Rezension zu »Eiskalter Süden« von Nicola Lagioia

Eiskalter Süden

von


Belletristik · Secession · · Gebunden · 525 S. · ISBN 9783905951899
Sprache: de · Herkunft: it · Region: Apulien

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Das präsentable Gesicht der Verrohung

Rezension vom 16.01.2017 · 1 x als hilfreich bewertet mit 1 Kommentaren

Mit einem düsteren Reißer setzt dieser Roman ein. Eine junge Frau torkelt mitten in einer Frühlings­nacht durch die Gärten eines Villen­viertels am Rand von Bari. Ihr Körper ist unbe­kleidet und übel zuge­richtet. An Pools und Hecken entlang gerät sie schließlich mitten auf die Schnell­straße nach Taranto. Der tödliche Zusammen­prall mit einem Klein­laster ist unaus­weichlich. Gleichzeitig berichtet der Erzähler aus einer Parallel­welt entlang ihres fatalen Weges. Minutiös schildert er das Treiben der Klein­tiere, durch deren Reich die schwer­verletzte Frau gebrochen ist. Käfer, Käuze, Katzen, Vipern, Schwärme von Nacht­faltern, unten im Dickicht und im Luft­raum darüber, im Dunklen versteckt und von gleißendem Laternen­schein angezogen, Individuen und Myriaden, Jäger und Opfer, Kluge und Törichte, alle mit sich selbst beschäftigt und gleich­gültig, was aus der Frau wird.

Das Substrat animalischen Verhaltens bricht als Erzähl­gegen­stand immer wieder an die Oberfläche durch, denn es spiegelt die verwil­derte Denk- und Handlungs­weise der Menschen, um die es hier geht. Nicht dass es sich um Pri­mitiv­linge handeln würde – im Gegen­teil. Doch haben sie bei ihrem Aufstieg in die Führungs­etage der Ge­sell­schaft abgestreift, was den Menschen vom Tier unter­scheidet: Empathie, Moral, Rechts­bewusst­sein, Selbst­kritik. Das kompromiss­lose Streben nach Macht und Größe, gekoppelt mit mate­riellem Reich­tum, hat sie innerlich verarmen lassen.

Italienische Originalausgabe:
»La ferocia«
(2014, Verlag Einaudi)
Nicola Lagioia: »La ferocia« auf Bücher Rezensionen
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Dieses wohlbekannte Sujet gestaltet der italienische Autor Nicola Lagioia (1973 in Bari geboren, in seiner Heimat mit etlichen Preisen geehrt, aber bislang noch nicht ins Deutsche übersetzt) in seinem vierten Roman »La ferocia« auf originelle, nicht unum­strittene Weise. Knapp ein Jahr nach seinem Erscheinen ging er im Juli 2015 aus dem drei­stufigen Aus­wahl­verfahren des Premio Strega als klarer Sieger hervor. Man rühmt seine schonungs­lose Gesell­schafts­kritik ebenso wie die erzäh­lerisch-stilist­ische Kraft des Werkes. Im September 2016 ist sein Buch in der Übersetzung von Monika Lustig im Secession-Verlag erschienen.

Der zentrale Schauplatz ist Bari. Hier hat Vittorio Salve­mini über vier Jahr­zehnte aus einem kleinen Bau­geschäft ein global agierendes Imperium geschaffen. Der Durchbruch gelang mit dem Aufkauf großer Areale in herr­lichster Lage, die ohne Rücksicht auf kulturelle, soziale oder Umwelt­schutz­belange mit Dut­zenden kleiner Standard­häuschen überzogen und lukrativ vermarktet wurden. Möglich ist so etwas nur, wenn die örtlichen Verwal­tungen, Bankiers und Politiker zum Mit­spielen gewonnen werden. Mit unzähli­gen Arbeits­essen, glamourösen Partys, lautem Sponsoring öffent­licher Einrich­tungen, vertrau­lichen Unter­redungen und stillen Gefällig­keiten hat Vittorio ein komplexes Netz von Abhängig­keiten gewoben. Behör­den­leiter, Richter, Regierungs­mitglieder, Star­anwälte gehören zu den intimen Freunden der Familie, und ein jeder ist den anderen irgendwie verpflichtet.

