Arme Schweine
Fluchtartig hat Sean London und seine Vergangenheit hinter sich gelassen und trampt jetzt mit Rucksack durchs sommerlich schwüle Südfrankreich. Irgendwann wird er sich dem stellen müssen, was geschehen ist und ihn schwer bedrückt, sonst kommt er nicht mehr davon los. Er hatte eine kurze Liaison mit Chloe, einer drogensüchtigen jungen Frau, bis sie zu ihrem Exfreund zurückkehrte.
Auf der Landstraße rast plötzlich ein Polizeiauto auf Sean zu. Er springt instinktiv über den Stacheldrahtzaun und versteckt sich hinter einem Baum, denn er möchte nicht angesprochen werden. Gleich nachdem die Gefahr vorüber ist, spürt er einen heftigen Schmerz im Fuß: Er ist in eine Eisenfalle getreten. Selber befreien kann er sich nicht, seine Schreie hört hier draußen niemand. Als der Abend kommt, versinkt Sean in Schlaf und Fieberwahn.
In einem seit Langem ungelüfteten Bett kommt er wieder zu sich. Neben ihm türmen sich Klamotten und Möbel, über ihm wabern Spinnennetze an Holzbalken, es riecht muffig im Raum. Neben einem alten schwarzen Schaukelpferd entdeckt er seinen Rucksack. Er hebt seine schmuddelige Bettdecke an und stellt überrascht fest, dass ihn jemand ausgezogen und seinen Fuß verbunden haben muss. Auf diesem Dachboden bleibt Sean tagelang isoliert. Eine junge Frau bringt ihm Brot und Milch, ehe sie durch eine Falltür wieder entschwindet und den Riegel vorschiebt.
Sean ist in einer merkwürdigen kleinen Familie gelandet, die irgendetwas verheimlicht. Das Bauerngehöft mit Scheune und Stallgebäuden ist heruntergekommen, die Giebeluhr an der eingerüsteten Fassade steht offensichtlich schon lange. Hier lebt der griesgrämige, eigensinnige, tyrannische und unberechenbare Arnaud mit seinen beiden Töchtern Mathilde (30) und Gretchen (18) sowie dem Enkel Michel.
Erst macht Arnaud dem Fremden unmissverständlich klar, dass er besser heute als morgen verschwinden solle. Doch Mathilde gibt zu bedenken, dass man Hilfe bitter nötig habe. Seit achtzehn Monaten stehe das Gerüst schon verwaist, endlich könne man die notwendigen Renovierungsarbeiten an der Fassade wieder aufnehmen. Obgleich Sean einräumen muss, niemals auf einem Hof gearbeitet noch irgendwelche Erfahrungen mit Bauarbeiten gesammelt zu haben, gibt Arnaud der Überredungskunst seiner Tochter nach und gestattet Sean, sich versuchsweise gegen einen Hungerlohn zu beweisen. Der Fremde solle ihm nur möglichst nicht in die Quere kommen und sich vor allem von seinen Töchtern fernhalten«; das Gewehr, das der Alte ständig bei sich trägt, untermauert seine Warnung überzeugend.
Sean, der selber etwas zu verbergen hat, nimmt das streng reglementierte Angebot an, denn hier ist er vorerst in Sicherheit, und schließlich hat er »schon Schlimmeres überstanden«.
Was hat es mit dieser eigenartigen Gemeinschaft auf sich? Von der Außenwelt haben sie sich hermetisch abgeschottet – Stacheldraht umgibt das Grundstück, Eisenfallen schützen vor Eindringlingen. Augenscheinlich haben sie Angst vor Entdeckung. Untereinander herrscht Zwietracht. Dem Vater wagt niemand zu widersprechen. Die beiden Schwestern verbindet eine Hassliebe. Gretchen beäugt eifersüchtig ihre Schwester, wenn diese sich um Seans Verletzung kümmert. Sean muss sich nicht nur vor dem argwöhnischen Alten, sondern auch vor Gretchens eindeutigen verführerischen Angeboten in Acht nehmen ...
Während Ich-Erzähler Sean die dunkle Geschichte seiner Gastgeber erzählt, führt er parallel dazu aus, was sich zuvor in London ereignet und ihn zur Flucht nach Frankreich gezwungen hat. Die meisten der neunzehn Kapitel sind auf diese Weise nach Handlungsort und -zeit untergliedert und enden mit einigen Seiten über »London«.
Simon Becketts neuester Roman »Stone Bruises« (übersetzt von Juliane Pahnke) wird wieder als »Thriller« vermarktet, obgleich er nicht einmal genug Merkmale der Gattung »Kriminalroman« vorweisen kann. Weit und breit gibt es keinen Handlungsstrang, der uns das Fürchten lehrt, wie wir es bei einem Thriller erwarten dürfen. Der eher ent- als gespannte Leser bleibt an der Story, weil er hofft, irgendwann müsse doch noch ein Knüller folgen. Und tatsächlich: Nachdem man vierhundert Seiten hinter sich hat, wird das Geheimnis, das über dem Hof liegt, gelüftet. Vereinzelte Leser wird es vielleicht noch vom Hocker reißen können, die meisten aber werden es schon so oder so ähnlich vorhergesehen haben.
Wer weder auf nervzerreißende Spannungselemente noch auf Brutalität setzt, wird von Becketts »Der Hof« nicht enttäuscht. Das Buch liest sich gut und flüssig, und die Atmosphäre auf dem gespenstischen Hof mit seinen mysteriös agierenden Figuren fesselt durchaus. »Der Hof« ist ein anderer, ein unterhaltsamer Beckett-Roman, aber kein Schocker.