Das präsentable Gesicht der Verrohung
Mit einem düsteren Reißer setzt dieser Roman ein. Eine junge Frau torkelt mitten in einer Frühlingsnacht durch die Gärten eines Villenviertels am Rand von Bari. Ihr Körper ist unbekleidet und übel zugerichtet. An Pools und Hecken entlang gerät sie schließlich mitten auf die Schnellstraße nach Taranto. Der tödliche Zusammenprall mit einem Kleinlaster ist unausweichlich. Gleichzeitig berichtet der Erzähler aus einer Parallelwelt entlang ihres fatalen Weges. Minutiös schildert er das Treiben der Kleintiere, durch deren Reich die schwerverletzte Frau gebrochen ist. Käfer, Käuze, Katzen, Vipern, Schwärme von Nachtfaltern, unten im Dickicht und im Luftraum darüber, im Dunklen versteckt und von gleißendem Laternenschein angezogen, Individuen und Myriaden, Jäger und Opfer, Kluge und Törichte, alle mit sich selbst beschäftigt und gleichgültig, was aus der Frau wird.
Das Substrat animalischen Verhaltens bricht als Erzählgegenstand immer wieder an die Oberfläche durch, denn es spiegelt die verwilderte Denk- und Handlungsweise der Menschen, um die es hier geht. Nicht dass es sich um Primitivlinge handeln würde – im Gegenteil. Doch haben sie bei ihrem Aufstieg in die Führungsetage der Gesellschaft abgestreift, was den Menschen vom Tier unterscheidet: Empathie, Moral, Rechtsbewusstsein, Selbstkritik. Das kompromisslose Streben nach Macht und Größe, gekoppelt mit materiellem Reichtum, hat sie innerlich verarmen lassen.
Dieses wohlbekannte Sujet gestaltet der italienische Autor Nicola Lagioia (1973 in Bari geboren, in seiner Heimat mit etlichen Preisen geehrt, aber bislang noch nicht ins Deutsche übersetzt) in seinem vierten Roman »La ferocia« auf originelle, nicht unumstrittene Weise. Knapp ein Jahr nach seinem Erscheinen ging er im Juli 2015 aus dem dreistufigen Auswahlverfahren des Premio Strega als klarer Sieger hervor. Man rühmt seine schonungslose Gesellschaftskritik ebenso wie die erzählerisch-stilistische Kraft des Werkes. Im September 2016 ist sein Buch in der Übersetzung von Monika Lustig im Secession-Verlag erschienen.
Der zentrale Schauplatz ist Bari. Hier hat Vittorio Salvemini über vier Jahrzehnte aus einem kleinen Baugeschäft ein global agierendes Imperium geschaffen. Der Durchbruch gelang mit dem Aufkauf großer Areale in herrlichster Lage, die ohne Rücksicht auf kulturelle, soziale oder Umweltschutzbelange mit Dutzenden kleiner Standardhäuschen überzogen und lukrativ vermarktet wurden. Möglich ist so etwas nur, wenn die örtlichen Verwaltungen, Bankiers und Politiker zum Mitspielen gewonnen werden. Mit unzähligen Arbeitsessen, glamourösen Partys, lautem Sponsoring öffentlicher Einrichtungen, vertraulichen Unterredungen und stillen Gefälligkeiten hat Vittorio ein komplexes Netz von Abhängigkeiten gewoben. Behördenleiter, Richter, Regierungsmitglieder, Staranwälte gehören zu den intimen Freunden der Familie, und ein jeder ist den anderen irgendwie verpflichtet.
Vittorio Salvemini ist der Exponent eines modernen Unternehmertypus, der sich schier allmächtig glaubt, weil in seiner Welt nichts unmöglich scheint. Wo immer ein Hindernis auftaucht, gilt es nur die richtigen Strippen zu ziehen, um es aus dem Weg zu räumen. Die technokratisch-kalte Sichtweise muss alle Skrupel ausblenden, die Fixierung auf das eigene Wohlergehen und Wachstum drängt Mitmenschlichkeit in den Hintergrund, bis sie eliminiert ist. Der Titelbegriff »ferocia« (dt. Grausamkeit, Kaltblütigkeit, Erbarmungslosigkeit, Barbarei, Wildheit) trifft viele Façetten dieses Romans – unternehmerische Hybris, soziale Abgestumpftheit und zwischenmenschliche Kälte sind drei davon.