Vittorio Salvemini ist der Exponent eines modernen Unter­nehmer­typus, der sich schier allmächtig glaubt, weil in seiner Welt nichts unmöglich scheint. Wo immer ein Hindernis auftaucht, gilt es nur die richtigen Strippen zu ziehen, um es aus dem Weg zu räumen. Die techno­kratisch-kalte Sicht­weise muss alle Skrupel ausblenden, die Fixierung auf das eigene Wohl­ergehen und Wachs­tum drängt Mit­mensch­lich­keit in den Hinter­grund, bis sie eliminiert ist. Der Titel­begriff »ferocia« (dt. Grau­sam­keit, Kalt­blütig­keit, Erbar­mungs­losig­keit, Barbarei, Wildheit) trifft viele Façetten dieses Romans – unter­nehme­rische Hybris, soziale Abge­stumpft­heit und zwischen­mensch­liche Kälte sind drei davon.

Allerdings ändern sich die Verhältnisse in jüngster Zeit. Kritische Medien­arbeit und Initiativen engagierter Bürger und Politiker haben das Bewusst­sein der Öffent­lichkeit für die Bewah­rung der Natur­schätze ge­schärft, Unmut über Filz und Korruption angeheizt, Miss­trauen gegen Eliten und Super­reiche geschürt. Jetzt drohen Um­welt­behörden ein gewaltiges Projekt am Gargano still­zulegen, was das gesamte Salve­mini-Reich zu Fall bringen könnte. Vittorio muss hoch pokern ...

Und ausgerechnet jetzt kommt Clara, Vittorios älteste Tochter und Ehefrau seines leitenden Ingenieurs, unter so un­appetit­lichen Umständen ums Leben. Die gut geölte Maschine läuft auf vollen Touren: Polizei und Medien lassen sich über­zeugen, die Sache als Suizid zu kommu­nizieren. Der Fahrer des Liefer­wagens, der Clara vergebens auszu­weichen versuchte und in der Folge invalid wird, bekommt für sein Schweigen eine Eigen­tums­wohnung. Die regionalen Kirchen­fürsten richten es per Anord­nung ein, dass die ›Selbst­mörderin‹ in geweihter Erde begraben wird.

Vittorios Familienleben harmoniert nicht ganz so reibungslos mit den geschäft­lichen Interessen, wie der Bau-Tycoon es sich gewünscht hätte. Im materiellen Überfluss der Villa Salve­mini wachsen vier Kinder auf: Ruggero, Clara, Michele und Nach­züglerin Gioia. Ruggero hat das Vorbild der Eltern verinner­licht. Schnurstracks und in Rekordzeit hat er seinen inter­natio­nalen Karriere­weg verfolgt und leitet nun, zurück in Bari, das re­nom­mier­teste Krebszentrum Süditaliens. Noch abge­brühter als sein Vater, ruft der ihn oft zu Hilfe, wenn es unange­nehme Dinge zu erledigen gilt. Dank seines Aufstiegs umfasst der familiäre Einfluss­bereich nun auch den Medizin­sektor.

Vittorios Frau Annamaria hat nie eine eigene Persön­lichkeit entwickelt. Ihre Rolle als glanz­volle Gast­ge­berin spielt sie gut und gerne, aber warm­herzig ist sie nicht. Zu Vittorio und ihren Kindern ist sie solida­risch und zu nach­sichtig. Ohne mit der Wimper zu zucken, nimmt sie in ihre Familie das Kind der jungen Frau auf, mit der Vittorio eine seiner vielen Affären auslebte, bis sie im Kind­bett starb. Aber wahre Mut­ter­liebe kann sie Michele noch weniger geben als ihren eigenen Kindern.

Tochter Clara ist ein zerrissener Charakter. Einerseits fügt sie sich perfekt ein. Bei öffent­lichen Auftritten gibt sie die rassige Attraktion, konversiert intelligent und selbst­bewusst, spielt dabei jedoch ihr eigenes Spiel. Bald führt sie neben dem offiziellen ein privates Leben, das ihre Verwandten allenfalls ahnen, aber ignorieren: wahllose, demüti­gende Männer­bezie­hungen, Drogen, Ausbrüche, Zu­sammen­brüche ... Brav heiratet sie den bieder-effizienten leitenden Ingenieur in Papas Konzern, betrügt ihn jedoch von Anfang an hem­mungs­los.

Es gibt nur einen Menschen, für den Clara aufrichtiges und nach­haltiges Interesse aufbringt: Michele, neben ihr die zweite Schlüssel­figur dieses Romans. Aus anderem Holz geschnitzt als seine Halb­geschwis­ter, leidet er unter der aus­bleiben­den emotionalen Zuwen­dung und seiner subtilen Aus­grenzung in der Fa­milie. Äußerliche Annehm­lichkeiten und die grenzen­lose Freiheit einer gleich­gültigen Erziehung bedeuten ihm ebenso wenig wie Marken­kleidung, Enter­tain­ment, Leistung. In der Schule wird er zum Eigen­brödler und Sonder­ling. Im Umgang mit dem leicht autis­tisch wirkenden Intellek­tuellen sind die Lehrer so ratlos wie die Eltern. Anna­maria sucht eine kurier­bare Diagnose, insistiert auf psychia­trischer Behand­lung. In die Ecke gedrängt und verzweifelt, greift Michele zum Äußersten ...

