soll. Er weiß, warum die ganze Familie Hirifjell im Ort stets ausgegrenzt wurde, man vor ihnen ausspuckte und ihnen übel nachredete (»Vaterlandsverräter, Quisling«). Sverre hatte auf Seiten der Deutschen an der Ostfront gekämpft und kaufte noch nach dem Krieg bevorzugt deutsche Produkte. Die Anfeindungen hatten ein plötzliches Ende, als Sverre nach den Tagen des Bangens seinen wieder aufgetauchten Enkel aus Frankreich zu sich holte, ihn adoptierte und großzog. Damit gab er dem Kind ein Heim, und gleichzeitig gab das Kind dem Trauernden Trost und neuen Lebenssinn.
Als sie auf das Thema des Sarges zu sprechen kommen, erfährt Edvard von Thallaug ein makaber anmutendes Detail, hinter dem sich ein neuer, nicht weniger mysteriöser Zweig der Familiengeschichte auftut. Ohne dass Sverre davon wusste, steht sein Sarg schon seit Jahren für ihn bereit. Sein Bruder Einar hat ihn aus dem außergewöhnlichen Holz der Flammbirken für ihn getischlert. Edvard kennt es. Als Kind hat er sich in jenem Wald gefürchtet, denn wenn im Frühjahr der Saft in die Baumstämme stieg, löste das unregelmäßige Knallgeräusche aus, die sich wie Flintenschüsse anhörten. Mit einem lapidaren Satz, unverständlich und wie einem grausamen Märchen entsprungen, warnte der Großvater seinen Enkel, den Wald zu betreten: »Die Eisen meines Bruders brechen.«
Einar, so kommt Edvard mit der Zeit zu Ohren, arbeitete in den Dreißigerjahren in Paris als art-déco-Möbeltischler und kannte eine Methode, wie er der Flammbirke noch mehr Ausdruckskraft verleihen konnte. Er umspannte hundert junge Bäume mit festen Metallringen, die langsam in den Stamm einwuchsen. Im späteren Holzlängsschnitt würde die Maserung um die Narben und Verletzungen herum schlängelnde Muster, bernsteingelb leuchtende Schatten und Facetten zeichnen. Da Einar die Ringe nicht mehr selbst lösen konnte, rosteten sie über die Jahre durch, barsten lautstark und splitterten als Geschosse außer Kontrolle von den Stämmen ab.
Wie aber, so fragt sich Edvard nun, konnte Einar einen Sarg für seinen Bruder tischlern, wenn er 1944 in Frankreich erschossen wurde oder auch, wie Pfarrer Thallaug behauptet, nach dem Krieg verschwand?
Gleich auf den ersten sechzig Seiten seines vierten Romans »Svøm med dem som drukner« hat der norwegische Autor Lars Mytting (der genau wie sein Protagonist 1968 im Gudbrandstal geboren wurde) eine dicke Lage Hobelspäne verstreut. Dank der gelungenen Übersetzung von Hinrich Schmidt-Henkel sinken wir tief in all den Mysterien dieser Familie ein und kommen kaum sicheren Schrittes voran. Uns fesseln die Geheimnisse und Rätsel, uns faszinieren die atmosphärisch dichten Beschreibungen und oft melancholischen Stimmungen, und der lebendige, fließende Stil macht das Lesen genüsslich.
Mit Ich-Erzähler Edvard begeben wir uns auf eine europaweite Suche nach seiner Identität und nach den kompliziert verkreuzten Spuren seiner breit angelegten, abenteuerlichen, tragischen Familienhistorie, die tatsächlich nicht nur metaphorisch im Erdreich verwurzelt ist. Zwischen dem Wald von Authuille und den Shetlandinseln spannen sich die Fäden, die seit dem I. Weltkrieg (und noch viel früher) ausgelegt wurden. Fotos, Briefe, Pässe, Dokumente, Archive und Zeitzeugen geben Stück für Stück preis, was sich ereignet hat – im Privaten wie im großen grausamen Zeitgeschehen, das das Private unmittelbar beeinflusste. Auch Edvards eigene tief versunkene Erinnerungen erwachen langsam, wenn er die Orte traumatischer Ereignisse besucht. Der Schluss wird jeden Leser erschüttern.
Vorher braucht es freilich Geduld und aufmerksames Lesen, damit in dem komplexen Plot, der mehrere Familien, Generationen und Schauplätze umfasst und das Geschehen fern der Chronologie umpflügt, kein Puzzlesteinchen verloren geht. Wenn am Ende jedes auf Umwegen sein Plätzchen eingenommen hat, erscheint dafür eine flamboyante Gesamtkomposition von großer Strahlkraft.