Rezension zu »Der Schattenkönig« von Maaza Mengiste

Der Schattenkönig

von


Die packende Geschichte tapferer Kämpferinnen im grausamen Abessinienkrieg
Belletristik · dtv · · 576 S. · ISBN 9783423282925
Sprache: de · Herkunft: us

Klicken Sie auf die folgenden Links, um sich bei Amazon über die Produkte zu informieren. Erst wenn Sie dort etwas kaufen, erhalte ich – ohne Mehrkosten für Sie! – eine kleine Provision. Danke für Ihre Unterstützung! Mehr dazu hier.
Gebundene Ausgabe E-Book

Den unbekannten Heldinnen

Rezension vom 20.01.2022 · 2 x als hilfreich bewertet · noch unkommentiert

Seit 1930 führte Haile Selassie den Titel »Kaiser von Äthiopien« und dazu noch Neben­titel und Bei­namen wie »Neguse Negest« (»König der Könige«), »Löwe von Juda«, »Auser­wählter Gottes«, »Vertei­diger des Glaubens«. Er selbst sah sich als 225. Nach­folger des Königs Salomon, und noch heute verehrt die Rastafari-Glaubens­richtung ihn als wiederge­kehrten Messias. An Selbst­bewusst­sein und Stolz kann es dem Mann nicht gefehlt haben, und es verwun­dert nicht, dass er seine Macht­stellung als abso­luter Herrscher über vier Jahr­zehnte eisern festhielt, auch wenn er gelegent­lich zu signali­sieren beliebte, für Moder­nisierun­gen seines Staates offen zu sein. Dank seiner heraus­gehobe­nen Rolle auf dem afrikani­schen Kontinent und inter­natio­nalen Aktivi­täten war er im Ausland geschätzt. Ange­sichts seiner Unein­sichtig­keit und der Verschlech­terung der Wirtschafts­lage schlugen mit den unruhi­gen Siebziger­jahren auch Haile Selassie Wellen der Unzu­frieden­heit aus seinem Volk entgegen, bis ihn schließ­lich 1974 ein Militär­putsch zur Abdan­kung zwang. Ein Jahr später war er tot.

Allerdings war er schon einmal für ein paar Jahre schnöde aus seinem hohen Amt vertrie­ben worden, und in dieser Phase spielt der Roman »The Shadow King« Maaza Mengiste: »The Shadow King« bei Amazon von Maaza Mengiste, in deutscher Über­setzung von Brigitte Jakobeit und Patricia Klobu­siczky. Benito Mussolini, »il Duce«, war 1935 unange­kündigt in Äthiopien einge­fallen (»Abes­sinien­krieg«), worauf­hin der »Vertei­diger des Glaubens« nach Groß­britan­nien umzog. Dort lebte der »Auser­wählte Gottes« nicht schlecht im sicheren Exil im Kurstädt­chen Bath, wo er sich in seinem Palast (mit Grammo­phon) gerne in Verdis Oper »Aida« versenkte. Ohne solche Details auch nur zu ahnen, nahmen ihm seine Lands­leute die Flucht übel, denn sie mussten in der Folge Entsetz­liches erleiden. Das italieni­sche Angriffs­heer war in jeder Hinsicht überlegen und ging mit unge­kannter Bruta­lität ans Werk. Man massa­krierte Zivilis­ten, setzte erstmals chemische Kampf­mittel ein, bombar­dierte Dörfer und Rot-Kreuz-Lazarette, und zehn Mal mehr Einhei­mische (etwa 700.000) als Invasoren verloren das Leben. Bis heute gilt der Abes­sinien­krieg (neben dem Algerien­krieg) als blutigste militäri­sche Aus­einander­setzung auf afrikani­schem Boden.