Allerdings ändern sich die Verhältnisse in jüngster Zeit. Kritische Medienarbeit und Initiativen engagierter Bürger und Politiker haben das Bewusstsein der Öffentlichkeit für die Bewahrung der Naturschätze geschärft, Unmut über Filz und Korruption angeheizt, Misstrauen gegen Eliten und Superreiche geschürt. Jetzt drohen Umweltbehörden ein gewaltiges Projekt am Gargano stillzulegen, was das gesamte Salvemini-Reich zu Fall bringen könnte. Vittorio muss hoch pokern ...
Und ausgerechnet jetzt kommt Clara, Vittorios älteste Tochter und Ehefrau seines leitenden Ingenieurs, unter so unappetitlichen Umständen ums Leben. Die gut geölte Maschine läuft auf vollen Touren: Polizei und Medien lassen sich überzeugen, die Sache als Suizid zu kommunizieren. Der Fahrer des Lieferwagens, der Clara vergebens auszuweichen versuchte und in der Folge invalid wird, bekommt für sein Schweigen eine Eigentumswohnung. Die regionalen Kirchenfürsten richten es per Anordnung ein, dass die ›Selbstmörderin‹ in geweihter Erde begraben wird.
Vittorios Familienleben harmoniert nicht ganz so reibungslos mit den geschäftlichen Interessen, wie der Bau-Tycoon es sich gewünscht hätte. Im materiellen Überfluss der Villa Salvemini wachsen vier Kinder auf: Ruggero, Clara, Michele und Nachzüglerin Gioia. Ruggero hat das Vorbild der Eltern verinnerlicht. Schnurstracks und in Rekordzeit hat er seinen internationalen Karriereweg verfolgt und leitet nun, zurück in Bari, das renommierteste Krebszentrum Süditaliens. Noch abgebrühter als sein Vater, ruft der ihn oft zu Hilfe, wenn es unangenehme Dinge zu erledigen gilt. Dank seines Aufstiegs umfasst der familiäre Einflussbereich nun auch den Medizinsektor.
Vittorios Frau Annamaria hat nie eine eigene Persönlichkeit entwickelt. Ihre Rolle als glanzvolle Gastgeberin spielt sie gut und gerne, aber warmherzig ist sie nicht. Zu Vittorio und ihren Kindern ist sie solidarisch und zu nachsichtig. Ohne mit der Wimper zu zucken, nimmt sie in ihre Familie das Kind der jungen Frau auf, mit der Vittorio eine seiner vielen Affären auslebte, bis sie im Kindbett starb. Aber wahre Mutterliebe kann sie Michele noch weniger geben als ihren eigenen Kindern.
Tochter Clara ist ein zerrissener Charakter. Einerseits fügt sie sich perfekt ein. Bei öffentlichen Auftritten gibt sie die rassige Attraktion, konversiert intelligent und selbstbewusst, spielt dabei jedoch ihr eigenes Spiel. Bald führt sie neben dem offiziellen ein privates Leben, das ihre Verwandten allenfalls ahnen, aber ignorieren: wahllose, demütigende Männerbeziehungen, Drogen, Ausbrüche, Zusammenbrüche ... Brav heiratet sie den bieder-effizienten leitenden Ingenieur in Papas Konzern, betrügt ihn jedoch von Anfang an hemmungslos.
