
Die Telefonzelle am Ende der Welt
von Laura Imai Messina
Wie Hinterbliebene der Opfer des Tsunamis von 2011 in Japan ihre Trauer bewältigen: Sie sprechen mit ihnen in einer Telefonzelle, die jemand zur Dekoration in seinem Garten aufgestellt hat.
Dem Wind anvertrauen
Weltweit hat das Seebeben, das am 11. März 2011 die japanische Küste erschütterte und unvorstellbare Folgen nach sich zog, fassungsloses Entsetzen ausgelöst. Eine junge Schriftstellerin aus Italien hat neun Jahre später den wohl ergreifendsten und poetischsten Roman darüber veröffentlicht, wie Hinterbliebene ihre Trauer bewältigen. Laura Imai Messina erzählt eine geradlinige Geschichte nahe an den Erfahrungen und Emotionen der Personen, aber fern von jedem Kitsch, jeder künstlich aufgeschäumten Süßlichkeit. Die eindringlich beschriebene, uns so fremde Lebenswelt hält uns auf staunender Distanz, während die universell nachvollziehbare Schilderung schicksalhafter Ereignisse unmittelbar unter die Haut gehen. Aber die erschütternden, unfassbar grausamen Szenen vom Sterben in den Naturgewalten, vom tragischen Scheitern, geliebte Angehörige zu retten, von Sprachlosigkeit vor dem Nichts stehen nicht im Vordergrund und dienen nicht der Dramatisierung als Selbstzweck. Ohnehin werden die Fernsehbilder unauslöschlich im Gedächtnis sein. Einzelheiten zum Ablauf der Katastrophe und das Ausmaß der Verheerungen, zu denen die Zerstörungen im Atomkraftwerk Fukushima gehören, sind leicht nachzulesen, aber die Traumatisierungen der überlebenden Opfer, ihrer Angehörigen und der Geschädigten, die hier im Mittelpunkt stehen, sind nicht in Zahlen zu fassen.
Laura Imai Messina zog mit dreiundzwanzig Jahren nach Japan, studierte und promovierte dort, lehrt als Dozentin und lebt mit ihrem japanischen Ehemann und zwei Kindern in Tokio. Seit 2014 hat sie ein halbes Dutzend Bücher veröffentlicht, die alle Brücken zwischen ihren beiden Kulturen bauen. »Quel che affidiamo al vento« brachte ihr 2020 den internationalen Durchbruch. Wochenlang stand es in Italien und Großbritannien auf der Bestsellerliste, und es wurde in 25 Länder verkauft. Die einfühlsame Übersetzung ins Deutsche besorgte Judith Schwaab.
In einer Vorbemerkung zu ihrem Roman versichert uns die Autorin, dass es dessen zentralen Ort, die zum deutschen Titel erhobene Telefonzelle, tatsächlich gibt. Das finde ich schön, denn es erdet die nachfolgende Geschichte. Die ist nämlich so wunderbar luftig und symbolhaft, dass man sie (als nüchterne Leser) leichthin als allzu verträumt, märchenhaft, abgehoben von dieser Welt abtun könnte. In Ôtsuchi, einem Ort, den der Tsunami besonders hart traf, hat ein Mann seinen liebevoll angelegten Garten mit einer eigenartigen Telefonzelle verschönert. In dem winzigen quadratischen Häuschen, dessen Glasscheiben in Holzrahmen gefasst sind, hat er sogar einen alten, natürlich funktionslosen Telefonhörer aufgehängt. Hält man ihn ans Ohr, so kann man die Stimmen des Windes vernehmen, und dank dieses zauberhaften Effekts ist die Telefonzelle zu einer Pilgerstätte für »Hunderttausende von Menschen« geworden.
In der fiktionalen Erzählung trägt der Garten einen Namen (»Bell Gardia«), und sein Besitzer wird Suzuki-san, also »Herr Suzuki« genannt. Davon berichtet der Zuhörer einer Radiosendung, in der Überlebende und Hinterbliebene des Tsunamis erläutern, wie sie persönlich mit ihrem Schmerz umgehen, was sie tun, um sich abzulenken, um vielleicht für wenige Momente in einer »Illusion, ein anderer Mensch zu sein«, abtauchen zu können: Sie streicheln Tiere, trinken in einem Café heiße Schokolade, kochen, lernen eine Fremdsprache. Obwohl die Moderatorin Yui Hasegawa, 31, durch die Katastrophe ihre Mutter und ihre kleine Tochter verlor und bis heute schwer darunter leidet, glaubt sie, stark genug zu sein, um die Aufgabe im Studio bewältigen und das Leid anderer Menschen aushalten zu können.
In dem stillen Studio vergisst Yui fast zu atmen, als der Mann sein Erlebnis schildert. Er habe den Telefonhörer benutzt, um mit seiner vermissten Frau zu sprechen. Seine Stimme habe der Wind fortgetragen, doch seine Frau, die in der Küche eine Mahlzeit zubereitete, habe ihn gehört. Fasziniert von dem Bericht nimmt Yui Urlaub und reist nach Ôtsuchi. Seit der schrecklichen Katastrophe hatte sie das Meer gehasst, den Blick darauf gemieden. Nun ist sie wieder damit konfrontiert, ihre Erinnerungen überwältigen sie bis hin zu körperlicher Übelkeit, und sie ist kaum in der Lage, den von anderen beschriebenen Kontakt über den Hörer zu ihren Liebsten aufzunehmen.
