
Illusionen und Wahrheiten
Obwohl ein guter Polizist gute Augen hat, erkennen sie nicht unbedingt die Wahrheit. Bisweilen wird ihnen eine andere Realität vorgespiegelt, ohne dass sie es bemerken könnten. Das erklärt commissario Salvo Montalbano seinem fleißigen Mitarbeiter Fazio, nachdem er einsehen muss, dass er offenbar dauernd hinters Licht geführt wird.
Wie der Titel von Andrea Camilleris achtzehntem Montalbano-Krimi signalisiert, ist sein Leitthema das trügerische Verhältnis zwischen der optischen Sinneswahrnehmung und der Wahrheit. Der Autor hat im italienischen Fernsehen selbst erläutert, wie es dazu kam: Ein Bekannter hatte eine Beziehung zu einer verheirateten Frau. Bei einem gemeinsamen Essen zu dritt flog die sorgsam geheimgehaltene Affäre auf, weil der Ehemann zufällig in einem Spiegel erblickte, wie sich die beiden anderen in seinem Rücken küssten. Und Camilleri verweist auf die legendäre Schlussszene von Orson Welles' Film-Klassiker »Die Lady von Shanghai« (1947): Die beiden Hauptfiguren bewegen sich durch das Spiegelkabinett eines Vergnügungsparks, vielfach reflektiert, und niemand kann unterscheiden, wo die wirklichen Menschen stehen und was nur ihre Spiegelbilder sind.
An diese Szene denkt auch der commissario, als ganz offensichtlich jemand seine Ermittlungen immer wieder in andere Bahnen abzulenken sucht, indem er ihm falsche Anhaltspunkte zuspielt. Dabei scheint am Anfang alles ziemlich durchsichtig: Vor einem Lagerraum in einer Seitengasse ist ein Bömbchen hochgegangen – bestimmt als letzte Warnung für einen, der sein Schutzgeld nicht entrichtet hat. Allerdings war das Lager leer, der Schaden minimal, und der Eigentümer, Angelino Arnone, bestreitet vehement, bedroht worden zu sein.
Galt das Warn-Explosiönchen vielleicht einem Nachbarn? Nebenan wohnen Carlo Nicotra und Stefano Tallarita, zwei einschlägig beleumundete Kandidaten für eine solche Aktion. Aber letzterer sitzt gerade in einer bestens gesicherten Zelle ein, und Nicotra ist so ein großes Tier, dass man ihm mit ganz anderen Kalibern zu Leibe rücken würde als einem kleinen Feuerwerk.
Muss die erste Theorie reanimiert werden, als Angelino Arnone einen anonymen Brief ins Kommissariat bringt und nun gesteht, doch das Ziel des Mini-Anschlags gewesen zu sein? Montalbano ist misstrauisch, denn Arnone wirkt wie ferngesteuert.
Dann gewinnt wieder Theorie Nummer zwei an Bedeutung: Im Knast munkelt man, Stefano Tallarita habe sich breitschlagen lassen, mit den Behörden zusammenzuarbeiten. So ein Ansinnen müsste die ehrenwerte Gesellschaft in der Tat sofort mit einem Warnschuss ersticken, ohne Unschuldige in Mitleidenschaft zu ziehen.
Während Montalbano ahnt, dass er in einem Spiegelkabinett herumgelotst wird, und Fazio ins Bild setzt, legen die Strippenzieher nach und inszenieren eine Warnung an den Ermittler selbst: Man feuert auf sein Auto. Montalbano merkt freilich gar nichts davon; Fazio zeigt ihm später die Einschusslöcher auf der Beifahrerseite.
Privat sieht sich Salvo angenehmeren Fragestellungen gegenüber. Jeden Morgen nimmt er seine attraktive neue Nachbarin Liliana Lombardo mit in die Stadt, seit ihr Wagen offenbar von Vandalen beschädigt wurde (Ihr Mann ist auf Reisen.). Die Vertraulichkeiten zwischen den beiden nehmen zu; Liliana macht Salvo schöne Augen, geht in Aufsehen erregender Weise mit ihm aus, gibt ihm Einblicke in ihre Ehe . Wahrheit – oder auch hier nur Täuschungen?
Die beiden Handlungsstränge fließen unerwartet ineinander, als der commissario herausfindet, dass Liliana nicht nur mit ihm angebandelt hat. Er begreift, dass all die Aktionen, die ihn bisher verwirrt haben, mit Liliana und ihrem Liebhaber zu tun haben. Doch auch das ist nur ein vordergründiges Bild. Die Menschen, die Montalbano zu durchschauen, später auch zu schützen sich bemüht, sind nichts als kleine Schachfiguren in einem ganz großen Manöver, das hinter den Spiegeln inszeniert wird – dort wagt sich commissario Montalbano »in gefährliche Gefilde«.
