Rezension zu »Glorreiche Ketzereien« von Lisa McInerney

Glorreiche Ketzereien

von


Wie ein Gegenbild zu sämtlichen Klischees irischer Tourismuswerbung schildert die Autorin ein deprimierendes Stadtmilieu der Hoffnungslosigkeit, der Gewalt und des Verbrechens. Aber wie sie erzählt, das ist ein Erlebnis!
Belletristik · Liebeskind · · 448 S. · ISBN 9783954380916
Sprache: de · Herkunft: gb

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Der Hölle näher als dem Himmel

Rezension vom 13.10.2018 · noch unbewertet · noch unkommentiert

Als Sweary Lady betrieb Lisa McInerney ein paar Jahre lang einen Blog namens Arse End Of Ireland, was in etwa das bedeutet, was man auch ohne Englisch­kenntnisse vermutet. Was die 1981 geborene Irin unter der despek­tierlichen Überschrift notierte, kann man sich ebenfalls unschwer denken (leider nicht mehr nach­schlagen): Sicher zeichnete sie deftige Szenen aus ihrem Land. Ihr Talent fiel auf, der Landsmann Kevin Barry (»Dunkle Stadt Bohane« [› Rezension]) bestärkte sie in ihrer Ent­schlossen­heit, Schrift­stellerin zu werden, und tatsächlich reüssierte sie 2015 mit einem Roman: »The Glorious Heresies« Lisa McInerney: »The Glorious Heresies« bei Amazon. Darin schlugen sich die Geläufig­keits­übungen des Bloggens nieder – in der Vielfalt seiner Themen, der ungezwun­genen Lockerheit des frischen Stils, dem Spiel mit mehreren Genres –, so dass der Erstling gleich den Baileys Women’s Prize for Fiction und den Desmond Elliott Prize erhielt. Werner Löcher-Lawrence hat ihn jetzt ins Deutsche übersetzt.

»Glorreiche Ketzereien« ist ein durch und durch irischer Roman – wenn man sich an dem Mosaik orientiert, das Film und Literatur der letzten Jahrzehnte zusammen­gefügt haben. Dominante Faktoren des irischen Alltags sind demnach der konser­vative Katholi­zismus und die allmächtige Kirche, Bigotterie und Sentimen­talität, Verrohung und Gewalt­tätig­keit, Gering­schät­zung der Frauen (missbraucht, unehelich geschwän­gert, verachtet, verprügelt und verlassen), erbärm­liche Lebens­bedingun­gen und Chancen­losig­keit, fehlender Respekt vor dem Gesetz und ein rebelli­scher Geist, Anfällig­keit für Alkohol und Drogen. Von all dem sind McInerneys Figuren geprägt: Prosti­tuierte, Schläger, Säufer, Zuhälter, Drogen­dealer und andere Krimi­nelle bilden ein verwahr­lostes Milieu von kaum zu unter­bieten­der Tristesse. Angesiedelt ist es in Cork, der Hafenstadt im Südwesten Irlands.

Die Handlungsführung suggeriert Perspektivlosigkeit, denn die Verhält­nisse bestehen im Kern schon seit Langem so, und Schicksals­muster wiederholen sich. So verlief der soziale Absturz der jungen Maureen in den 1960er Jahren nicht anders als der der jungen Georgie fünfzig Jahre später: Maureen wurde unehelich geschwän­gert, als Sünderin geächtet, musste ihr Baby weggeben, zog nach London, wo niemand von ihrer Schande wusste, schlug sich einsam und riskant durch, verhärtete.

Was in der Realität schier zum Verzweifeln bringen muss, ist auch in seiner fiktionalen Verarbei­tung schwer hinzunehmen. Nicht nur die Handlungs­weisen, sondern auch der obszöne Sprach­jargon und die abstoßenden Sex­prakti­ken, die unver­krampft, ungeschönt und detailreich beschrieben werden, machen die Lektüre zum Hindernis­lauf. Was dann doch weiter­treibt und tatsächlich für ein außer­gewöhn­liches Leseer­lebnis sorgt, ist McInerneys souveränes Erzählen, das den schweren Tobak durch Leichtig­keit, ironische Distan­zierung, prägnante Pointen, Humor und Poesie genießbar macht.

Mit einem folgenschweren Einbruch bei der unlängst nach Cork zurück­gekehr­ten Maureen nimmt die Handlung ihren Lauf. Die rabiate Sechzig­jährige bemerkt, wie ein Kleinganove in ihr Haus einsteigt. Mit dem nächst­besten Objekt zieht sie ihm eins über den Schädel. Ihn zu töten lag ihr fern, dennoch ruht der Mann nun auf ihrem Küchenboden hinge­streckt in seinem Blut. Sein Weg dorthin, glaubt Maureen, war vorge­zeichnet, er hätte »sein natürliches Verfalls­datum« nie erreicht. Mit dem unbe­absich­tigten Tötungsakt fällt der erste Dominostein – er wird viele weitere stürzen, und die Schaden sind groß.

