Der Schattenkönig
von Maaza Mengiste
Die packende Geschichte tapferer Kämpferinnen im grausamen Abessinienkrieg
Den unbekannten Heldinnen
Seit 1930 führte Haile Selassie den Titel »Kaiser von Äthiopien« und dazu noch Nebentitel und Beinamen wie »Neguse Negest« (»König der Könige«), »Löwe von Juda«, »Auserwählter Gottes«, »Verteidiger des Glaubens«. Er selbst sah sich als 225. Nachfolger des Königs Salomon, und noch heute verehrt die Rastafari-Glaubensrichtung ihn als wiedergekehrten Messias. An Selbstbewusstsein und Stolz kann es dem Mann nicht gefehlt haben, und es verwundert nicht, dass er seine Machtstellung als absoluter Herrscher über vier Jahrzehnte eisern festhielt, auch wenn er gelegentlich zu signalisieren beliebte, für Modernisierungen seines Staates offen zu sein. Dank seiner herausgehobenen Rolle auf dem afrikanischen Kontinent und internationalen Aktivitäten war er im Ausland geschätzt. Angesichts seiner Uneinsichtigkeit und der Verschlechterung der Wirtschaftslage schlugen mit den unruhigen Siebzigerjahren auch Haile Selassie Wellen der Unzufriedenheit aus seinem Volk entgegen, bis ihn schließlich 1974 ein Militärputsch zur Abdankung zwang. Ein Jahr später war er tot.
Allerdings war er schon einmal für ein paar Jahre schnöde aus seinem hohen Amt vertrieben worden, und in dieser Phase spielt der Roman »The Shadow King« von Maaza Mengiste, in deutscher Übersetzung von Brigitte Jakobeit und Patricia Klobusiczky. Benito Mussolini, »il Duce«, war 1935 unangekündigt in Äthiopien eingefallen (»Abessinienkrieg«), woraufhin der »Verteidiger des Glaubens« nach Großbritannien umzog. Dort lebte der »Auserwählte Gottes« nicht schlecht im sicheren Exil im Kurstädtchen Bath, wo er sich in seinem Palast (mit Grammophon) gerne in Verdis Oper »Aida« versenkte. Ohne solche Details auch nur zu ahnen, nahmen ihm seine Landsleute die Flucht übel, denn sie mussten in der Folge Entsetzliches erleiden. Das italienische Angriffsheer war in jeder Hinsicht überlegen und ging mit ungekannter Brutalität ans Werk. Man massakrierte Zivilisten, setzte erstmals chemische Kampfmittel ein, bombardierte Dörfer und Rot-Kreuz-Lazarette, und zehn Mal mehr Einheimische (etwa 700.000) als Invasoren verloren das Leben. Bis heute gilt der Abessinienkrieg (neben dem Algerienkrieg) als blutigste militärische Auseinandersetzung auf afrikanischem Boden.
Auf der breiten Bühne dieser historischen Vorgänge legt die Autorin ihre erschütternde, komplexe Handlung an. Deren (frei erfundene) Schlüsselfigur ist ein armer Bauer, dessen einzig auffälliges Merkmal seine Ähnlichkeit mit dem fernen »Neguse Negest« ist. Unter Vorführung dieses »Nichts« von einem Menschen (so die Übersetzung seines Namens »Minim«) wird nun die Nachricht inszeniert, der »Löwe von Juda« sei in sein Reich zurückgekehrt, um dessen Verteidigung gegen die Feinde anzuführen. Die Neuigkeit verbreitet sich wie der Wind übers Land. Der Anblick des majestätischen Doppelgängers in edler Kleidung und hoch zu Ross löst eine Welle der patriotischen Begeisterung aus und motiviert das Volk, das längst seinen Glauben verloren hatte, ermutigt die Guerilleros mit ihren primitiven Waffen zu kühnen Taten und beseelt alle Kämpfer, mit dem Kaiser und für ihn alles zu geben, was ihre ausgezehrten Leiber hergeben können.
