Das neue Herz
von Lina Wolff
Eine schwedische Jounalistin möchte in Madrid ihren persönlichen Krisen entkommen, gerät aber mitten hinein in die Abgründe eigenwilliger Frauen und Männer, feministischer und patriarchalischer Verhältnisse, von Liebe, Hass und Rache, von Schuld und Vergebung. Ein Roman aus Realität und Fantasie, mit praller Drastik und hintergründigem Humor.
Schulen der Herzlosigkeit
Eine schwedische Jounalistin entflieht ihrer deprimierenden Vergangenheit (Beziehungskrisen, Schreibblockade, Absturz im Job) in die wärmende Sonne der spanischen Hauptstadt, wo sie zwanzig Jahre zuvor studiert hat. Hier will sie wieder Fuß fassen und sich stabilisieren. Dem Alter der wilden Partys und der Techtelmechtel ist sie inzwischen entwachsen, aber durchaus interessiert, »ein paar Leute kennenzulernen«, und dafür »darf sie sich nicht verschließen«. Schneller, als sie es wahrhaben will, ist sie in einer Bar im Gespräch mit einem Mann namens Mercuro Cano, dessen Zunge sich bald löst und derart Erstaunliches enthüllt, dass die Schwedin den Fremden in ihr gemietetes Appartement aufnimmt und ihm dort eine Art Asyl gewährt.
Was Mercuro ihr im Laufe des ersten Abends und danach zu erzählen hat, ist die desaströse Entwicklung seiner Ehe. Obwohl Soledad Ocampo, seine Ehefrau, die Einzige ist, die er jemals liebte, hat er sie betrogen – sei es aus ehelichem Überdruss oder aus Langeweile. Nun lässt er nichts unversucht, die Ehe zu retten, und willigt dazu sogar ein, an einer höchst ungewöhnlichen Paartherapie teilzunehmen.
Die Sitzung wird von der Nonne Lucia geleitet und unter dem Titel »Fleisch und Sühne« live im Darknet gestreamt. Wiewohl 93 Jahre alt und von zierlicher Gestalt, ist Lucia de facto verbittert, niederträchtig und von Männerhass getrieben. Unmissverständlich erklärt sie dem Ehebrecher seine einzige Option, um Frau und Ehe zu retten. Nur so könne er beweisen, dass er seine Frau wahrhaftig liebt und zurückgewinnen will, nur dann habe er für seine Seitensprünge hinreichend gesühnt, nur so könne ihm verziehen werden: Er muss Soledad sein Herz schenken.
Lucia schwelgt keineswegs in kitschigen Metaphern, sondern spricht brutalen Klartext. In der Tat ist Soledad schwer herzkrank und wartet dringend auf ein Spenderorgan. Jetzt fordert sie Mercuros Herz ein, der Operationstermin ist bereits gesetzt, und der unwillige Organspender ergreift die Flucht.
Unsere Erzählerin, bei der der Widerspenstige Unterschlupf gefunden hat, ist erschüttert von so viel Herzlosigkeit, findet jedoch gleich am nächsten Morgen auch ein Gegenbeispiel von wahrer Aufopferung. Als sie durch den nahen Park schlendert, um sich der »Freude am Neuen«, an der Sprache, den Gerüchen, einem Bad hinzugeben, beobachtet sie eine ältere Dame, die sich unentwegt und mit immer gleichen Gesten und Phrasen um ihren schwerstbehinderten Mann im Rollstuhl kümmert. Man kommt ins Gespräch, und die Schwedin ist beeindruckt von so intensiver Verbundenheit »durch großes Leid und durch großes Glück«. Als sie erfährt, dass die beiden eine Haushaltshilfe suchen, möchte sie Teil dieser wunderbaren Gemeinschaft werden und bewirbt sich. Erfahrung mit Krankenpflege hat sie keine, aber ihre Proklamation guten Willens und fester Vorsätze verschaffen ihr die Anstellung. Beseelt von dem frommen Wunsch, im Leben »etwas zu geben« statt von anderen zu nehmen, beginnt sie ihre Arbeit gleich am nächsten Tag und durchläuft in dem harten Job eine Art Selbstverwirklichung, bis sich ihr Schützling urplötzlich von ihr abwendet und wieder von seiner Ehefrau umhegt werden will. Das freilich überfordert die Frustrationstoleranz der guten Helferin bei weitem und löst ungeahnte Reflexe aus. Die Stelle ist sie los, aber der Roman nimmt Fahrt auf.