Zu diesem Zeitpunkt ist zwischen Michele und der nahezu gleich­altrigen Clara längst eine innige affektive Beziehung, ja Kom­plizen­schaft im Dickicht ihrer Familie gewachsen. Dieses Gespann löst Konflikte aus, die die Familie und sie selbst zu zerstören drohen. An ihnen vollzieht sich die eigent­liche Tragödie, und Micheles Eins­sein mit Clara treibt die Hand­lung voran, bis er die Geheim­nisse um ihren brutalen Tod auf­gedeckt und die Verant­wortlichen zur Rechen­schaft gezogen hat: »Er begriff es zur Genüge ... nicht der Schmerz jetzt, sondern seine Schwester, ... ihr Vermächtnis, der Unterschied zwischen dem toten Leib und dem, was überdauert, seine Schwester war wütend, er spürte es, musste aber zwingend die unterschiedli­chen Versionen der Geschichte einander gegenüberstellen.«

Anders als es die in Buch­präsenta­tionen gern aufreizend heraus­gestellte Eingangs­episode nahelegt, ist La­gioias Buch trotz einiger Elemente dieser Genres kein Kriminal­roman, kein Noir und schon gleich kein Thriller. Vielmehr breitet der Roman ein unglaub­lich subtil und groß­flächig angelegtes Psycho­gramm der Familie Salve­mini und ihrer Freunde aus, das gleich­zeitig etwas über den Zustand der italie­ni­schen Gesell­schaft während und nach der Ära Berlus­coni (und auch über den Zustand vieler Küsten­land­schaften) aus­sagt. Claras Tod ist (lediglich) der symbo­lische struktu­relle Punkt, auf den die Ent­wicklung der Familie hin­steuert, der Besin­nung aus­lösen könnte, tat­sächlich aber eiskalt manipu­liert wird, bis auch er ins Kon­zept passt.

All dies erzählt Lagioia, übersetzt und mit einigen Erklärungen erschlossen von Monika Lustig, auf über fünfhundert Seiten mit bewunderns­werter Energie. Die chrono­logische Abfolge hat er in unzäh­lige Bruch­stücke zerlegt, gründlich durch­einander­ge­würfelt und nahtlos aneinander­geschnitten. Die Zeit- und Themen­sprünge erfordern dauernde Neu­orien­tie­rung, ob man gerade über Vittorios unter­nehme­rische Anfänge oder seine späte Krise liest, über Micheles Arbeit als Jour­nalist in Rom oder seine Recherchen in Bari, über Claras Teenager-Eskapaden oder eine der zahl­losen Begeg­nun­gen mit ihren späteren Lieb­habern. Der Erzähler lässt keinen Wimpern­schlag, keinen Sinnes­eindruck, kein auf­kommen­des Sentiment, kein Umgebungs­detail unerwähnt, und sein erlesener Wort­schatz scheint uner­schöpflich wie sein Reper­toire an geist­reichen Verglei­chen, kühnen Metaphern, welt­klugen Sen­tenzen. In dieser Dichte empfand ich Lagioias Stil, nachdem die Faszi­nation der ersten hundert Seiten langsam der Gewöhnung wich, nicht selten als manieriert, zu gleich­förmig, ermüdend. Nach der differen­zierten Innen­schau des Mittel­teils – Micheles schwie­riger Weg zu sich selbst – greift erst die Schluss­phase den schon verloren ge­glaub­ten Krimi­plot des Anfangs wieder auf.

Ein bedeutendes, anspruchs­volles Buch von hoher Relevanz, das die Aus­zeich­nung durch den renom­mier­ten Literatur­preis verdient hat, dessen Künst­lich­keit in Charakter- und formaler Gestal­tung aller­dings seine Wirkungs­kraft beein­trächtigt.


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Kommentare

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Zu »Eiskalter Süden« von Nicola Lagioia wurden 1 Kommentare verfasst:

Martin, brigitte schrieb am 01.05.2019:

Angeregt durch das Interview mit Elena ferrante werde ich den eiskalten Süden lesen . Hoffentlich finde ich in seinem schreibst die faszinierende herausentwicklung der Persönlichkeit in ihrem sozial-emotionalen Beziehungsgeflecht , das sich im Interview ergeben hatte

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