Auf sanften Schwingen kommt der Tod: Carla Bukowskis zweiter Fall
von Lena Avanzini
Das Böse in der Reha
Mit dem Lebensglück ihrer Ermittlerin meint es diese Autorin wahrlich nicht gut. Schon im ersten Band hat sie Carla Bukowski lauter Steine in den Weg gerollt, und – soviel darf verraten werden – auch in diesem zweiten Fall ist der Gruppeninspektorin vom LKA Wien kein Glück beschieden.
Seit mehr als acht Jahren lastet schweres Leid auf Carlas Seele, denn »auf die furchtbarste Weise« verlor sie ihren Mann und ihr Kind. (Genaueres wird man wohl im ersten Band »Nie wieder sollst du lügen« lesen.) Obwohl sie ihre Seele seither mit schwer zu überwindenden Mauern geschützt hat, konnte jetzt ein neuer Mann, Leon, ihr Herz erobern. Zaghaft tastet sie sich an ihn heran, lernt langsam, wieder Vertrauen zuzulassen und zuversichtlich nach vorn zu schauen, wenngleich die neue Beziehung sich nicht einfach anlässt. Denn Leon wurde gerade an der Bandscheibe operiert, und dann gibt es da noch eine problematische Exfrau und einen kleinen Jungen, den Carla übergangsweise betreut, während Leon für mehrere Wochen zur Rehabilitation muss.
Während Carla in einem komplizierten Familiendrama in Wien ermittelt, geht in der Reha-Klinik nicht alles mit rechten Dingen zu. Beruflicher Gewohnheit folgend, steckt der Journalist Leon seine Spürnase zu tief in Angelegenheiten, die den Patienten Leon wirklich nichts angehen. Die Quittung folgt auf unsanften Schwingen: Man schlägt ihn zusammen, wickelt ihn in einen Teppich und entsorgt ihn in einer Mülltonne. Carla ist wieder allein und einsam und muss einen neuerlichen Verlust verschmerzen.
Lena Avanzini (hinter dem Pseudonym verbirgt sich die österreichische Musikpädagogin Marie Tappeiner, die für ihr Debüt »Tod in Innsbruck« 2012 mit dem Glauserpreis ausgezeichnet wurde) schickt ihre Protagonistin und uns mit Carlas zweitem Fall auf eine ziemlich heftig hin und her schaukelnde Krimitour in die Reha. Dort hat sich Staatsanwältin Birgit Ladstätter, mit einem austherapierten Gehirntumor angereist, mittels einer gehörigen Portion Schlaftabletten das Leben genommen. Obwohl schnell zu den Akten gelegt, hinterlässt dieser Suizid einen bitteren Nachgeschmack. War die Juristin – Fachfrau in der Korruptionsbekämpfung – womöglich den Leitern der Klinik, dem Neurologenehepaar Marini, auf die Schliche gekommen? Hatte sie aufgedeckt, dass Auftragsvergaben mit Geld geschmiert worden waren?
Oder handelte es sich um einen hinterhältigen Mord aus Eifersucht? Denn die Patienten tuschelten schon länger, dass »Rotlippchen« Birgit ein »Pantscherl« mit Chefarzt Paul Huber-Marini habe. Seine Ehefrau kennt das Hobby ihres Gemahls zur Genüge, aber innerhalb der Klinik muss er seine Leidenschaft nun wirklich zügeln, soll das Renommee des Hauses nicht gefährdet werden.
Viele Seiten lang erfahren wir von Affären, Alibis, Indizien und Hinweisen, die anderen untergeschoben werden oder vielleicht doch ganz anders gedacht sind, aber unsere eigenen Vermutungen können uns vorne und hinten nicht so recht zufriedenstellen. Dafür sorgt Alice, ehemals Kammerschauspielerin, jetzt auf Rehabilitation nach einem Schlaganfall, für espritvolles Amüsement, denn vor schnödem Patienten-Smalltalk flüchtet sie, bevorzugt Shakespeare zitierend, in die Welt ihrer Bühnenerfolge. Während Alice »der Liebe leichte Schwingen trugen«, hat sich das Böse längst langsam und immer wieder in die Klinik eingeschlichen.
Zwischendurch lesen wir kursiv abgesetzte Tagebucheinträge aus einem »Buch der Kränkungen«. Wie die zum Plot passen sollen, ist zunächst gar nicht klar, aber dann spitzen doch ganz klein die Lauscher des schwarzen Kaninchens aus dem Zylinder der Autorin hervor, bis sie am Ende den Täter ganz hervorzaubert.
Im letzten Fünftel steigt die Spannungskurve merklich, und unsere Erwartungen an einen Krimi werden unmittelbarer erfüllt. Packend und in sich stimmig schildert die Autorin ein tristes Kinderschicksal und gestaltet das Psychogramm eines schwer traumatisierten Menschen, der die ihm angebotene Hilfe auf tragische Weise missdeutet und, statt Heilung und Seelenfrieden zu finden, Befreiung in mörderischer Rache sucht.