Rezension zu »Schweig!« von Judith Merchant

Schweig!

von


Nach dem letztjährigen Fiasko will Esther ihre Schwester nicht noch einmal zum Weihnachtsfest einladen. Aber sie vor dem Fest aufsuchen muss sie wohl. Wegen eines Schneesturms unausweichlich beisammen, nehmen die beiden einander hemmungslos in die Zange, bis die Fetzen fliegen und alle Geheimnisse auf dem Tisch sind.
Psychothriller · Teil der Serie »Weihnachtliches« · Kiepenheuer & Witsch · · 352 S. · ISBN 9783462001334
Sprache: de · Herkunft: de

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Vergiss Weihnachten, liebste Schwester

Rezension vom 15.11.2021 · noch unbewertet · noch unkommentiert

Kann das wichtigste Familienfest schlechthin, bei dem besinn­liches Feiern, fröhliche Gemein­samkeit, gelebtes Harmonie­streben und Freude über Schenken und Beschenkt­werden im Mittel­punkt stehen, Hinter­grund eines bitteren Psycho­thrillers sein? Der deutschen Autorin Judith Merchant (1976 in Bonn geboren) ist diese disparate Mixtur gut gelungen. Mit spitzer Feder, einem spru­delnden Quell von Ideen und Freude am unerwar­teten Haken­schlagen führt sie ihre Leser geschickt und unterhalt­sam durch eine Geschichte, die eine Vielzahl weihnacht­licher Themen ganz realitäts­nah durch­spielt, aber keinen Zweifel am Ausgang lässt: »Dass dieses Weih­nachten nicht alle überleben werden«.

Wer hat nicht seine privaten Erfahrungen gemacht mit der Komplexi­tät eines Festes, auf das sich unverein­bare Erwar­tungen bündeln wie auf wenige andere? Alle hoffen auf ein harmoni­sches Zusammen­sein all der Chole­riker, Esote­riker, Kleriker, Low-Carb- und Paleo-Diätiker, Pragma­tiker, Punker, Roman­tiker und Techniker der Familie, und so gehen dem Unmög­lichen stressige Wochen der Vorberei­tungen voraus, in denen die unter­schwelli­gen Beziehungs­probleme heran­reifen, bis sie ausge­rechnet am Tag des Jubilie­rens kulmi­nieren.

Judith Merchants Plot schweift nicht so weit aus, sondern konzen­triert sich auf eine Handvoll Figuren, darunter die beiden Erzähle­rinnen Esther und Sue. Die Schwes­tern mittleren Alters waren einander nie sonder­lich zugetan, aber inzwi­schen ist ihre Beziehung irrepa­rabel zerrüttet. Die attrak­tive Esther lebt mit Ehemann Martin, zwei Kindern und einem Kater in einer Stadt­wohnung. Sue, die jüngere und klügere, ist kinderlos, geschie­den, hat ihren Job bei einer Werbe­agentur geschmis­sen, und ihr seeli­scher Zustand ist seit Längerem ange­griffen. Esther hält sie für »halb verrückt, so zugäng­lich wie ein Kaktus«. Umgekehrt kann Sue das perfek­tionis­tische Wesen ihrer Schwester kaum ertragen – »das ganze belang­lose Zeug«, wie sie Alltag und Familie im Griff hat, die endlosen Tiraden einer von sich über­zeugten Besser­wisserin. Am besten hält man still, bis der ganze »fröhlich-bunte Alltags­schlamm« über einem ausge­kippt ist.

Nun steht Weihnachten an, und die Erfahrungen aus dem letzten Jahr, als Sue zusammen­brach, sind nicht vergessen. Soll man die kleine »Schnecke«, wie Sue seit Kinder­tagen genannt wurde, wieder in den Familien­kreis einbe­ziehen? Esther zögert, und auch Martin ist skeptisch. Aber dann drückt Esther die Verant­wortung, der Schutzbe­dürftigen zur Seite zu stehen, und gerade zur Weihnachts­zeit darf doch niemand in seiner Einsam­keit vergessen werden.

