Du solltest bleiben
Für Juno, die Ich-Erzählerin, sollte es die letzte Geburtstagsfeier im kleinen Haus mit Garten und Kirschbaum werden. Sie geht gerade auf das Gymnasium, und so eine Gartenparty, wie Mutter sie für Vater vorbereitet, hat es für sie nie gegeben. Sie kann sich kaum an fröhliche Zeiten in ihrer Kindheit erinnern; nur wenig hallt noch das Lachen nach, als Vater Mutter auf der Schaukel anschubste, die am Kirschbaum hing, und sie herzhaft küsste. Nur einmal sind sie gemeinsam in Urlaub gefahren, nach Frankreich ans Meer. Als Geschäftsmann ist Vater oft auf Reisen, und immer bringt er etwas mit: für Mutter Cidre und Blumen, besonders gern Hortensien, Nippes für Juno, und für sich selber Kaffeemühlen, die er auf Trödelmärkten aufspürt.
In Junos Familie ist alles irgendwie anders als bei anderen. Mutter ist abweisend, streng, immer skeptisch, prüfend und ermahnend. Vater wirkt oft so abwesend, er klagt über Kopfschmerzen, spielt mit einem Gameboy. Hierher mag sie ihre Freundin Lena nicht mitbringen.
Aber warum ist das alles so? Wie gern würde Lena mit ihrer Mutter sprechen, sie würde so gerne erfahren, wie es war, als sie noch nicht auf der Welt war, und warum sie kein Geschwisterchen hat. Doch fragen traut sie sich nicht, Mutter würde sowieso nichts erzählen.
Als Juno volljährig ist, erhält sie einen anonymen Brief aus Frankreich, dabei das Polaroidfoto eines weißen Fischerhauses mit Fensterläden, rotem Dach und einem Apfelbaum im Garten. Es befinde sich am Meer in der Bretagne, im Ort Coulard, stehe schon lange leer, und Juno könne es doch verkaufen, renovieren, vermieten ... Juno verbindet nichts mit Frankreich, auch die Sprache beherrscht sie nicht. Was hat dieser Brief zu bedeuten? Als sie ihn Mutter zeigt, erfährt sie nichts, wie immer. Aber Mutter überreicht ihr einen Schlüsselbund – wo hat der all die Jahre gelegen? – und sagt dazu nur zwei Worte: "Gute Reise."
Juno macht sich auf den Weg – 1400 km bis Coulard. Das Häuschen dort sieht schon etwas anders aus als auf dem Bild, aber dies muss es sein – seltsam nur: Offensichtlich wohnt hier jemand. Junos Schlüssel passt tatsächlich, und ein Rundgang durchs Haus bestätigt ihren Eindruck: Musik schallt aus einem Transistorradio, überquellende Aschenbecher, Wäscheberge, Schuhe, im Bad eine Zahnbürste, der Kühlschrank ist voll. Als Juno sich ein Baguette mit Käse zubereitet, tritt ein Mädchen durch die Tür. Sie waren einander schon in der Bar du Matin getroffen, wo die junge Dame namens Julie kellnert. Warum wohnt sie in Junos Haus, und warum trägt sie ein goldenes Medaillon, genau wie Mutter eins trug?
Fragen, ein kurzes Telefonat nach Hause – nach zwei Sätzen legt Juno auf; sie wird bei Mutter auf die übliche "Amnesie" stoßen, sie wird eisern schweigen.
Juno wird sich sehr langsam und behutsam voran tasten auf ihrem Weg in die Geheimnisse der Vergangenheit. Wie jeder Leser sich schon angesichts des Titels "Sommertöchter" denken kann, wird sie erfahren, was es mit Julie und ihrer eigenen Familie auf sich hat. Am Ende wird sie sich gern an Julies Worte erinnern: "Du solltest bleiben." Und wer weiß, vielleicht fährt sie im nächsten Frühjahr wieder nach Coulard ...
Leuchtend gelb strahlt auf dem Cover eine Magnolia-grandiflora-Blüte neben dem heiteren Titel "Sommertöchter", doch perlen Dutzende Tautropfen auf dem Umschlag. Oder sind es Tränen? In der Tat stürzt uns Lisa-Maria Seydlitz in ihrer Erzählung in ein Wechselbad der Gefühle, wobei die lichten Momente die Tristesse nur wenig erhellen können.
In kurzen Textabschnitten pendeln wir permanent und ohne chronologische Ordnung zwischen Junos deutschem Heimatort und dem kleinen Urlaubsort in Frankreich. Der Kontrast ist kein bloß geographischer. In der Welt ihrer Kindheit versteht die Ich-Erzählerin wenig, wundert sich über vieles; Mutter und Vater bleiben namenlos. Erst als Juno im sommerlichen Coulard eine Freundin – und mehr – hinzugewinnt, sich zu einem jungen Mann hingezogen fühlt, Geheimnisse aufdeckt, erhalten alle handelnden Personen Namen und offene Identitäten.
In diesem Kontrast erscheint Mutter härter, als sie in Wirklichkeit ist. Treu steht sie ihrem Mann zur Seite, auch als der sich immer stärker verändert. Sie sorgt sich um alles, geht arbeiten, hofft auf Besserung. Letzten Endes kann sie ihre familiäre Situation nur schweigend ertragen, und sie glaubt, diese Mauer sei auch ein Schutz für Juno. Wie stark jedoch die Glut unter der kontrollierten Oberfläche der Selbstverleugnung brodelt, verraten die für Juno unverständlichen, unmotivierten Ausbrüche. Warum wirft Mutter vor Wut das Telefon auf den Boden? Warum zerreißt sie Postkarten, haut mit dem Auto ab, um erst an einer Leitplanke endlich zur Besinnung zu kommen? Nach und nach erschließt sich dem Leser vieles; Juno hingegen, die durchgehend im Präsens erzählt, kann die Zusammenhänge nicht so leicht erkennen.
Am Ende hat Mutter alles aus ihrer Vergangenheit weggegeben, entsorgt, vernichtet. Juno bleiben nur ein Foto und ihre Erinnerungen an bessere Tage mit ihrem geliebten Vater. Während Mutter in ihrer Buchhandlung arbeitete, kümmerte er sich um seine Tochter, besuchte mit ihr Freibad und Wildgehege, brachte ihr Tennisspielen bei.
Lisa-Maria Seydlitz' Debütroman ist ein sprachlicher Genuss und voller Emotionen, denen man sich nicht entziehen kann: ein brillanter Glitzerstein im Sommersand.