Immer merkwürdigere Züge nimmt die Geschichte an, während sie uns durch fantastische, absonderliche, skurrile und komische Szenen führt. Kulminiert die Handlung am Ende des ersten Kapitels schon in einer Totschlagsszene, so lesen wir im zweiten Kapitel die schauerliche Lebensgeschichte der Nonne Lucia, wie sie sie der Journalistin (die sie Bennedith nennt) nach und nach in einem Briefwechsel preisgibt.
Da darf weder der berüchtigte Generalissimo Franco noch ein brutaler Stiefvater (ein Metzger natürlich) fehlen, der die Fünfzehnjährige abzuhärten trachtet, indem er sie prügelt und bei seinen Misshandlungen an Mensch und Tier zuzuschauen zwingt. Noch nach seinem thematisch adäquaten Abgang zeitigen seine Missetaten Grauen erregende Folgen. Eines seiner Opfer will nun am Töchterchen Rache nehmen, wobei aus »Auge um Auge, Zahn um Zahn« jetzt Daumen um (Lucias) Daumen wird.
Ein Erweckungserlebnis triggert den Wendepunkt in Lucias Leben: Sie tritt in ein Kloster ein und wird Beichtmutter für viele Frauen. Doch ihre wahre Bestimmung findet sie erst, indem sie ihnen Anleitungen zur Lebensführung bietet, Hilfestellung bei der Bewältigung schwieriger Probleme leistet. Den Gipfel ihrer Berufung erreicht sie schließlich Jahre später mit der Internet-Show »Fleisch und Sühne«, in der ihre Opfer bis zur Unerträglichkeit gedemütigt werden, auf dass sie bessere Menschen werden.
Die schwedische Schriftstellerin Lina Wolff, geboren 1973, hat mit »Köttets tid« (von Stefan Pluschkat ins Deutsche übersetzt) einen wahrhaft außergewöhnlichen Roman weitab vom Mainstream geschaffen, über den man sich als Satire auf allerlei Zeitströmungen im Geschlechterverhältnis, der Selbstverwirklichung oder ›korrekten‹ Lebens amüsieren kann, dessen Absonderlichkeiten einen aber auch befremden und ratlos zurücklassen können. Einerseits wirft er tiefgründige Fragen zu den Themen Liebe, dem Sinn des Lebens, der Suche nach dem Selbst auf, andererseits relativiert er seine Ernsthaftigkeit wieder mit seinem konstruierten Handlungsgang und durch verkünstelte Übersteigerungen, Abstrusitäten und Gewaltszenen. Einerseits geht es um Einblicke in die menschliche Psyche, ihre Geheimnisse und Abgründe, andererseits sind die Figuren und ihre Lebensgeschichten nicht lebensnah, sondern allzu papieren, um ihre Funktionen in dem ebenfalls artifiziellen Plot ausfüllen zu können, .
Während der Originaltitel »Köttets tid« (übersetzt: »Die Zeit des Fleisches«) passende, leicht mysteriöse Bilder evoziert, tut sein vom deutschen Verlag gewähltes Äquivalent genau dies nicht. Obwohl »Das neue Herz« natürlich faktisch zutrifft, wenn man das Buch schon kennt, mag der uninformierte Betrachter spontan romantisch-leichte Kost »fürs Herz« erwarten – vielleicht einen Arztroman oder Märchenhaftes nach Wilhelm Hauff?