Ohne Ausweg
Adi Regev liebt Tel Aviv. Jeden Abend tourt die junge Frau mit ihren Freunden durch Cafés, Pubs und Kneipen. In bester Partystimmung trudelt sie, beflügelt vom Alkohol, vor ihrem Haus ein, als plötzlich aus der dunklen Dornenhecke ein Mann mit Basecap und Sonnenbrille hervorspringt, sie an den Haaren hinter das Gebüsch zieht und mit einem Messer bedroht: »Fleh mich an, oder ich mach dich kalt.«
Oh, dieser Verfall der Sitten! Sarah Glaser kann ihn bezeugen. Jede Nacht beobachtet die 82-Jährige durch ihr Hightech-Nachtsichtfernglas, was sich vor ihrem Fenster abspielt. Dass Hundehalter den Kot ihrer Tiere einfach so auf dem Bürgersteig liegenlassen, ist schlimm genug. Niemand scheint sich darum zu kümmern. Sie selbst hat wegen des Drecks schon mehrfach das Ordnungsamt angerufen. Aber jetzt sieht sie, wie ein brutaler Typ eine junge Frau vergewaltigt – im Hof des Viertels, in dem sie seit über vierzig Jahren lebt!
Adi kommt mit dem Leben davon. Was ihr angetan wurde, will sie einfach nur vergessen. Sie berichtet niemandem davon, erstattet keine Anzeige, sondern igelt sich in ihrer Wohnung ein, verkriecht sich im Bett, ignoriert das klingelnde Telefon. Ihre Eltern sorgen sich, bis sie endlich eingeweiht werden. Vater Jaron drängt Adi, aktiv zu werden, bringt sie selbst zum Krankenhaus und zur Polizei.
Der erfahrene Kriminalkommissar Eli Nachum übernimmt den Fall. Aber selbst drei Wochen später ist er noch keinen Schritt weitergekommen. Die DNA-Spuren hat Adi selbst gründlich weggewaschen. Am Tatort konnte die Spurensicherung nur den Abdruck eines Allerwelts-Turnschuhs ausmachen. Zeugen gibt es keine.
Natürlich hat die Polizei auch Sarah Glaser befragt, ob sie vielleicht Sachdienliches zur Aufklärung der Vergewaltigung beitragen könne. Aber danach war ihr nicht. So gebrechlich, wie sie sich fühlt, kann sie doch nicht gegen richtige Gangster aussagen. Die würden sich sicherlich an ihr rächen. Und schließlich gibt es ja noch andere Hausbewohner außer ihr ...
Wenn die Polizei nicht vorankommt, muss Vater Jaron eben selbst initiativ werden. Tage- und nächtelang wacht er in seinem Auto vor Adis Wohnblock, denn man weiß ja: Irgendwann wird der Täter an den Tatort zurückkehren. Als sich diese Binsenwahrheit tatsächlich erfüllt, verfolgt Jaron den Fremden, der da nachts suchend durch die Gegend schleicht, bis zu seiner Haustür und fotografiert ihn am nächsten Morgen beim Verlassen seiner Wohnung. Dann legt er Adi die Bilder vor. Sie mag kaum hinschauen, aber um der Qual endlich ein Ende zu bereiten, bestätigt sie dem Vater mit verheulten Augen: »Das ist der Mann, der mich vergewaltigt hat.«
Foto und Adresse des Täters, dazu seine Identifizierung durch das Opfer – was kann ein Kommissar sich mehr wünschen? Überdies hat Ziv Nevo, 28, eine Vorgeschichte aufzuweisen, die nicht gerade für seine Unschuld spricht: im Job gekündigt, die Ehe geschieden, Unterhaltszahlungen nicht geleistet, zwei Mal wegen sexueller Gewalt angezeigt. Eli Nachum braucht den mutmaßlichen Täter nur zu verhaften und im engen Verhörraum ohne Klimaanlage im eigenen Saft schmoren zu lassen, bis er gesteht. Er selbst kann sich darauf beschränken, den guten Polizisten zu geben, der nur helfen will.
Schon während Nachum berichtet, wie es Adi geht, und das Verbrechen selbst noch außen vor lässt, wird Nevo weich und geständig. Ja, er habe einen Fehler begangen. Er weint sogar. »Sagen Sie ihr, dass es mir leidtut, wenn ich sie verletzt habe. Es war nicht meine Absicht.« Nachum ist kurz vor der Ziellinie: »Schreiben Sie es auf ..., wie Sie Adi Regev vergewaltigt haben.« Doch da ist Ziv wie vor den Kopf geschlagen. Er sei zwar dort gewesen, aber aus anderen Gründen. Vergewaltigt habe er niemanden.
Von diesem Moment an entwickeln sich zwei Handlungsspiralen, die sich mit dem Fortschreiten der Ereignisse immer enger zusammenziehen. Während Nachum weiterhin von Ziv Nevos Schuld überzeugt ist und ihn hartnäckig verfolgt, um ihn zu überführen, gelingt es Ziv kaum, seinen Kopf aus der Schlinge zu ziehen. Ohne Chance auf einen ehrlichen Job, hatte er sich als Drogenkurier anheuern lassen und war in dieser Angelegenheit am Tatort. Seine Auftraggeber warnten ihn unmissverständlich, dass seine Familie büßen werde, falls der Vogel singen sollte.
So findet sich Ziv zwischen Skylla und Charybdis: die Drogenverbindungen auffliegen lassen oder die nicht begangene Vergewaltigung gestehen? Letzteres scheint ihm das kleinere Übel. Und in der Tat wird vor Gericht ein mildes Strafmaß wegen »gefährlicher Körperverletzung« ausgehandelt: Er wird auf Bewährung in die Freiheit entlassen. Was wirklich dahinter steckt, durchschaut er nicht, aber er weiß genau, dass die Mafia-Bosse annehmen müssen, er habe sie verraten; jetzt werden sie die Messer gegen ihn wetzen ...
Ziv Nevo ist nur ein kleines Rädchen im Getriebe. Er gerät unter Druck, weil im System so vieles unrund läuft. Die Medien heizen das gesellschaftliche Klima auf; die Öffentlichkeit erwartet schnelle und nachhaltige Maßnahmen von den Behörden; dort werden Verfahrens- und Ermittlungsfehler vertuscht; junge Polizei-Ehrgeizlinge mobben ältere Kollegen aus ihrem Karriereweg; und fragwürdige Abmachungen bringen allen betroffenen Lagern irgendeinen Gewinn, nur nicht der Gerechtigkeit. Denn gründlichere Recherchearbeit hätte nicht nur Fehler aufgedeckt, sondern auch Ziv Nevos Unschuld.
Liad Shohams Kriminalroman »Tag der Vergeltung« (Ulrike Harnisch hat ihn aus dem Hebräischen übersetzt) wechselt ständig die Perspektiven. Er lässt uns die Innenansichten des Opfers, des überbesorgten Vaters, des unter Leistungsdruck agierenden Kommissars, des mutmaßlichen Täters, des Mafia-Clans, eines Journalisten und weiterer Personen nachvollziehen. In einer restlos verfahrenen Situation bleiben ihnen allen, wie es scheint, kaum Alternativen für ihr Handeln ...
»Tag der Vergeltung« ist ein gut gemachter, sachkundiger, psychologisch dichter Kriminalroman frei von Gewaltszenen und bluttriefenden Beschreibungen.