Das Recht im Kraal
Warum er? Mitten in der Nacht setzt der Chef Emmanuel Cooper auf einen Mordfall an. Der Tatort ist Roselet, ein abgelegenes Kaff in den ländlichen Ausläufern der Drakensberge, und somit wäre eigentlich der dortige Polizeichef Desmond Bagley zuständig.
Vertraut der Colonel seinem Untergebenen den Fall an, um dessen Karriere zu befördern? Tatsächlich protegiert er ihn schon seit Langem, und das ist ungewöhnlich im Südafrika des Jahres 1953, als nichts so sehr über den Wert eines Menschen entschied wie die Hautfarbe. Van Niekerks: Colonel, Holländer, weiß. Bagley: Constable, Schotte, weiß. Cooper: Detective Sergeant, Vater Engländer, Mutter Afrikaanerin, also »gemischtrassig«. Als »weißhäutiges Kaffernkind« wuchs Emmanuel in den Slums von Jo'burg auf, wurde von einer Farmerfamilie (»stramm gottesfürchtige Afrikaaner«) adoptiert, zog in den Krieg nach Europa, kehrte mit Orden dekoriert zurück und wurde mit einer Anstellung als Kriminalermittler geehrt. Aber sein Dienstausweis stellt ihn keineswegs gleich mit seinen Kollegen weißer Hautfarbe. Ihm überlässt man die unspektakulären Fälle, er darf den »Müll sammeln«.
Oder soll er genau deshalb nach Roselet fahren? In der Einöde wurde schließlich ›nur‹ ein schwarzes Mädchen umgebracht – so eine Lappalie aufzuklären verschafft niemandem Lob und Anerkennung. Auch danach würde Cooper »Latrinenputzer« der Kriminalpolizei von Durban bleiben.
Noch niedriger in Rang und Wertschätzung steht Coopers Assistent von der »Native Detective Branch«, Detective Constable Samuel Shabalala, ein Zulu. Der ist seinem Vorgesetzten treu ergeben und eine wertvolle Hilfe. Nachdem ein Zulu-Hirtenjunge die beiden Polizisten auf Trampelpfaden hinauf in die Berge zum Tatort geführt hat, schlägt dem »Gemischtrassigen« nichts als Feindseligkeit entgegen. Missverständnisse, Aggression und Verschlossenheit lassen ihn nicht vorankommen. Shabalala hingegen ist mit den Traditionen, Ritualen und Verhaltensweisen der Einheimischen vertraut, kann vermitteln und taktieren. Schon wegen seiner elegant-gepflegten Erscheinung zieht der schwarze Zwei-Meter-Mann die Aufmerksamkeit aller auf sich, löst aber auch diffuse Gefühle von Misstrauen bis Faszination aus.
Bei ihrer Ankunft bietet sich ein anrührendes Bild. Die Tote heißt Amahle, »die Schöne«, und ist ein hübsches Zulumädchen von nur siebzehn Jahren. Man hat sie liebevoll im Freien aufgebahrt. Unter den schattenspendenden Ästen einer Felsenfeige ruht ihr mit roten und gelben Wildblumenblüten bestreuter Körper auf einem Bett aus Gras und Moos. Ein Kreis wehklagender Mütter des Clans umschließt die Trauerstätte. Ihre Hände und Körper haben sie mit Erde beschmiert. Am Wegesrand halten drei mit Knüppeln und Jagdspeeren bewaffnete Männer in Kuhfellen Wache.
Die Spuren am Boden rund um den Tatort sind weitgehend zerstört. Cooper bemerkt einen »erbsengroßen, blauen Fleck« an der Innenseite des linken Schenkels und eine winzige Einstichstelle auf Höhe der Taille – zu wenig, um Aufschlüsse über die Tat zu verraten. Für präzisere Untersuchungen müsste man den Leichnam zum Bezirksarzt bringen. Doch für die trauernden Frauen ist es schon schwer zu ertragen, dass fremde Hände den Körper auch nur anrühren, geschweige denn ihn wegschaffen.
Coopers Ermittlungen bekommen von allen Seiten Gegenwind. Die Ärztin im weißen Farmer-Städtchen Roselet weigert sich, Hand an die schwarze Leiche zu legen. Revierkommandant Bagley, obwohl zuständig, bremst sein Engagement mit fadenscheinigen Ausreden. Steht er unter der Fuchtel von Ian Reed, dem reichsten Farmer der Gegend, in dessen Familie Amahle als »tadellose Haushälterin« gearbeitet hat? Von jemandem wie Ian Reed ist keinerlei Bereitschaft zu erwarten, mit einem Zulu und einem »Gemischtrassigen« zu kooperieren. Amahles Vater, der Clan-Chief, hatte seinerseits ganz andere Absichten: Er wollte seine Tochter bald verheiraten. Das würde ihn um zwanzig Kühe reicher machen.
