Welches Recht?
Erst viele Jahre später wird Staatsanwalt Antone Bazil Coutts II. die beunruhigende Geschichte aufschreiben, die sich im Sommer 1988 in einem Reservat in North Dakota ereignete und sein Leben veränderte.
Antone, ein selbstsicherer, wissbegieriger, aufmerksamer und kluger Junge, hat eine glückliche Kindheit als spätgeborenes, umsorgtes Einzelkind. Mit sechs beschließt er, nur noch »Joe« genannt zu werden. Sein Vater, Antone Bazil Coutts I., ist Richter mit vielen Diplomen hinter seinem Schreibtisch, zugelassen bis hinauf zum U.S. Supreme Court. Mutter Geraldine verwaltet die alten Register der Chippewa, die einhundertfünfzig Jahre zurückreichen. Die gesamte Coutts-Sippe – mit zahlreichen Geschwistern der Eltern und Großeltern – gehört diesem indigenen Volksstamm an. Großvater Mooshum ist Joes Medium zu seinen Wurzeln. Der uralte zahnlose Mann, der sein Alter mit 112 angibt, dessen schlohweiß glänzende Haare seit Jahrzehnten verfilzen, dessen Gehör ebenso scharf ist wie sein Verstand und der noch immer den jungen Mädchen nachschaut, beeindruckt den Jungen mit seinem Geheimwissen über Clans und Geister.
Angus, Cappy und Zack sind Joes beste Freunde. Auf ihren Fahrrädern kurven sie durch das Reservat. Am See oder auf dem Friedhof rauchen und trinken sie heimlich, besprechen ihre familiären Nöte, frotzeln über sexuelle Eigenheiten und Bedürfnisse und sind begierig auf alles Neue und Verborgene. Aus Elektroschrott basteln sie eine Antenne, um dem Fernseher, der im Haus von Angus' Tante Star herumsteht, Leben einzuhauchen. In dem »Low-budget-Alptraum« von einer Immobilie, mit verstopften Abflüssen, aber ohne Treppe, hausen neben Angus und seinen Brüdern die Kinder von Tante Stars Freund, ihre schwangeren Schwestern und saufenden Cousins. Hier lassen sich die Jungs keine Folge von »Star Trek – The next Generation« entgehen. Dann werden sie eins mit den Klingonen, fühlen sich ganz cool und lernen, wie man mit scharfen Bräuten umgeht: »Jetzt üb mal Zurückhaltung, Alter.«
All das verliert Joe eines Sonntags mit einem Schlag. Jemand ruft an, Mutter fährt in die Stadt, um eine Akte aus dem Stammesbüro zu holen, und als sie am Abend wie versteinert, blutverschmiert und nach Benzin riechend zurückkehrt, ist sie für immer vernichtet. Sie wurde vergewaltigt und brutal mit Fäusten traktiert.
Joe ist in Aufruhr, seine Welt bricht um. Hat er bislang in vollen Zügen eine berauschende jugendliche Freiheit genossen und sich schlichtweg geweigert, erwachsen zu werden, muss er sich jetzt, da jemand seine »Davor-Mutter« zerstört hat, mit dem Leiden im Leben der Erwachsenen auseinandersetzen. Gleichzeitig muss er wahrnehmen, dass die Vergangenheit seiner unterdrückten, vertriebenen und misshandelten Vorfahren auf ihm lastet, deren stolzes Kulturgut missachtet, der Lächerlichkeit preisgegeben, liquidiert wird.
Während Geraldine sich in ihr verdunkeltes Zimmer zurückzieht, in ihr Bett verkriecht, kaum mehr spricht oder Nahrung zu sich nimmt, zerbröselt auch Joes Bild des Vaters. Er ist weder hehrer Richter über Mörder noch weiser Verhandlungsführer in juristischen Grundsatzfragen um Staatsverträge und Territorialauseinandersetzungen, wie Joe immer gemutmaßt hatte. In seinen kleinen »Zuständigkeitsbereich« gehörten nur die lächerlichsten Delikte im Reservat: Mal klaute einer einen Hotdog, mal ein paar Unterlegscheiben für 15 Cent ... Kein Wunder, dass er nicht, wie Joe es von ihm erwartet und ohne Zögern selbst tut, das Heft in die Hand nimmt, der Polizei Beine macht, damit der Täter gefunden und bestraft wird. Joe ist zutiefst enttäuscht und unzufrieden.