Es gibt nur einen Menschen, für den Clara aufrichtiges und nachhaltiges Interesse aufbringt: Michele, neben ihr die zweite Schlüsselfigur dieses Romans. Aus anderem Holz geschnitzt als seine Halbgeschwister, leidet er unter der ausbleibenden emotionalen Zuwendung und seiner subtilen Ausgrenzung in der Familie. Äußerliche Annehmlichkeiten und die grenzenlose Freiheit einer gleichgültigen Erziehung bedeuten ihm ebenso wenig wie Markenkleidung, Entertainment, Leistung. In der Schule wird er zum Eigenbrödler und Sonderling. Im Umgang mit dem leicht autistisch wirkenden Intellektuellen sind die Lehrer so ratlos wie die Eltern. Annamaria sucht eine kurierbare Diagnose, insistiert auf psychiatrischer Behandlung. In die Ecke gedrängt und verzweifelt, greift Michele zum Äußersten ...
Zu diesem Zeitpunkt ist zwischen Michele und der nahezu gleichaltrigen Clara längst eine innige affektive Beziehung, ja Komplizenschaft im Dickicht ihrer Familie gewachsen. Dieses Gespann löst Konflikte aus, die die Familie und sie selbst zu zerstören drohen. An ihnen vollzieht sich die eigentliche Tragödie, und Micheles Einssein mit Clara treibt die Handlung voran, bis er die Geheimnisse um ihren brutalen Tod aufgedeckt und die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen hat: »Er begriff es zur Genüge ... nicht der Schmerz jetzt, sondern seine Schwester, ... ihr Vermächtnis, der Unterschied zwischen dem toten Leib und dem, was überdauert, seine Schwester war wütend, er spürte es, musste aber zwingend die unterschiedlichen Versionen der Geschichte einander gegenüberstellen.«
Anders als es die in Buchpräsentationen gern aufreizend herausgestellte Eingangsepisode nahelegt, ist Lagioias Buch trotz einiger Elemente dieser Genres kein Kriminalroman, kein Noir und schon gleich kein Thriller. Vielmehr breitet der Roman ein unglaublich subtil und großflächig angelegtes Psychogramm der Familie Salvemini und ihrer Freunde aus, das gleichzeitig etwas über den Zustand der italienischen Gesellschaft während und nach der Ära Berlusconi (und auch über den Zustand vieler Küstenlandschaften) aussagt. Claras Tod ist (lediglich) der symbolische strukturelle Punkt, auf den die Entwicklung der Familie hinsteuert, der Besinnung auslösen könnte, tatsächlich aber eiskalt manipuliert wird, bis auch er ins Konzept passt.
All dies erzählt Lagioia, übersetzt und mit einigen Erklärungen erschlossen von Monika Lustig, auf über fünfhundert Seiten mit bewundernswerter Energie. Die chronologische Abfolge hat er in unzählige Bruchstücke zerlegt, gründlich durcheinandergewürfelt und nahtlos aneinandergeschnitten. Die Zeit- und Themensprünge erfordern dauernde Neuorientierung, ob man gerade über Vittorios unternehmerische Anfänge oder seine späte Krise liest, über Micheles Arbeit als Journalist in Rom oder seine Recherchen in Bari, über Claras Teenager-Eskapaden oder eine der zahllosen Begegnungen mit ihren späteren Liebhabern. Der Erzähler lässt keinen Wimpernschlag, keinen Sinneseindruck, kein aufkommendes Sentiment, kein Umgebungsdetail unerwähnt, und sein erlesener Wortschatz scheint unerschöpflich wie sein Repertoire an geistreichen Vergleichen, kühnen Metaphern, weltklugen Sentenzen. In dieser Dichte empfand ich Lagioias Stil, nachdem die Faszination der ersten hundert Seiten langsam der Gewöhnung wich, nicht selten als manieriert, zu gleichförmig, ermüdend. Nach der differenzierten Innenschau des Mittelteils – Micheles schwieriger Weg zu sich selbst – greift erst die Schlussphase den schon verloren geglaubten Krimiplot des Anfangs wieder auf.
Ein bedeutendes, anspruchsvolles Buch von hoher Relevanz, das die Auszeichnung durch den renommierten Literaturpreis verdient hat, dessen Künstlichkeit in Charakter- und formaler Gestaltung allerdings seine Wirkungskraft beeinträchtigt.