Auf der breiten Bühne dieser historischen Vorgänge legt die Autorin ihre erschüt­ternde, komplexe Handlung an. Deren (frei erfundene) Schlüssel­figur ist ein armer Bauer, dessen einzig auffäl­liges Merkmal seine Ähnlich­keit mit dem fernen »Neguse Negest« ist. Unter Vorfüh­rung dieses »Nichts« von einem Menschen (so die Über­setzung seines Namens »Minim«) wird nun die Nachricht insze­niert, der »Löwe von Juda« sei in sein Reich zurück­gekehrt, um dessen Verteidi­gung gegen die Feinde anzu­führen. Die Neuigkeit verbrei­tet sich wie der Wind übers Land. Der Anblick des majestäti­schen Doppel­gängers in edler Kleidung und hoch zu Ross löst eine Welle der patrioti­schen Begeis­terung aus und motiviert das Volk, das längst seinen Glauben verloren hatte, ermutigt die Gueril­leros mit ihren primi­tiven Waffen zu kühnen Taten und beseelt alle Kämpfer, mit dem Kaiser und für ihn alles zu geben, was ihre ausge­zehrten Leiber hergeben können.

Freilich müssen wir über gut dreihundert Seiten Geduld aufbrin­gen, bis der Titel­held tatsäch­lich in Aktion tritt. Denn die Autorin widmet ihre Aufmerk­samkeit vielen weiteren Figuren, insbe­sondere aber den bislang unbeach­teten Äthiopie­rinnen, die die militäri­schen Aktionen der Männer unter­stützten. Nur wenige histori­sche Dokumente belegen, dass Frauen sogar als bewaff­nete Solda­tinnen ihr Leben riskier­ten (Maaza Mengistes Urgroß­mutter soll eine davon gewesen sein), und mit ihrem Buch will die Autorin allen tapferen Kämpfe­rinnen endlich ein gebüh­rendes Denkmal zukommen lassen.

Zwei Frauen stehen im Mittelpunkt. Aster ist eine vornehme junge Adlige von autori­tärem Wesen, die mit dem Offizier Kidane verhei­ratet ist und eifer­süchtig über ihn wacht. Dies hindert ihn freilich nicht, sich mit der Magd Hirut zu vergnügen, über deren Körper er frei zu verfügen sich heraus­nimmt. Das psycho­logisch kompli­zierte Beziehungs­geflecht zwischen Herrin, Ehemann und von beiden unter­drück­ter Dienerin bereitet die Autorin zu Beginn ihres Romans sorg­fältig auf, denn später werden aus den Gegne­rinnen in der Hierar­chie des Haushalts, aus Rivalin­nen um die Gunst des Hausherrn und konkurrie­renden Objekten seiner Begierde uner­schrockene und erfolg­reiche Kämpfe­rinnen, jede an ihrer Position – Aster als geachtete Anfüh­rerin an der Spitze mehrerer Frauen (darunter Hirut), die Kidane und seinen Truppen zur Seite stehen. In Zeiten schreck­lichster Erniedri­gungen und Qualen während einer Gefangen­schaft legen beide alle Ressenti­ments ab, verwach­sen zu einer Einheit, stützen einander, um die seelische und körper­liche Pein der anderen irgendwie erträgli­cher zu machen.

Der markanteste ihrer Feinde, ein wahrer Teufel in Menschen­gestalt, ist der italieni­sche Offizier Carlo Fucelli. Er lässt nicht nur Gefangene nehmen, um sie auf barbari­sche Weise umzu­bringen, sondern ergötzt sich am Anblick der Sterben­den. Zu diesem Zweck hat er den Foto­grafen Ettore Navarra engagiert, der die unbe­schreib­liche Angst oder Leere in den Gesich­tern der Todge­weihten abbilden soll. Selbst den Sekunden­bruchteil, in der ein Gefange­ner in den tödlichen Abgrund stürzt, müsste der »Archivar der Obszöni­täten« doch fest­halten und dabei das »güns­tigste Licht« berück­sichtigen können. Während Ettore (ein Jude) den perversen Wünschen seines Auftrag­gebers nachkommt und dessen Gräuel­taten ablichtet, durch­leidet er Gewissens­qualen, denn gleich­zeitig werden seine Eltern in der Heimat in die Todes­lager geschickt.

