Das Reich der Justiz, ein fremdes Land
Ludwig Lahers Roman "Verfahren" beschäftigt sich mit der österreichischen Asylpraxis.
Jelena, eine junge Kosovo-Serbin, hat in ihrer Heimat unendliches Leid erfahren. Ihre Familie starb, nachdem man ihr das Haus über dem Kopf angezündet hatte. Sie selber wurde Opfer vier junger Albaner, die sie vergewaltigten, demütigten und quälten. Sie wollte nicht mehr weiterleben, schluckte in ihrer Verzweiflung WC-Reiniger und Medikamente. Mit schwersten physischen und psychischen Verletzungen wurde sie in einer geschlossenen Psychiatrie behandelt. Die dort tätige Ärztin machte ihr Mut, nach Österreich zu fliehen und dort Asyl zu beantragen; dort würde sie in Sicherheit leben, vielleicht über ihr Trauma hinwegkommen und gesunden können.
Mit letzter Kraft schafft es Jelena, die Grenze zu überwinden. Man nimmt sie auf: Zunächst ist sie eine Gefangene in Schubhaft, dann folgen endlose "Verfahren", bis man sie schließlich zynischerweise als "Prinzessin" ansieht, die sich "zu allem Überfluss einbildet, partout nicht in Serbien leben zu können" (S. 156). Ihre Geschichte bildet den roten Handlungsfaden, der immer wieder unterbrochen wird. So beginnt und endet der Roman mit einer nicht genehmigten Demo gegen den Vortrag der österreichischen Innenministerin zur Verschärfung des Fremdenrechts (von den Aktivisten "Fremdenunrecht" genannt).
Das zweite Kapitel "Weibliches Organ" beginnt mit einem kurzen Auszug aus einem offiziellen Dokument (weitere folgen, auch Protokollschnipsel). Darin wird dem "AW" (Asylbewerber) zur Kenntnis gebracht, dass er sich wegen des Auftretens von Vogelgrippe jeglichen Kontakts mit Geflügel enthalten möge. An Hand dieser Beispiele entlarvt der Autor die entwürdigende Amtssprache, die beispielsweise alle "AW" zu Männern erklärt, indem sie keine weiblichen Wortvarianten vorsieht; die die bedauerlichen "ASt" (Antragsteller) darüber hinaus mit schwer verdaulichen abstrakten Nominalstil- und tief geschachtelten Satzkonstrukten konfrontiert, die jeder Nicht-Jurist zweimal lesen muss, um sie zu verstehen. So bleibt auch der jungen Jelena keine andere Wahl, als sich vertrauensvoll einem Dolmetscher auszuliefern. Da der aber auch weder Muttersprachler noch Volljurist ist, kann man sich vorstellen, dass es wie beim Spiel "Stille Post" endet und das Ausmaß des Missverständnisses beständig zunimmt. Am Ende des un-sinnigen "Verfahrens" aber entscheiden all diese unverstandenen Wörter zusammen mit dem Radebrechen des "AW" und des Dolmetschers über das weitere Lebensglück, wenn der diensthabende "OW" (Organwalter) effizient seines Amtes waltet.
Der Autor gibt einem Richter des Asylgerichtshofs die Möglichkeit, sich selbst darzustellen. Seit zehn Jahren ist er dabei. Er hat ein Gespür für die Geschichten, die man ihm erzählt, ob sie asylrelevant sind oder nicht. Und recht kann man es sowieso niemandem machen. Für die einen ist man zu "lax", für die anderen zu "gnadenlos". "Und wenn es Sie interessiert, kann ich Ihnen ein paar Beispiele geben ...", schlägt er vor: Ein eitler Pfau, der selbstgefällig über menschliche Schicksale entscheidet.
"Verfahren" ist eine Mischung aus Roman und Sachbuch. Dafür hat Laher gründlich recherchiert. Und er stellt sich entschieden an die Seite des Asylbewerbers. Er prangert Missstände, Fehler und Willkür der hehren letzten Instanz an, die sich gottgleich als jüngstes Gericht gibt. Diese einseitig anklagende Parteinahme, so kann man argumentieren, provoziert Widerspruch und stört insofern eher in einer differenzierenden öffentlichen Diskussion der ernsten Thematik – aber sie rüttelt auch auf, verstört den Leser, erinnert jenseits der uns allen bekannten Zuwanderer- und Flüchtlingsstatistiken daran, dass es bei diesem Thema eben nicht um Prozent oder Tausende geht, sondern um Individuen mit jeweils 1 Leben.
"Verfahren" lässt sich nicht leicht lesen. Die Sprache ist steif, spröde, sachlich, distanziert; sie imitiert oder zitiert Protokolle, Dokumente, Fachjargon. Den Gesamtzusammenhang erfasst man allerdings schnell, und Jelenas Schicksal lässt niemanden kalt ...
Das Buch verdient Aufmerksamkeit. Zwar haben die Massenmedien dieses Thema abonniert und viele von uns damit überfüttert. Doch was Leser reizen kann und sollte, ist die literarische und sprachliche Aufbereitung als Roman – und die Nähe, die nur dadurch geschaffen werden konnte, dass eine Frau, deren bisheriges Leben noch schlimmer verlaufen war als das der beschriebenen Jelena, sich dem Autor öffnete.