Joe und seine Kumpels nehmen eigene Ermittlungen auf, und schnell gerät der neue Priester in ihr Visier, gut aussehend wie ein Star aus Actionfilmen. Joe traut sich zu, er könne »Pokerface« ganz professionell nach seinem Alibi vom Tag des Verbrechens ausquetschen. Als sie ihm auflauern, erwischen sie ihn dabei, wie er sich ein »Alien«-Video reinzieht. Doch ruckzuck hat Father Travis durchschaut, was die »armseligen Rotznasen« im Sinn haben, und wäscht ihnen mit unerhörten Schimpfwörtern (»Schmalspurlutscher«) den Kopf. Die »geweihte Killermaschine« erweist sich als kerniger Mann, ein Ex-Marine, der »einem fast den Katholizismus schmackhaft machen« könnte.
Louise Erdrichs Roman »Das Haus des Windes« beginnt mit einer Szene, die symbolisch vorausdeutet, was diese und die folgenden Geschehnisse bei Joe bewirken. Vater und Sohn arbeiten am Fundament ihres alten Hauses, ein zweigeschossiger Bungalow aus den 1940ern. Kaum sichtbare Samen von Ulmen, Ahorn und Esche haben einen Weg durch die Schindelverkleidung auf die Wand darunter gefunden und ihre winzigen Wurzeln im Beton festgekrallt. Daraus haben sich inzwischen Setzlinge entwickelt, die in ihren Schlitzen und Spalten, so unscheinbar sie wirken mögen, das Fundament sprengen. Bazil und Joe ziehen die Pflänzchen mühselig heraus, richten dabei mit ihren Werkzeugen jedoch womöglich weitere Schäden an.
Die Grausamkeit der Tat, die zu wenig entschiedene Handlungsweise des Vaters und der Behörden, die Erfahrung der eigenen Fehlbarkeit und Ohnmacht zermürben Joe. Für seine weitere Verunsicherung sorgt die komplizierte juristische Situation des Falles, der Sonderrechte des Reservats, des Bundesstaates, des nationalen Rechtssystems berührt und dazu noch unter Moralbegriffen des Stammes und der Religion betrachtet werden kann. Denn Joes Mutter wurde nahe einem heidnischen Symbol, dem »Rundhaus«, angegriffen, wo auf Grund seiner Position und Funktion unterschiedliche Gesetze gelten, die von verschiedenen Autoritäten interpretiert werden. Daher wird Geraldine von einem State Trooper, einem Beamten aus dem Nachbarort und einem Ermittler der Stammespolizei verhört.
In ihren »Nachbemerkungen« beleuchtet die Autorin den Konflikt im Lichte der amerikanischen Rechtsprechung, die die Souveränität der Stämme in ihren Reservaten regelt. Erst mit der Unterzeichnung des Tribal Law and Order Act von 2010 durch Präsident Obama können Stammesgerichte auch härtere Strafen verhängen und den Gesetzen damit bessere Geltung in den Reservaten verschaffen. Bis dahin konnten Übergriffe nicht-indigener Männer gegen indigene Frauen auf Stammesland strafrechtlich kaum adäquat verfolgt werden.
»Das Haus des Windes« ist ein spannender Thriller um Vergewaltigung und einen Mord, deren Aufklärung sich kaum weniger verheerend auswirkt als die Verbrechen selber. Den Kontext bilden Familiendramen, Liebesgeschichten, offene Rechnungen, schwelende Zwietracht zwischen missgünstigen Weißen und den »Wilden aus den Wäldern« mit ihrer als minderwertig diffamierten Religion und Kultur. All dies konzentriert sich in einem jugendlichen Protagonisten, dessen heile Teenager-Welt auseinanderzubrechen droht und der sich in der Komplexität von »Gerechtigkeit«, die er erzwingen will, verheddert. Großvater Mooshums ominöses Gemurmel über einen bösen Geist Wiindigoo, der sich in die Seele eines Menschen einschleicht, verleitet ihn dazu, selbst einem solchen – dem Schänder seiner Mutter – nachzustellen; das mag alten Stammesgesetzen Genüge tun, verletzt jedoch andere. Als Erwachsener wird er zu seiner Tat als Schritt auf dem Weg zu »idealer Gerechtigkeit« stehen. Wie sein Vater es ihm vorgelebt hat, wird er als Jurist mithelfen, Stück für Stück »ein Fundament für unsere Souveränität« zu bauen.
Louise Edrichs Roman »The round house« wurde mit dem National Book Award ausgezeichnet. Gesine Schröder hat ihn ins Deutsche übersetzt.