Kalter Krieg im hohen Norden
Sein Universitätsabschluss in Geschichte hat Tobias Meijtens bisher noch nicht viel gebracht. Jetzt arbeitet er als freier Journalist für das Wochenmagazin »7Plus« und hofft auf eine Festanstellung. Die gelegentlichen Auftragsartikel reichen kaum für einen anständigen Lebensunterhalt. Also schreibt er zusätzlich Kolumnen für Spezialzeitschriften wie »Jagd und Hund« oder »Schöner leben in den Schären«, und er jobbt als Taxifahrer hier in Stockholm. Es ist das Jahr 1990.
Dass das Schicksal einen echten Knüller für ihn bereithält, ahnt er nicht im entferntesten, als er in seinem Taxi eine Straße mit großartiger Aussicht befährt. Hinter der Brüstung geht es fünfzehn Meter steil hinab. Und genau hier ist gerade jemand von der Felskante in die Tiefe gestürzt. Die Polizei hat die Stelle abgesichert, der Rettungswagen hat schon seine Türen geschlossen.
Meijtens wittert eine Schlagzeile. Er stellt sich dem Kriminalbeamten (Inspektor Tilas) vor und befragt ihn zu seinen ersten Eindrücken und Erkenntnissen. Der Tote hatte einen albanischen Pass. Fremdverschulden liegt nicht vor, also will Tilas den Fall abschließen und keine weiteren Nachforschungen anstellen. Im Übrigen ist er sicher, dass der Tote nicht einmal die Druckerschwärze einer Nachricht bei »7Plus« wert ist …
Während das amtliche Personal abrückt, bleibt Meijtens allein zurück. Von hinten schleicht sich ein Mann an und sucht offenbar einen Gesprächspartner. Er trägt sein Hab und Gut in Plastiktüten, seine Kleidung ist abgerissen, er verbreitet einen intensiven Schweißgeruch. Mit der Polizei hat er sicher schlechte Erfahrungen, mit ihnen würde er niemals sprechen, doch zu Meijtens fasst er Zutrauen. Viel mehr als ein rätselhaftes »Ich habe den Schatten gesehen, der zum Rand gegangen ist.« erfährt Meijtens nicht, aber er steckt dem Obdachlosen seine Visitenkarte zu, falls ihm noch mehr einfällt.
Was tun mit diesem Stoff? Meijtens könnte daraus eine Reportage mit sozialem Pathos basteln: verzweifelter Flüchtling aus den zusammenbrechenden Ostblockstaaten sucht sein Glück im verheißungsvollen Westen – scheitert an der grausamen, kalten, kapitalistischen Realität – vorprogrammiertes tragisches Ende … Der Chefradakteur ist zwar nicht gerade begeistert, räumt ihm aber ein paar Tage Recherchezeit ein.
Die nutzt Meijtens intensiv. Er sucht Polizei, Gerichtsmedizin und seinen alten Doktorvater am Historischen Institut auf, dann Personen, die mit dem Verstorbenen in Verbindung standen: Verwandte, seine Studentenverbindung, Genossen und Freunde. Um einen alten Parteifunktionär zu treffen, reist er sogar nach Belgrad.
Der Pass des Toten lautet auf den Namen Aaron Bektashi, geboren in Tirana. Doch es stellt sich heraus, dass der Mann in Wirklichkeit Erik Lindman hieß und Schwede war. In den Sechziger Jahren studierte er Volkswissenschaften und Staatswesen in Uppsala und absolvierte eine Ausbildung im Außenministerium. Familie und Freunde waren fassungslos, als er seine erfolgversprechende Karriere im Diplomatischen Dienst plötzlich beendete. Ein Jahr später verschwand er spurlos.
Da er in einer kommunistischen Verbindung aktiv gewesen war, erhärteten sich bald die Vermutungen, der KGB habe ihn als Spion angeworben und, als er nicht mehr dienlich war, gen Albanien abgeschoben.
Nach und nach kommt Meijtens einem gigantischen Lügengeflecht auf die Spur. Im Hintergrund sitzt noch heute jemand am Drücker, der kein Interesse daran hat aufzufliegen und der »Tristan« genannt wird. Der Arm »des größten schwedischen Spions aller Zeiten« reicht bis in die Redaktion von »7Plus«, und Meijtens ist ihm gefährlich nahe gekommen.
Der schwedische Autor Magnus Montelius entwirft in seinem Kriminalroman »Mannen från Albanien«, übersetzt von Paul Berf, eine durch und durch glaubwürdige Spionagegeschichte. Die Tarnung eines Topagenten muss undurchschaubar sein, und dieser Prämisse folgend, erfüllt die kompliziert verschlüsselte Legende Erik Lindmans, der Opfer einer systematischen staatsdienlichen Intrige wird, alle Erwartungen des Genres.
Wir folgen beim Lesen dicht auf Tobias Meijtens’ Fersen und erfahren all die winzigen Details ebenso kleinschrittig, wie der Protagonist sie bei seinen Recherchen in Archiven findet oder in Gesprächen mit Zeitzeugen sammelt, die ihn wiederum an andere weiterverweisen. Dieses erzähltechnische Verfahren ist hier äußerst adäquat, konfrontiert es uns doch hautnah mit der Schwierigkeit der Aufgabe, die Meijtens zu bewältigen hat, der Komplexität des Falls – und mit der Raffinesse, derer sich die Geheimdienste bedienen, um sich voreinander zu schützen und sich gleichzeitig zu überlisten.
Den historischen Hintergrund für »Ein Freund aus alten Tagen« liefert die europäische Politik, als das kommunistische System nach und nach kollabiert, die Mauer fällt und die Staaten des Ostens sich zögernd öffnen. Magnus Montelius hat in diese epochemachenden Entwicklungen einen fiktionalen Plot eingeflochten, der spannend und anspruchsvoll ist und ohne Klischees und schmerzvolle Szenen in dunklen Verliesen alter Zeiten auskommt.