Der Zufall führt sie mit dem Arzt Takeshi (Fujita-san), 35, zusammen. Ein »winziger dunkler Schatten auf seinem Gesicht … ein Fleck, wie ihn jeder Überlebende mit sich trug, ein Ort, an dem er sich jegliches Gefühl – auch Mitgefühl – versagte, um nicht auch noch den Schmerz anderer durchleben zu müssen«, verrät ihr, dass auch er ein Leid Tragender ist. Er nutzt das »Telefon des Windes«, um seine Sorgen mit seiner Frau Akiko zu teilen. Sie war schwer erkrankt, bevor er sie verlor. Seit dem Tod der Mutter hat Hana, ihre sechsjährige Tochter, kein Wort mehr gesprochen.
Nach und nach lernen sich Yui und Takeshi näher kennen. Gemeinsam werden sie mit dem Auto von Tokio hierherkommen, gemeinsame Spaziergänge genießen, gemeinsam aufs Meer schauen, gemeinsam eine Tüte süß gefüllter Eclairs verspeisen, die Takeshi immer mitbringt, weil Akiko sie so geliebt hatte. Mit jedem Wiederkommen vertiefen sie ihre Freundschaft mit Suzuki-san, dem Hüter von »Bell Gardia«, trinken Tee mit ihm, erfahren von den Veranstaltungen, die er für Trauernde leitet, und lernen andere Menschen kennen, die mit ihren Schicksalen zu kämpfen haben und hier Trost finden.
Laura Imai Messinas Roman von der magischen Telefonzelle ist das schönste, überzeugendste und feinfühligste Trostbuch, das ich je gelesen habe. Trotz aller Verluste, aller Schmerzen, aller Tragik kommt nie kitschige Sentimentalität auf. Im Gegenteil: Die Handlung selbst konkretisiert Trost. Yui schließt Freundschaften, verliebt sich, gründet eine Familie, versteht und erlebt all dies als etwas sehr Körperliches. Verliert man einen Menschen, glaubt Yui, nimmt er etwas aus dem Körper der Zurückbleibenden mit. So habe ihre Mutter wohl den Darm, ihre kleine Tochter ihre Lunge mitgenommen, denn seither hat sie Probleme mit der Verdauung und der Atmung. Im übertragenen Sinne gibt sie nun selbst Teile ihrer Organe an die Menschen, die ihr im Leben wichtig sind. Yui und Takeshi, die einander stützen, lieben und das Gefühl geben, im Leben gebraucht zu werden, »wurden zu einem Baum, wurden zu Holz und Rinde. […] Eine Metamorphose, wie sie nur ein einziges Mal im Leben vorkommt«.
Überzeugt hat mich auch die sprachlich außergewöhnliche Gestaltung der Emotionen (»dass man mit dem Herzen lächeln soll und nicht nur mit den Lippen«) und der verschiedenen Arten der Bewältigung von Trauer und Schmerz. Yui »fragte sich, ob jene Toten, die dort im Jenseits aus dem Diesseits angerufen wurden, sich nicht an den Händen hielten, am Ende womöglich Bekanntschaft miteinander schlossen und Beziehungen eingingen, von denen die Lebenden nichts ahnten«.
Schließlich wird die Telefonzelle, das räumlicheZentrum des Romans, Ort der inneren Einkehr und der Begegnung, nicht zu einem meditativen, sakralen Raum erhoben, sondern bleibt das fassbare, reale Ding mit dem einzigartigen Zauber der Verbindung in die Welt der Verstorbenen. Der ist aber kein billiger Trick. Das sehen wir an Yui, die es nicht vermag, in das Räumchen hineinzutreten. Ihre Angst vor dem Ungewissen, was der kleine Schritt auslösen könnte, muss erst überwunden werden.
Mag die eigenartige erzählerische Mischung aus Nüchternheit und Magie, aus Zauber und Realismus vielleicht an die Strenge japanischer Federzeichnungen erinnern, deren Betrachtung dennoch philosophische Tiefe erzeugt, so gibt die Autorin uns auch ganz konkrete Einblicke in die Kultur der Japaner, etwa zu den Opfergaben auf Hausaltären, zum Brauch, Papierlaternen als Schiffchen zu Wasser zu lassen, oder zur Bedeutung der Nabelschnur, die jede Mutter nach der Geburt ihres Babys in einem Kästchen aufbewahrt. Zum Verständnis tragen auch die Einschübe zwischen den Kapiteln bei, die Alltäglich-Konkretes vermitteln wie die Playlist von Yuis Radiosendung, eine kindliche Zeichnung von Hana, eine interessante Statisik der menschlichen Umarmungen ebenso wie die traurige der Tsunami-Opfer, dazu kluge Redewendungen von Fujita-san (»Schlüssel finden sich nie, wenn man dringend aus dem Haus muss«) und vieles mehr. Ein Glossar erklärt die wunderschönen japanischen Schriftzeichen, ein Vorspann die Aussprache des Japanischen.
Mit ihrem Buch gelingt es Laura Imai Messina, durch Positives zu trösten, ohne in hohle positive-thinking-Floskeln zu verfallen. Was sie weitergibt, sind »Hoffnung«, die Kostbarkeit von »Freude« und »Schmerz«, die literarische Verknüpfung von »Diesseits« und »Jenseits«. Selbst wenn »einem im Leben noch so viel genommen werden kann«, ist es ebenso wichtig, »sich dem zu öffnen, was es einem geben kann«.