Nighthawks: Stories nach Gemälden von Edward Hopper
von Lawrence Block [Hrsg.]
Siebzehn erstrangige amerikanische Schriftsteller haben ihr Lieblingsgemälde von Edward Hopper genau betrachtet und eine Geschichte daraus gemacht. Bild, Text und eigene Impressionen schaffen ein ungewöhnliches, vielgestaltiges Kunsterlebnis.
Lesen und betrachten
Kaum ein moderner Maler ist populärer als Edward Hopper (1882-1967). Wo seine Werke ausgestellt werden, purzeln Besucherrekorde. Seine realitätsnahen Bilder kennt und erkennt jeder. Sein Stil ist unverkennbar: Kühle Farbflächen (deren Verläufe er freilich akribisch kalkuliert hat), klar durchschaubare Szenen (wenige Figuren, alltägliche Innenräume, unspektakuläre Gebäude und Landschaften), statisch wirkende Arrangements, Struktur durch kräftige Farb- und Helligkeitskontraste. Die Abwesenheit von Handlung und Bewegung täuscht Ruhe und Frieden vor, doch unter der stillen Oberfläche, so ahnt man, herrschen Melancholie, Einsamkeit, Verlassenheit und Isolation. Oder wirken da gar unkontrollierbare Spannungen, drohen Gefahren, lauern Monster aus der Vergangenheit, toben Gewitter? Die zwiespältige Atmosphäre entwickelt eine unwiderstehliche Anziehungskraft, der Betrachter verweilt staunend, wird auf magische Weise in die Szene hineingesogen. Was geht in den Figuren vor, deren Blick gedankenverloren in die Ferne, ins Leere geht, die aneinander vorbeischauen, einander kaum wahrnehmen, sich abwenden? Jeder, der sich in ein Hopper-Gemälde versenkt, wird zwangsläufig zum Erzähler seiner Geschichte, und jeder erzählt in seinem Kopf eine andere.
Der amerikanische Autor Lawrence Block hatte deswegen leichtes Spiel, als er siebzehn Schriftstellerkollegen ersten Ranges bat, zu ihrem Lieblingsbild von Hopper eine Geschichte zu schreiben. So entstand der von ihm herausgegebene Band »In Sunlight or In Shadow – Stories Inspired by the Paintings of Edward Hopper« , den der Droemer-Verlag in der Übersetzung von Frauke Czwikla 2017 zum fünfzigsten Todestag des »Jahrhundertkünstlers« als Blickfang in die Buchhandlungen lieferte. Vor jeder Story gibt es eine kleine Einführung zum Autor, zu seinen wichtigsten Veröffentlichungen, Preisen und zu privaten Details. Auf der nächsten Seite folgt ein Farbdruck des Hopper-Bildes, auf das sich die Geschichte des Autors bezieht.
Natürlich liegt der Reiz dieses ungewöhnlichen Literatur- und Kunstabenteuers darin, beim Lesen hin und wieder abzugleichen, wie Text und Bild miteinander korrelieren. Zeigt das Bild die Schlüsselszene des Plots, oder nimmt die Handlung ihren Ausgang davon? Hat der Autor die Protagonisten, den Schauplatz, einen Gesichtsausdruck oder nur einen Gegenstand übernommen? Ist es die eigentümliche Atmosphäre, die ihn angeregt hat? Obwohl Hopper-Fans die meisten Werke gut kennen werden, erschließt mancher Text bislang verborgen gebliebene Aspekte eines Gemäldes oder stellt es in einen vollständig anderen Kontext, als man ihn zuvor für selbstverständlich genommen hatte. Anders als bei der Betrachtung im Museum treten künstlerische Kriterien (Komposition, Farbgestaltung, Maltechnik und dergleichen) in den Hintergrund, während einige Autoren Bezüge zu Hoppers Biografie und Persönlichkeit herstellen.
Verwundert es, dass die meisten Geschichten von Enttäuschungen im Leben erzählen, von unerfüllten, unglücklichen Beziehungen, in denen sich Abhängigkeit, Abneigung, Ekel, Hass bis ins Unerträgliche steigern? Kann es überraschen, dass oft Frauen im Mittelpunkt stehen, sei es als Rächerin für ihnen oder ihren Geschlechtsgenossinnen angetanes Leid, sei es als Suchende nach familiärem Glück, sei es als sexuelle Begierde? Hat man derlei Sujets und Plots nicht schon oft in Hoppers kühlen Szenen, ungewöhnlichen Farbgestaltungen und augenfälliger Symbolik gewittert?