Da Maureen es nicht so hat mit Aufräumen und Putzen, beauftragt sie ihren Sohn Jimmy mit Leichen­entsor­gung und Tatort­reini­gung. Der hat die gesamte kriminelle Unterwelt des Viertels unter Kontrolle und für derlei Drecks­arbeit seine Leute. Tony Cusack, 37, sein Kumpel aus Londoner Tagen, soll den Job erledigen. Allerdings ist der mit jeglicher Aufgabe restlos überfordert, inklusive der des Allein­erziehers seiner sechs Kinder. Das Elend seines permanenten Versagens, das er im Alkohol zu ersäufen sich bemüht, nährt seinen Hass auf alles und jeden, und den lässt er vor allem an seinem ältesten Sohn Ryan aus.

Mit diesem geprügelten Hund und Sündenbock kommt eine Zentralfigur ins Spiel, deren Coming of Age ein Kernmotiv des Romans ist. Ryan, 15, ist ein guter Schüler, ein hoch­talentier­ter Klavier­spieler (leider verscher­belt sein Vater das Instrument an Jimmy Phelan, der ein Status­symbol nötig hat), und er hat eine Freundin aus gutem Hause, mit der er von einer gemeinsamen Familie träumt. All dies nützt ihm nichts. Denn an ihm klebt auch der Ruf, er sei ein »kleiner Dreckskerl«, ein missratener Sohn, der seinen Vater in Wahnsinn und Sucht treibt. (Dass die Dinge andersherum liegen, könnten Lehrer und Sozial­arbeiter an seinen Hämatomen ablesen, doch sie ignorieren sie.) Tatsächlich ist der Junge ein gewiefter Drogen­dealer und wird nicht ohne Grund zu neun Monaten Jugendknast verurteilt.

Der als nächster involvierte Dominostein heißt Georgie. Unter dem Einfluss ihres Freundes Robbie O’Donovan verkaufte sie schon als Fünf­zehnjäh­rige ihren Körper und finanzierte damit ihre Drogen (die sie von Ryan bezog). Nachdem Robbie überra­schend von der Bildfläche verschwand, konnte sie sich von der Prostitu­tion lösen. Bei einer christ­lichen Sekte findet sie Geborgen­heit und Nächsten­liebe, muss sich aber keusch kleiden und ausge­rechnet in ihrem eigenen Viertel Haustür­mission betreiben. Dabei erfährt sie zufällig etwas über ihren lange verschol­lenen Freund …

Dieses aus unterschiedlichen Perspektiven erzählte Geflecht aus diversen Figuren und Handlungs­fäden, die einen Zeitraum von etwa fünf Jahren umspannen, hängt alles irgendwie mit allem zusammen – Teufels­kreise, aus denen sich keine Auswege eröffnen wollen. Ausbruchs­versuche verpuffen bestenfalls mit einem Knall oder kollabieren zum Schaden der Verzwei­felten. Maureen fackelt in innerer Auflehnung gegen die Allmacht der katholi­schen Kirche und ihrer Priester eine kleine Kirche ab. Georgie kehrt der christ­lichen Gemein­schaft nach zwei Jahren enttäuscht den Rücken, nachdem sie niemand in ihrem Kampf um ihr Baby unter­stützte. Was blieb ihr, als wieder anschaffen zu gehen, wenn sie Geld verdienen und ihr Kind jemals wiedersehen wollte? Die Verhält­nisse ändern zu wollen erscheint so unsinnig wie »gegen den Himmel zu Felde ziehen und Gottes Abdankung verlangen«.

Aus dem kleinen Ryan ist nach der Haftzeit ein Großer geworden. Trotz seiner Anlagen und entgegen seinen guten Vorsätzen ist er ein »Arschloch« geworden: ein Krimineller, ein untreuer Partner seiner großen Liebe. Jimmy, der einst allmächtige »König des Viertels«, kann Ryan nicht mehr beein­drucken.

Wenngleich die Autorin ihre Leser an die Grenzen des guten Geschmacks führt und ihre Figuren durch ein deprimie­rendes, instinkt­getrie­benes, hilfloses Leben voller Sehnsucht, aber ohne Hoffnung stolpern lässt, ist ihre Milieu­studie aus der irischen Unter­schicht doch absolut empfehlens­wert. Von Lisa McInerney werden wir noch mehr hören, denn sie hat insgesamt drei Cork-Romane geplant. 2018 erschien der zweite (»The Blood Miracles«, umgehend mit dem Encore Award geehrt), und eine TV-Serie soll folgen.


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