
Schweig!
von Judith Merchant
Nach dem letztjährigen Fiasko will Esther ihre Schwester nicht noch einmal zum Weihnachtsfest einladen. Aber sie vor dem Fest aufsuchen muss sie wohl. Wegen eines Schneesturms unausweichlich beisammen, nehmen die beiden einander hemmungslos in die Zange, bis die Fetzen fliegen und alle Geheimnisse auf dem Tisch sind.
Vergiss Weihnachten, liebste Schwester
Kann das wichtigste Familienfest schlechthin, bei dem besinnliches Feiern, fröhliche Gemeinsamkeit, gelebtes Harmoniestreben und Freude über Schenken und Beschenktwerden im Mittelpunkt stehen, Hintergrund eines bitteren Psychothrillers sein? Der deutschen Autorin Judith Merchant (1976 in Bonn geboren) ist diese disparate Mixtur gut gelungen. Mit spitzer Feder, einem sprudelnden Quell von Ideen und Freude am unerwarteten Hakenschlagen führt sie ihre Leser geschickt und unterhaltsam durch eine Geschichte, die eine Vielzahl weihnachtlicher Themen ganz realitätsnah durchspielt, aber keinen Zweifel am Ausgang lässt: »Dass dieses Weihnachten nicht alle überleben werden«.
Wer hat nicht seine privaten Erfahrungen gemacht mit der Komplexität eines Festes, auf das sich unvereinbare Erwartungen bündeln wie auf wenige andere? Alle hoffen auf ein harmonisches Zusammensein all der Choleriker, Esoteriker, Kleriker, Low-Carb- und Paleo-Diätiker, Pragmatiker, Punker, Romantiker und Techniker der Familie, und so gehen dem Unmöglichen stressige Wochen der Vorbereitungen voraus, in denen die unterschwelligen Beziehungsprobleme heranreifen, bis sie ausgerechnet am Tag des Jubilierens kulminieren.
Judith Merchants Plot schweift nicht so weit aus, sondern konzentriert sich auf eine Handvoll Figuren, darunter die beiden Erzählerinnen Esther und Sue. Die Schwestern mittleren Alters waren einander nie sonderlich zugetan, aber inzwischen ist ihre Beziehung irreparabel zerrüttet. Die attraktive Esther lebt mit Ehemann Martin, zwei Kindern und einem Kater in einer Stadtwohnung. Sue, die jüngere und klügere, ist kinderlos, geschieden, hat ihren Job bei einer Werbeagentur geschmissen, und ihr seelischer Zustand ist seit Längerem angegriffen. Esther hält sie für »halb verrückt, so zugänglich wie ein Kaktus«. Umgekehrt kann Sue das perfektionistische Wesen ihrer Schwester kaum ertragen – »das ganze belanglose Zeug«, wie sie Alltag und Familie im Griff hat, die endlosen Tiraden einer von sich überzeugten Besserwisserin. Am besten hält man still, bis der ganze »fröhlich-bunte Alltagsschlamm« über einem ausgekippt ist.
Nun steht Weihnachten an, und die Erfahrungen aus dem letzten Jahr, als Sue zusammenbrach, sind nicht vergessen. Soll man die kleine »Schnecke«, wie Sue seit Kindertagen genannt wurde, wieder in den Familienkreis einbeziehen? Esther zögert, und auch Martin ist skeptisch. Aber dann drückt Esther die Verantwortung, der Schutzbedürftigen zur Seite zu stehen, und gerade zur Weihnachtszeit darf doch niemand in seiner Einsamkeit vergessen werden.