So macht sich Esther am Tag vor Heiligabend, als eigent­lich ein Berg an Vor­bereitun­gen ansteht, kurz ent­schlossen auf den Weg zu Sue – keines­wegs, um bei Kerzen­schein ein­trächtig Weihnachts­lieder zu singen, sondern bloß um zu kontrol­lieren, ob man sie zum Fest in ihrem über­dimen­sionier­ten Haus mitten im Wald alleine lassen kann. Tochter Ella hat liebevoll ein Buch einge­packt, Martin schnell einen Wein aus dem Keller geholt. Weil Schnee­fall einsetzt, braucht Esther für die hundert Kilometer länger als vom Navi veran­schlagt. Die Schatten der dunklen Tannen auf den Waldwegen werden länger, die Sicht schlech­ter, das Mobil­funk­netz schwindet.

Inzwischen muss Martin die Einkäufe zu Hause eigen­ständig erledigen – ein Problem für einen, der wahrlich kein Hausmann ist, wie ihn sich eine moderne Frau erträumt, sondern eher »ein Wasch­lappen«. In dieser Ehe steht nicht alles zum Besten. Mit den Jahren hat Martin gelernt, jede Regung seiner Frau zu erkennen, und er weiß, was ihn erwartet, je nachdem, ob sie ihr Straf-, Verach­tungs- oder Mitleids­gesicht aufsetzt. In seinem Innern toben wilde Gefühle und lebens­gefähr­liche Gedanken, aber die Existenz seiner beiden Kinder hält alles im Zaum. Nur bietet Jonas, der pubertie­rende Sohn, mit dauer­schlech­ter Laune und provo­kanten Sprüchen gerade wenig Anlass für unge­trübte Vater­freuden.

Indem Esther den im Dunkeln liegenden puristischen Architek­tentraum erreicht, beginnt das kammer­spiel­artige Zwei­personen­stück, der eigent­liche Psycho­thriller. Erst mit einiger Verzöge­rung öffnet sich die Tür der Villa. Das verlot­terte Äußere der kleinen Schwester (teure, schmud­delige, wahllos überge­streifte Klamotten) lässt auf einen subopti­malen seeli­schen Zustand schließen, und das Messer mit langer Klinge in ihrer Hand lässt Schlimmes befürch­ten.

Gebannt verfolgen wir auf der kleinen Bühne die Gespräche zwischen zwei Schwes­tern, die ein Schnee­sturm nun so un­ausweich­lich nah anein­ander fesselt, wie sie sich seit ihrer Kindheit nicht mehr gekommen sind. Sue ist abweisend, als hüte sie Geheim­nisse. Über ober­flächlich-nichts­sagende Dialoge ent­wickeln sich, von Provoka­tionen angeheizt, brisante Schlach­ten, die Wahr­heiten hervor­locken, im gleichen Moment wieder in Frage gestellt, als Lüge abge­schmet­tert werden. Das verbale Gemetzel aus wider­streiten­den Perspek­tiven – wem sollen wir Leser da Glauben schenken? – pulveri­siert Vergan­genes, reißt jedes Deck­mäntel­chen vorgeb­licher Ge­schwister­liebe hinweg (etwa dass Sue beschützt werden müsse, im schlimms­ten Fall vor sich selber). Eine Feind­schaft, über Jahre vertuscht, durch­litten, unter­drückt, bricht sich in Iggeleien, Eifer­süchte­leien, Hass, Manipula­tionen, Erpres­sungs- und Macht­spielen Bahn – und eskaliert.

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So entwickelt die Autorin ein überzeugendes Psycho­gramm zweier unglei­cher Geschwis­ter und einer kriseln­den Ehe. Wie ein Räderwerk greifen die Worte inein­ander – mal Liebe und Verständ­nis säuselnd, mal bittere Wahr­heiten und internste Geheim­nisse abfeuernd, gern mit Ekel und Horror ange­reichert und nie gefeit gegen über­raschen­de Wendungen. Während man so nach und nach zu wissen glaubt, auf welches Ziel der Plot hinaus­laufen könnte, und sich auf der Spannungs­kurve gemütlich einge­richtet hat, wirft uns die Autorin ordent­lich aus dem Gleich­gewicht. Ist es gerade schon schlimm genug, so geht es immer noch schlimmer.

Dieses Buch habe ich in die Liste meiner 20 Lieblingsbücher im Winter 2021-22 aufgenommen.


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