Freilich müssen wir über gut dreihundert Seiten Geduld aufbringen, bis der Titelheld tatsächlich in Aktion tritt. Denn die Autorin widmet ihre Aufmerksamkeit vielen weiteren Figuren, insbesondere aber den bislang unbeachteten Äthiopierinnen, die die militärischen Aktionen der Männer unterstützten. Nur wenige historische Dokumente belegen, dass Frauen sogar als bewaffnete Soldatinnen ihr Leben riskierten (Maaza Mengistes Urgroßmutter soll eine davon gewesen sein), und mit ihrem Buch will die Autorin allen tapferen Kämpferinnen endlich ein gebührendes Denkmal zukommen lassen.
Zwei Frauen stehen im Mittelpunkt. Aster ist eine vornehme junge Adlige von autoritärem Wesen, die mit dem Offizier Kidane verheiratet ist und eifersüchtig über ihn wacht. Dies hindert ihn freilich nicht, sich mit der Magd Hirut zu vergnügen, über deren Körper er frei zu verfügen sich herausnimmt. Das psychologisch komplizierte Beziehungsgeflecht zwischen Herrin, Ehemann und von beiden unterdrückter Dienerin bereitet die Autorin zu Beginn ihres Romans sorgfältig auf, denn später werden aus den Gegnerinnen in der Hierarchie des Haushalts, aus Rivalinnen um die Gunst des Hausherrn und konkurrierenden Objekten seiner Begierde unerschrockene und erfolgreiche Kämpferinnen, jede an ihrer Position – Aster als geachtete Anführerin an der Spitze mehrerer Frauen (darunter Hirut), die Kidane und seinen Truppen zur Seite stehen. In Zeiten schrecklichster Erniedrigungen und Qualen während einer Gefangenschaft legen beide alle Ressentiments ab, verwachsen zu einer Einheit, stützen einander, um die seelische und körperliche Pein der anderen irgendwie erträglicher zu machen.
Der markanteste ihrer Feinde, ein wahrer Teufel in Menschengestalt, ist der italienische Offizier Carlo Fucelli. Er lässt nicht nur Gefangene nehmen, um sie auf barbarische Weise umzubringen, sondern ergötzt sich am Anblick der Sterbenden. Zu diesem Zweck hat er den Fotografen Ettore Navarra engagiert, der die unbeschreibliche Angst oder Leere in den Gesichtern der Todgeweihten abbilden soll. Selbst den Sekundenbruchteil, in der ein Gefangener in den tödlichen Abgrund stürzt, müsste der »Archivar der Obszönitäten« doch festhalten und dabei das »günstigste Licht« berücksichtigen können. Während Ettore (ein Jude) den perversen Wünschen seines Auftraggebers nachkommt und dessen Gräueltaten ablichtet, durchleidet er Gewissensqualen, denn gleichzeitig werden seine Eltern in der Heimat in die Todeslager geschickt.
Maaza Mengistes Roman »Der Schattenkönig« ist unbestritten ein kleines literarisches Meisterwerk. Trotz der inhaltlichen Komplexität gerät der rote Faden nicht aus dem Blick, und wenn das Kampfgeschehen mit seinen unglaublichen, kaum erträglichen Brutalitäten einsetzt, kann man das Buch nicht mehr aus der Hand legen. Die im Präsens gehaltenen Schilderungen sind so sprachgewaltig und detailliert, dass Mengiste damit aber auch jede Figur mit Charakter und Gefühl gestaltet und zum Leben erweckt. Scheinbar spielend wechselt die Autorin zwischen Sprechweisen und Stilen und erfasst die unterschiedlichsten Seelenzustände. So kann sie Kampfbeschreibungen mit dem Gesang der Frauen gegen die Übermacht der dröhnenden Flugzeuge ›musikalisch unterlegen‹, uns aber auch in »Zwischenspielen« die Melancholie des Kaisers Haile Selassie nahebringen.
Als Zuviel des Guten erscheint mir das Pathos, mit dem die 1971 in Addis Abeba geborene Schriftstellerin die männlichen Kämpfer-Archetypen rühmt und ihre weiblichen Heldinnen in göttliche Sphären hebt. Aster wird in Liedern besungen, und ein Chor jubelt: »Singt, Töchter, von einer Frau und Tausenden, von jenen Scharen, die dem Wind gleich eilten, um ein Land von giftigen Bestien zu befreien. Singt, Kinder, von jenen, die euch vorausgingen, von jenen, die den Weg bereiteten, auf dem ihr zu wärmeren Sonnen schreitet.«