Malla Nunn, in Swasiland geboren und in den Siebzigerjahren nach Australien emigriert, versetzt uns in die Hochzeit der Apartheidspolitik zurück. Die regierende Nasionale Party hält Schwarze für »von Natur aus minderbemittelt« und faul und begründet damit ein über Jahrzehnte stabilisiertes Unterdrückungssystem. Die durch ihre Rasse definierten Bevölkerungsgruppen leben nicht nur räumlich strikt voneinander getrennt, sondern auch qualitativ. Während den herrschenden und besitzenden Weißen alle Freiheiten offenstehen, wird das Dasein der schwarzen Bevölkerung streng reglementiert. Grobe und subtile Repressalien verbittern ihren Alltag, strenge Strafgesetze sanktionieren jeden Regelverstoß, offene Diskriminierung untergräbt ihr Selbstwertgefühl. Viele Beispiele illustrieren, wie sich all dies täglich und überall manifestiert: Selbst in Ausübung seiner offiziellen Tätigkeit als Polizist darf Samuel Shabalala keine Waffe tragen und kein Auto fahren. Wie alle »Nichtweißen« muss er spezielle Wege, Verkehrsmittel, Geschäfte und Lokale benutzen. Seine Meinung darf er nur kundtun, wenn er gefragt wird.
Auch unter der weißen Bevölkerung ist weiß nicht gleich weiß. Die Beziehungen zwischen Gruppen und Individuen werden zunächst einmal von rassischen und nationalistischen Gesichtspunkten geprägt, wie sie sich aus der kolonialen Vergangenheit entwickelt haben. In Roselet verweigert man einem Dr. Zweigman ein Hotelzimmer – der Mann ist zwar ein respektabler Mediziner, aber eben auch ein deutscher Jude und damit ein »hergelaufener Ausländer« .
Trotz dieser Bezüge ist Malla Nunns Krimi kein politisches Buch, keine Abrechnung mit dem alten System. Das liefert nur die Rahmenbedingungen. Als Nährboden für die Handlung fungiert vielmehr die Kultur der Zulu. Lange vor ihrer Vermarktung als Touristenattraktion führen diese Menschen ein selbstbewusstes, unabhängiges Leben weitab der bedrohlichen Moderne. Sie denken nicht daran, sich ihre angestammten Gewohnheiten, Überzeugungen, Freiheiten und Rechte nehmen zu lassen. »Niemand, nicht mal ein weißer Mann, schreibt mir vor, was ich in meinem eigenen Kraal tun und lassen soll«, schmettert der unbeugsame Große Chief die anrückenden Polizisten ab. Bald werden Coopers Ermittlungen zum Tanz auf schwankendem Hochseil, und nur Shabalalas Wissen und geschickte Diplomatie verschaffen ihm ein Sicherheitsnetz.
Die Autorin verschließt nicht die Augen davor, dass Diskriminierung nicht nur von den Weißen ausgeht. Die Zulu leben zwar naturverbunden, doch in archaischen Strukturen mit einer eigenen Art von Herrenmenschentum. Ihre Clans sind streng hierarchisch organisiert und untereinander tödlich verfeindet. In jedem Kraal hat der jeweilige Große Chief die absolute Befehlsgewalt. Seine Frauen machen sich das Leben gegenseitig zur Hölle, um eine Hackordnung durchzusetzen. Im Übrigen sind Frauen rechtlos, den Launen ihrer Väter und Männer ausgeliefert und werden wie Waren verschachert. Wie alle Naturvölker glauben die Zulu an Götter und Geister, von deren Ursprüngen und Macht ihre Mythen erzählen und die für weiteren Druck sorgen. Zauberei und Tieropfer sollen die Götter gnädig stimmen, Frevler müssen nach ihrem Willen bestraft werden. Auch Amanthe unterstellt man ein übles Vergehen und beerdigt sie deshalb »aufrecht sitzend«. Mit diesem furchtbaren Fluch wird ihre Seele niemals Ruhe finden.
»Tal des Schweigens« beginnt in ruhig beschreibendem Tempo, die Spannung steigert sich gemächlich im Verlauf der geradlinigen Handlungsentwicklung. Den Schilderungen der Naturschönheiten und unaufdringlichen Ausführungen zu Kultur und Gesellschaft widmet die Autorin viel Raum. Das erleichtert es uns Lesern auf der anderen Seite des Globus, zu begreifen, was die Handlungsträger bewegt. Die schöne Häuptlingstochter Amahle litt unter den Zwängen des Kraals, ohne ihnen jedoch entfliehen zu können. Detective Cooper ist nirgendwo zu Hause. Die ruhmreiche Militärzeit ist vorüber, in seiner Behörde ist er kaum mehr als geduldet, die weißen Farmer schätzen ihn ebenso gering wie die stolzen Zulu. Für ihn zählt hingegen der Mensch. Indem er seinen Partner respektvoll behandelt und einsetzt, erhält Shabalala die Gelegenheit, den entscheidenden Coup zur Überführung des Täters zu initiieren. Zwar wird die clevere Lösung der »Kaffernaffäre« später keine Staubflocke in Schwingungen versetzen, aber immerhin wird General Hyde mit dem Ergebnis zufrieden sein. Über die beiden erfolgreichen Detectives wird man sagen, dass sie »in Ordnung« seien – und die bescheidene Belobigung ist offenbar schon das Höchste an Karrieresprung, worauf zwei wie sie hoffen dürfen.
Dieser eindringliche Kriminalroman, für den Edgar Award nominiert, erschien unter zwei Originaltiteln: »Blessed are the Dead« (USA/GB, Taschenbuch) und »Silent Valley« (Australien, Kindle-Ausgabe). Es ist bereits der dritte Teil einer Serie um Detective Sergeant Emmanuel Cooper. Die Übersetzung stammt von Else Laudan und Boris Szelinski.