Obwohl Hoppers Gemälde über der Vergänglichkeit zu schweben scheinen, sind sie natürlich Ausprägungen ihrer Entstehungszeit. Einige Autoren verwurzeln ihre Geschichten denn auch in einer konkreten historischen Phase. Ein grässlicher Fall von Rassendiskriminierung zu Zeiten der Wirtschaftskrise steht im Mittelpunkt der ergreifenden Short Story »Stillleben 1931« von Kris Nelscott. Eine Weiße beschuldigt einen jungen Schwarzen, sie vergewaltigt zu haben. Umgehend wird er an einem Baum aufgeknüpft. Doch der Vorwurf war haltlos. Die Schwere ihrer Schuld drückt die Frau zu Boden und lässt ihre Schwester jahrelang Abbitte leisten. In »Der Vorfall vom 10. November« (Jeffery Deaver) dient eine Kunst-Postkarte mit einem Hopper-Gemälde als Geheimcode mitten im Kalten Krieg.
Dass Edward Hopper übrigens keine so einfache, ruhige, ausgeglichene Persönlichkeit war, wie es seine Bilder suggerieren mögen, ist nicht sehr bekannt. Die Kunsthistorikerin Gail Levin, Verfasserin dreier Biografien über den Maler, hat auch Tagebucheintragungen seiner Ehefrau Josephine Verstille Nivison ausgewertet, die ihr eigenes Malen für ihn aufgab und ihm häufig Modell stand. Dass ihre Beziehung zu dem gefeierten Künstler offenkundig schwierig, von Eifersucht, Aggression und sexueller Gewalt belastet war, inspirierte die Autorin Megan Abbott zu ihrer Erzählung »Burlesque«.
Auf die biografische Ebene zielt auch Gail Levins eigener Beitrag »Der Prediger sammelt«. Sie lässt darin einen Freund und Nachbarn der Familie Hopper, den Reverend Sanborn, berichten. Der gute Geistliche geht bei ihnen ein und aus, kümmert sich um die kranke ältere Schwester des Malers und ist überhaupt immer helfend zur Stelle, vor allem nach Freund Edwards Tod. In recht freier Interpretation des Begriffs der Nächstenliebe bringt er eine ganze Reihe vermeintlich in Vergessenheit geratener Bilder vom Dachboden in seine sichere Obhut. Den Erlös seiner Verkäufe – darunter des Bildes »City Roofs« (1932) – schenkt er seinen bedürftigen Verwandten, finanziert damit aber auch seinen vorgezogenen Ruhestand. Als Gail Levin (die Autorin kommt selbst in ihrer Story vor) für das Whitney-Museum ein Werkeverzeichnis erstellen soll, stößt sie auf Unstimmigkeiten, denn Jo, die Witwe, hatte über das Schaffen ihres Mannes pingelig Buch geführt. Das bringt den Reverend in Bedrängnis.
Thriller-Altmeister Stephen King projiziert dagegen eine höchst makabre Mini-Geschichte in die Szene, die das berühmte Bild »Room in New York« (1932) zeigt. Ein Paar sitzt in einem etwas beengt wirkenden Zimmer, er studiert konzentriert in vorgebeugter Haltung die Zeitung, sie streicht abgewandt und gedankenverloren über die Tasten ihres Klaviers, ohne einen Ton anzuschlagen. Amerika steckt in der Großen Depression, überall herrschen Arbeitslosigkeit, Not, Hunger. Doch die beiden haben einen Weg gefunden, wie sie besser über die Runden kommen als andere. Sie bieten Gastfreundschaft.
»Nighthawks« (1942) ist sicher Hoppers bekanntestes Werk, in unzähligen Varianten vermarktet, sogar mit LEDs illuminiert, und natürlich fehlt es auch in dieser Galerie nicht. Ist es nicht das Paradebeispiel, wie Hopper den Betrachter einerseits auf Distanz hält, andererseits seine Neugier provoziert, die einsamen Gäste der hell erleuchteten Bar durch die großen Scheiben zu studieren, sich mit ihnen auseinanderzusetzen? Überraschenderweise verzichtet Michael Connelly hierauf weitgehend. In seiner Erzählung bekommt das Gemälde als solches eine Funktion. Eine junge, nach Unabhängigkeit strebende Frau mit schriftstellerischen Ambitionen kommt oft ins Museum, um »Nighthawks« zu betrachten, denn sie zieht daraus Inspiration für ihr Romanprojekt. Hier findet sie Privatdetektiv Harry Bosch, der beauftragt wurde, sie aufzuspüren.
Das Gemälde »Cape Cod Morning« (1950) ist der Anthologie als Frontispiz vorangestellt, ohne Gegenstand einer Erzählung zu werden. Diese ›Leerstelle‹, entstanden, weil der vorgesehene Autor abspringen musste, soll jetzt uns inspirieren, eine Geschichte darin zu suchen, einen Handlungsfaden darum zu spinnen. Dem Herausgeber sollen wir unsere Konzepte nicht schicken (»Ich bin raus.«). Als geeigneten Veröffentlichungsort für Ihre Ideen schlage ich Ihnen daher das Kommentarfeld unter diesem Artikel vor.