Lauter Seifenblasen
Am Ende ist doch etwas Vernünftiges aus dem Kind geworden. Wenn man liest, was für einen Vater der Junge hatte und was für fragwürdige Abenteuer er mit ihm durchleben musste, muss man befürchten, der Apfel werde nicht weit vom Stamm aufschlagen. Aber Arno Frank muss zumindest einige der besten Talente seines Vaters geerbt haben: Wortgewandtheit, Fabulieren, Wagemut. So kann er als freier Journalist, der für Spiegel Online und Die Zeit schreibt, seinen Lebensunterhalt verdienen. Jetzt hat er seinen autobiografischen Debütroman vorgelegt, und das ist eine der amüsantesten Ganovengeschichten, die ich je gelesen habe.
Vom heiter-harmlosen Anfang bis zum bitteren Ende dominiert der willensstarke Vater die Entwicklung der Familie. Dass er die Realität nur selektiv ernst nimmt und Fakten eigenwillig auslegt, bringt den dreisten Charmeur, ambitionierten Blender und fantasievollen Träumer auf eine schiefe Bahn. Trotz Anfangs- und Zwischenhochs beschleunigt sich sein Abstieg, doch die ringsum klaffenden Abgründe ängstigen ihn nicht und können ihn nicht veranlassen, nach anderen Wegen zu suchen. Widerstände findet er offenbar nicht; jedenfalls reißt er seine Frau und seine Kinder mit, ohne dass sie sich wehren. Schließlich ist der Mann nichts als ein mehrfach gescheiterter Unternehmer, ein Hochstapler, ein international gesuchter Krimineller.
In den Sechzigerjahren lernt Jutta vor ihrem Büro bei den US-Streitkräften in Kaiserslautern ihren Jürgen kennen. Da trifft eine, deren Träume immer »an der Oberfläche der Möglichkeiten« hafteten, auf »ein tiefes Gewässer, gespeist aus dem Selbstbewusstsein des Vaters und dem Scharfblick der Mutter. Ein Geschöpf aus eigenem Recht [...]. Er war seine eigene Autorität.«
Jürgen Frank hat gerade seine Verwaltungslehre absolviert und will sich bei seiner ersten Dienststelle vorstellen. Er fährt im bildschönen Alfa Romeo Giulia Super vor, parkt das vierrädrige Faszinosum, ein Geschenk seines Vaters, dreist auf dem für Offiziere reservierten Platz und zündet sich erst einmal genussvoll eine Gitane an. Der Anmache des Draufgängers – Typ Alain Delon oder Hardy Krüger – erliegt Jutta sogleich. Bald läuten die Hochzeitsglocken, und Jutta ist schwanger.
1971 wird Sohn Arno geboren. Die kleine Familie bezieht ein Häuschen in einem Kaiserslauterer Vorort, und Jutta schwebt, tagein, tagaus Schlagerohrwürmer summend, »im luftigen Kettenhemd des Wohlbefindens«, in einer »Gloriole der Heiterkeit«. Jürgen dagegen orientiert sich neu. Seine sichere, aber fade Anstellung im US-Depot kündigt er. Jetzt sucht er den »Königsweg zum Glück«, und Glück ist für ihn nichts anderes als eine »Ableitung von Geld«. »Er würde reich sein«, glaubt er, und denkt dabei nicht an solide Arbeit, sondern vertraut auf sein Genie, seinen Charme und die Gunst der Stunde.
Das ist das Wirtschaftswunder. Alles, was die heranrollende Überflussgesellschaft hervorbringt, sammelt Jürgen (möglichst ohne zu bezahlen) und stapelt den Keller damit voll. Ein Heimtrainer, noch in Einzelteile zerlegt, soll zum Verkaufsrenner werden. »Einen Arsch voll Geld« werde er verdienen, denn »es steht jeden Tag ein Dummer auf«, dem man »etwas Dummes verkaufen kann«.
Dies ist eine der Weisheiten, die der Vater dem mittlerweile Sechsjährigen auf den Lebensweg mitgibt. »Du musst dir aussuchen, was du sein willst. Angreifer oder Verteidiger ... Niemand schenkt dir was. Du frisst oder wirst gefressen.« Aber Arno versteht nicht so recht, was der Vater ihm vermitteln will. »So, und jetzt kommst du! Nimm dir, was du willst« – dabei denkt der Junge an all die Dinge, die ihm der Vater seit Langem versprochen, aber nie geliefert hat: ein Baumhaus, einen Plattenspieler, eine bezaubernde Jeannie wie aus dem Fernsehen«.