Maaza Mengistes Roman »Der Schattenkönig« ist unbestritten ein kleines literari­sches Meister­werk. Trotz der inhalt­lichen Komple­xität gerät der rote Faden nicht aus dem Blick, und wenn das Kampfge­schehen mit seinen unglaub­lichen, kaum erträg­lichen Brutali­täten einsetzt, kann man das Buch nicht mehr aus der Hand legen. Die im Präsens gehal­tenen Schilde­rungen sind so sprachge­waltig und detail­liert, dass Mengiste damit aber auch jede Figur mit Charakter und Gefühl gestaltet und zum Leben erweckt. Scheinbar spielend wechselt die Autorin zwischen Sprech­weisen und Stilen und erfasst die unter­schiedlichs­ten Seelen­zustände. So kann sie Kampf­beschrei­bungen mit dem Gesang der Frauen gegen die Übermacht der dröh­nenden Flugzeuge ›musika­lisch unter­legen‹, uns aber auch in »Zwischen­spielen« die Melan­cholie des Kaisers Haile Selassie nahe­bringen.

Als Zuviel des Guten erscheint mir das Pathos, mit dem die 1971 in Addis Abeba geborene Schrift­stellerin die männ­lichen Kämpfer-Arche­typen rühmt und ihre weibli­chen Heldinnen in göttliche Sphären hebt. Aster wird in Liedern besungen, und ein Chor jubelt: »Singt, Töchter, von einer Frau und Tausenden, von jenen Scharen, die dem Wind gleich eilten, um ein Land von giftigen Bestien zu befreien. Singt, Kinder, von jenen, die euch voraus­gingen, von jenen, die den Weg bereite­ten, auf dem ihr zu wärmeren Sonnen schreitet.«


War dieser Artikel hilfreich für Sie?

Ja Nein

Hinweis zum Datenschutz:
Um Verfälschungen durch Mehrfach-Klicks und automatische Webcrawler zu verhindern, wird Ihr Klick nicht sofort berücksichtigt, sondern erst nach Freischaltung. Zu diesem Zweck speichern wir Ihre IP und Ihr Votum unter Beachtung der Vorschriften der europäischen Datenschutzgrundverordnung (DSGVO). Nähere Hinweise finden Sie in unserer Datenschutzerklärung. Indem Sie auf »Ja« oder »Nein« klicken, erklären Sie Ihr Einverständnis mit der Verarbeitung Ihrer Daten.

Klicken Sie auf die folgenden Links, um sich bei Amazon über die Produkte zu informieren. Erst wenn Sie dort etwas kaufen, erhalte ich – ohne Mehrkosten für Sie! – eine kleine Provision. Danke für Ihre Unterstützung! Mehr dazu hier.

»Der Schattenkönig« von Maaza Mengiste
erhalten Sie im örtlichen Buchhandel oder bei Amazon als
Gebundene Ausgabe E-Book


Kommentare

Zu »Der Schattenkönig« von Maaza Mengiste wurde noch kein Kommentar verfasst.

Schreiben Sie hier den ersten Kommentar:
Ihre E-Mail wird hier nicht abgefragt. Bitte tragen Sie hier NICHTS ein.
Ihre Homepage wird hier nicht abgefragt. Bitte tragen Sie hier NICHTS ein.
Hinweis zum Datenschutz:
Um Missbrauch (Spam, Hetze etc.) zu verhindern, speichern wir Ihre IP und Ihre obigen Eingaben, sobald Sie sie absenden. Sie erhalten dann umgehend eine E-Mail mit einem Freischaltlink, mit dem Sie Ihren Kommentar veröffentlichen.
Die Speicherung Ihrer Daten geschieht unter Beachtung der Vorschriften der europäischen Datenschutzgrundverordnung (DSGVO). Nähere Hinweise finden Sie in unserer Datenschutzerklärung. Indem Sie auf »Senden« klicken, erklären Sie Ihr Einverständnis mit der Verarbeitung Ihrer Daten.


Go to Top