So macht sich Esther am Tag vor Heiligabend, als eigentlich ein Berg an Vorbereitungen ansteht, kurz entschlossen auf den Weg zu Sue – keineswegs, um bei Kerzenschein einträchtig Weihnachtslieder zu singen, sondern bloß um zu kontrollieren, ob man sie zum Fest in ihrem überdimensionierten Haus mitten im Wald alleine lassen kann. Tochter Ella hat liebevoll ein Buch eingepackt, Martin schnell einen Wein aus dem Keller geholt. Weil Schneefall einsetzt, braucht Esther für die hundert Kilometer länger als vom Navi veranschlagt. Die Schatten der dunklen Tannen auf den Waldwegen werden länger, die Sicht schlechter, das Mobilfunknetz schwindet.
Inzwischen muss Martin die Einkäufe zu Hause eigenständig erledigen – ein Problem für einen, der wahrlich kein Hausmann ist, wie ihn sich eine moderne Frau erträumt, sondern eher »ein Waschlappen«. In dieser Ehe steht nicht alles zum Besten. Mit den Jahren hat Martin gelernt, jede Regung seiner Frau zu erkennen, und er weiß, was ihn erwartet, je nachdem, ob sie ihr Straf-, Verachtungs- oder Mitleidsgesicht aufsetzt. In seinem Innern toben wilde Gefühle und lebensgefährliche Gedanken, aber die Existenz seiner beiden Kinder hält alles im Zaum. Nur bietet Jonas, der pubertierende Sohn, mit dauerschlechter Laune und provokanten Sprüchen gerade wenig Anlass für ungetrübte Vaterfreuden.
Indem Esther den im Dunkeln liegenden puristischen Architektentraum erreicht, beginnt das kammerspielartige Zweipersonenstück, der eigentliche Psychothriller. Erst mit einiger Verzögerung öffnet sich die Tür der Villa. Das verlotterte Äußere der kleinen Schwester (teure, schmuddelige, wahllos übergestreifte Klamotten) lässt auf einen suboptimalen seelischen Zustand schließen, und das Messer mit langer Klinge in ihrer Hand lässt Schlimmes befürchten.
Gebannt verfolgen wir auf der kleinen Bühne die Gespräche zwischen zwei Schwestern, die ein Schneesturm nun so unausweichlich nah aneinander fesselt, wie sie sich seit ihrer Kindheit nicht mehr gekommen sind. Sue ist abweisend, als hüte sie Geheimnisse. Über oberflächlich-nichtssagende Dialoge entwickeln sich, von Provokationen angeheizt, brisante Schlachten, die Wahrheiten hervorlocken, im gleichen Moment wieder in Frage gestellt, als Lüge abgeschmettert werden. Das verbale Gemetzel aus widerstreitenden Perspektiven – wem sollen wir Leser da Glauben schenken? – pulverisiert Vergangenes, reißt jedes Deckmäntelchen vorgeblicher Geschwisterliebe hinweg (etwa dass Sue beschützt werden müsse, im schlimmsten Fall vor sich selber). Eine Feindschaft, über Jahre vertuscht, durchlitten, unterdrückt, bricht sich in Iggeleien, Eifersüchteleien, Hass, Manipulationen, Erpressungs- und Machtspielen Bahn – und eskaliert.
Bücher und Musik-CDs für die Advents-
und Weihnachtszeit finden Sie hier.
So entwickelt die Autorin ein überzeugendes Psychogramm zweier ungleicher Geschwister und einer kriselnden Ehe. Wie ein Räderwerk greifen die Worte ineinander – mal Liebe und Verständnis säuselnd, mal bittere Wahrheiten und internste Geheimnisse abfeuernd, gern mit Ekel und Horror angereichert und nie gefeit gegen überraschende Wendungen. Während man so nach und nach zu wissen glaubt, auf welches Ziel der Plot hinauslaufen könnte, und sich auf der Spannungskurve gemütlich eingerichtet hat, wirft uns die Autorin ordentlich aus dem Gleichgewicht. Ist es gerade schon schlimm genug, so geht es immer noch schlimmer.
Dieses Buch habe ich in die Liste meiner 20 Lieblingsbücher im Winter 2021-22 aufgenommen.