Immer neue Veränderungen bahnen sich an. Schwesterchen Jeany ist gerade angekommen. Mit der Geschäftsidee, eine ganze Flotte zerlegter Wehrmachts-Kübelwagen zu vertickern (Zielgruppe sind »gealterte Feldherren«), verhebt sich Vater. Die Banken schicken Männer in schwarzen Anzügen mit Aktentaschen. Immer öfter sprechen die Eltern von einer »Hütte« – bekommt Arno jetzt endlich sein Baumhaus? Nein, die »Hütte« ist ein Wohnkarton noch weiter weg von Kaiserslautern. Die unverschämten Banken haben der Familie alles Geld und das Haus weggenommen.
Umziehen wird man noch öfter. Jürgen Frank glaubt noch immer, eines Tages einfach reich zu »sein«, nicht etwa auf steinigen Wegen zu »werden«. Zwielichtige Geschäftspartner kommen und gehen, man spricht von »Devisen«, »Sicherheiten«, »Überweisungen«, »Provisionen«, »das große Geschäft«. Briefe vom Amtsgericht bleiben ungeöffnet, und wenn die Polizei (»die Raubtiere persönlich«) anrückt, sind alle mucksmäuschenstill, bis sie wieder abzieht.
Aber Tatsachen kann man nicht verdrängen. Um den Häschern zu entgehen, beschließt der Vater die Flucht ins Ausland. »Das wird ein Abenteuer«, verspricht er Arno – und ausnahmsweise erfüllt sich sein Versprechen. Bei Nacht und Nebel besteigen Eltern, Arno, Jeany, Neuankömmling Fabian und zwei Hunde ihren Benz und brausen wie »glückliche Schiffbrüchige« im »Rettungsboot« gen Süden.
Um Teile der nun folgenden Tour de Force möchte man den Jungen geradezu beneiden. Am schönsten Fleck der Côte d'Azur bezieht man eine Villa mit Pool. Sohnemann besucht eine internationale Privatschule, wo die Kinder von »Leuten mit Geld« unter sich sind. Im Gegensatz zu den rundum wohlinformierten Mitschülern weiß er von seinem Vater nur Vages (»lässt das Geld für uns arbeiten«) und wenig Sachkundiges (»Computer sind nur teures Spielzeug ... Wird sich nicht durchsetzen, sagt mein Papa.«) zu berichten. Nicht nur mancher Klassenkamerad (»Vielleicht ist dein Vater beides ... Bandit und Idiot«), auch der heranwachsende Arno beginnt an der Seriosität des Monsieur Frank zu zweifeln. Doch noch gehen Papa die guten Ideen nicht aus, holt er das Blaueste vom Himmel herunter, so dass Arno auf seiner schwarz-roten Piaggio die Sonne genießen kann.
Am Ende empfindet man statt insgeheimem Neid eher Mitleid und Sorge um den Jungen. Als die Polizei Jürgen Frank festnimmt, erlöst sie seinen Sohn gewissermaßen aus der irrealen Welt, in der der Vater ihn täuschte und gefangen hielt. Er schwebte jahrelang in einer bunten Seifenblase, nicht anders als sein Vater, bis sie in luftiger Höhe platzte. Und Mutter Jutta? Gleich im Prolog zeigt eine makabre Episode, dass sie kein Korrektiv setzte, sondern Mitgestalterin des Irrsinns im Leben des Ich-Erzählers war. Als der Vierjährige ihr stolz ein selbstgemaltes Bild zeigen will, liegt sie regungslos mit geschlossenen Augen im Flur. Das Kind verzweifelt, hält der Mutter Nase und Mund zu, legt sein Blatt auf ihr Gesicht, doch sie rührt sich nicht. Da schlägt er auf sie ein, heult, macht sich dabei in die Hose, und jetzt kichert Mama, nimmt ihn in die offenen Arme. »Mir war, als hätte ich gerade eine Prüfung bestanden ... eine Lehre, deren Sinn ich damals noch nicht verstehen konnte.«
Haben die Kinder dieser merkwürdigen Familie Schaden genommen? Zwischen den Zeilen finden sich eher harmlose Symptome: Schwester Jeany vergnügt sich gern mit ekligen, verwesenden Materialien, Fabian wird die Schwimmflügelchen, die ihm die Eltern am Pool angelegt haben, nie mehr ausziehen, selbst als die Luft längst raus ist. Und Arno erzählt seine Geschichte nicht mit Schmerz oder Groll, sondern mit unterhaltsamer Leichtigkeit und Ironie. Seinem Debüt hat er ein Zitat von Heimito von Doderer vorangestellt: »Jeder bekommt seine Kindheit über den Kopf gestülpt wie einen Eimer. Später erst zeigt sich, was darin war. Aber ein ganzes Leben lang rinnt das an uns herunter, da mag einer die Kleider oder auch Kostüme wechseln, wie er will.« Seine Biografie zeigt, dass der Eimerinhalt nicht unbedingt unter die Haut dringt. Dort gelten offensichtlich noch andere Regeln.
Dieses Buch habe ich in die Liste meiner 20 Lieblingsbücher im Sommer 2017 aufgenommen.