Wie immer haben Rita Seuß und Walter Kögler ihr Bestes getan, um auf Deutsch die spezielle Stimmung dieses Krimis einzufangen und die typische Atmosphäre wiederzugeben, die die Montalbano-Reihe insgesamt auszeichnet. Ein unscheinbares Detail als Beleg: Der Familienname von Liliana Lombardos Haushaltshilfe lautet im italienischen Original »Lodico«, was man als »Sag ich doch.« verstehen kann. Die beiden Übersetzer haben es sich nicht nehmen lassen, diesen kleinen Effekt feinsinnig zu übertragen – in der deutschen Ausgabe heißt die Dame »Sàghino«.
Trotzdem kann man Camilleris Werke niemals angemessen übersetzen, denn ein Großteil des literarischen Charakters ist nun einmal durch seine eigenwillige dialektale Gestaltung geprägt – ein unüberwindliches Hindernis für jegliche Übertragung, selbst in ›normales‹ Italienisch. Die Konsequenzen wiegen schwer. Wenn Camilleri-Sizilianer sprechen, wollen sie nämlich oft mehr als nur schlichte Informationen vermitteln. Sprechen kann für sie ein theatralischer Akt sein, an dem die gesamte Person – Geist und Körper – mitwirkt und in dem gelungene Rhetorik, Aussprache, Gestik und Mimik offensichtlich auch als persönliches Vergnügen genossen werden. Eine raffiniert verpackte saftige Beleidigung kann also selbst beim Geschmähten Anerkennung finden und mit einem versteckten Lächeln quittiert werden (ehe er sie natürlich mit einer angemessenen Stichelei zu kontern versucht). Was davon in eine Fremdsprache überführt werden kann, ist allein das Skelett der Wortbedeutungen – und die sind im Deutschen dann oft gänzlich ihres Charmes beraubt und klingen nur noch beleidigend und giftig.
Beispiele für solche leider unvermeidlichen Übertragungsverluste sind immer wieder Montalbanos verbale Scharmützel mit dem sarkastischen, misanthropischen Gerichtsmediziner dottor Pasquano, der die Hitze ebenso hasst wie voreilige Fragen des commissario (»Montalbano klopfte an die Wagentür. Pasquano sah hoch, erkannte ihn und artikulierte deutlich: ›Gehen-Sie-mir-nicht-auf-den-Sack!‹ [...] ›Vielleicht kann ich Ihnen behilflich sein.‹ ›Wie denn? Indem Sie mir die Geschichte von Schneewittchen und den sieben Zwergen erzählen?‹ ›Indem ich Ihnen sage, dass ich zu wissen glaube, wer es ist.‹ ›Ach ja? Dann setzen Sie mich doch in Kenntnis von dem, was Sie sich da in Ihrem kranken Kopf zusammengereimt haben. Sofern in Ihrem fortgeschrittenen Alter überhaupt noch Reste von Hirn vorhanden sind.‹ Montalbano ging nicht auf die Provokation ein.«).
Wie so oft liefern die Nebenfiguren die besondere Würzung in der Suppe. Camilleri, der alte Theatermann, hat ein untrügliches Gespür für comic relief-Effekte, und die Verfilmungen breiten meist genüsslich aus, was er im Roman vorlegt. Hierfür ist Salvos und Fazios Besuch bei Concetta Sàghino ein schönes Beispiel. Vor ihrer mutmaßlichen Wohnung sehen sie »einen etwa siebzigjährigen Mann Pfeife rauchend auf einem Strohstuhl sitzen. ... Außer Tabak musste er auch Hundekacke in den Pfeifenkopf gestopft haben, denn es stank fürchterlich. Sogar die Fliegen hielten Abstand. ›Scusi, können Sie mir sagen, ob die Signora Concetta Sàghino ...‹, hub Fazio an. ›Das ist meine Tochter.‹ ›Könnten Sie Ihrer Tochter sagen ...‹ ›Mit der red ich nicht. Ich wohn zwar mit der zusammen, aber reden tu ich nicht mit der. Wir haben uns zerstritten. Diese gemeine Person will nicht, dass ich in der Wohnung Pfeife rauche.‹ (im Original: »›Io cu iddra non ci parlo e non ci voglio parlari. Ci campo ‹nzemmula, ma non ci parlo. Semo sciarriati. ‹Sta disgraziata non voli che fumo la pipa ‹n casa.‹«) Und dann spuckte er eine zähe braune Masse, die aussah wie Marmelade, einen Millimeter neben Fazios Schuhe.« Und im gleichen spitzfindig-argwöhnischen Ton begegnet den beiden Polizisten die rabiate Dame des Hauses: »›Was wollen Sie?‹ ›Ich bin Commissario Montalbano und das ist Ispettore Fazio.‹ ›Ich hab Sie nicht gefragt, wer Sie sind, sondern was Sie wollen.‹ ›Wir möchten mit Ihnen sprechen.‹ ›Und Sie meinen, ich hätte Zeit, mit Ihnen zu quatschen?‹« (im Original: »›Che voliti?‹ ›Il commissario Montalbano sono e questo è l'ispettore Fazio.‹ ›Io non vi spiai cu siti, ma che voliti.‹ ›Vorremmo parlarle.‹ ›E io che haio, tempo da perdiri a parlari con vui?‹«)