Alle Spielräume ausgeschöpft
Kate Atkinson genießt ihre Allmacht als Autorin. In ihrem Roman »Life after Life« (2013, dt. »Die Unvollendete«, 2013) [› Rezension] schenkte sie ihrer Protagonistin Ursula Todd großmütig eine ganze Serie verschiedener Leben. »Glorreiche Zeiten«, ihr neuestes Opus, setzt inhaltlich die volatile Familienchronik fort (im Mittelpunkt: Ursulas Lieblingsbruder Teddy und seine Tochter Viola), schaltet andererseits erzählerisch einen Gang zurück, indem sich die beiden ganz konventionell mit nur einen Lebensweg bescheiden müssen.
Teddy spielte bereits im Fiktionskarussell der »Unvollendeten« mehrere Rollen. Im II. Weltkrieg wurde der Bomberpilot über Deutschland abgeschossen. Über seinen Verbleib gab es keine verlässlichen Nachrichten. Jetzt erfahren wir, dass er überlebt hat. Nach der Kriegsgefangenschaft in Deutschland kehrt er unversehrt nach Großbritannien zurück und heiratet seine Sandkastenliebe Nancy Shawcross (ungeachtet der Tatsache, dass sie in Ursulas vielen Lebensläufen regelmäßig ermordet worden war).
Erschüttert von unsäglich grausamen Kriegseinsätzen hatte Teddy sich geschworen, dass er, sollte es ein »Danach« geben, ein »stetes, klagloses Leben führen« wolle und versuchen werde, immer »freundlich zu sein«. Zunächst arbeitet er als Lehrer, später veröffentlicht er als »Agrestis« Kolumnen in einem Journal vom schönen Landleben. Der einstige Überbringer tausendfachen Feuertodes nimmt jetzt alles mit pragmatischer, geduldiger, gut gelaunter Gelassenheit hin. Seine persönlichen Meinungen und Gefühle hält er zugunsten eines beschaulichen Lebens zurück.
Damit spendiert ihm seine Schöpferin zwar noch viele Lebensjahre, aber kein Glück. In der Ehe findet Teddy nicht die erhoffte Erfüllung. Ihr einziges Kind, Viola, entwickelt sich, von der Mutter verzogen und verwöhnt, zu einem wahren Satansbraten. Nach Nancys frühem Krebstod kümmert sich Teddy verantwortungsvoll um seine Tochter, ohne sie je für sich gewinnen zu können. Sie hasst alles und jedes, was er ihr in guter Absicht angedeihen lassen möchte, ist undankbar, aggressiv, schlampig und schmuddelig, selbst im Umgang mit Teddys sorgsam gehegten Büchern.
Die »Tyrannin« mit »versteinertem Herzen« ist Teddys Konterpart und Lebensprüfung. Rastlos sucht sie ihr Glück, ohne es zu finden. Als Mutter zweier verwahrloster Kinder erscheint sie mindestens so monströs, wie sie sich als Tochter gebärdet hatte. Nie lernt sie, »wie man liebt«, und niemand, nicht einmal ihre Kinder, liebt sie. Sie bleibt einsam und zutiefst unglücklich. Nichts gibt ihr Halt in ihrem Elend und ihrer kindlichen Sehnsucht nach mütterlicher Wärme. »Ich will meine Mutter«, wimmert sie im gestandenen Alter von sechzig Jahren.
Da ist Viola Romaine längst eine erfolgsverwöhnte, vor allem bei Frauen beliebte Bestsellerautorin. Ihre Romane sind reich an autobiografischen Bezügen, an Botschaften an ihren verhassten Vater. Doch bei ihm finden ihre Werke wenig Anklang. Um literarisch ernster genommen zu werden, fasst sie als nächstes Projekt einen »Kriegsroman« ins Auge. Die Erinnerungen ihres Vaters wären eine gute Grundlage. Doch Teddy geht inzwischen auf die hundert Jahre zu, ein erschöpftes, dahinvegetierendes Wesen. Viola hat ihn in einem preisgünstigen Pflegeheim untergebracht – auch dieser Ort eine Hölle auf Erden.
»Glorreiche Zeiten« – der deutsche Titel klingt erheblich sarkastischer als das Original (»A God in Ruins« , 2014, Übersetzung: Anette Grube) und akzentuiert damit, was der Text zwischen den Zeilen subversiv zu beschwören scheint: die bessere Vergangenheit, als andere, gemeinschaftsorientierte, klarere Werte galten als heute. Viola ist eine radikale Repräsentantin der neuen Zeit, in der Selbstverwirklichung jedermanns Ziel ist. Je egoistischer, je rücksichtsloser sie durchgeboxt wird, desto höher die Kosten für die aus der Bahn gedrängten Rivalen. Nach dem Aufenthalt in einer kauzigen Blumenkinder-Kommune mausert sich Viola als Feministin und Friedensaktivistin. Bei Demonstrationen gegen Cruise Missiles hilft sie den Weltfrieden sichern. Doch während sie sich für »die Zukunft aller Kinder der Welt« engagiert, schiebt sie die lästige Verantwortung für ihre eigenen beiden Kinder Teddy zu. Der liebevolle Großvater übernimmt die Aufgaben, aber nach seinen eigenen Regeln: »kein Wellensittichfutter« mehr für die vegetarisch aufgezogenen Enkel.
Obwohl die Welt Teddys Auffassung nach »ein besserer Ort war, als die Männer ihre Gefühle nicht gezeigt haben«, verklärt Teddy die kriegerische Vergangenheit nicht. Zwar hält er standhaft daran fest, dass die gnadenlose Zermürbungs- und Vergeltungsstrategie des Generals Harris (und damit seine eigenen Einsätze als Pilot eines Halifax-Bombers) rechtmäßig und gerecht war (»Er würde es wieder tun«). Mit Unverständnis nimmt er hin, wie sich Politik und öffentliche Meinung zunehmend distanzieren von den verheerenden Folgen der unmäßigen Bombardements deutscher Städte und ihrer Zivilbevölkerung. Für diese höchst gefährlichen Aktionen haben Teddy und seine Kameraden ihr Leben riskiert, und mehr als die Hälfte haben es verloren. Aber Teddy hat Verständnis für die Fragen und Zweifel.
In dieser umstrittenen Grundsatzfrage bezieht die Erzählerin übrigens keine Stellung. Ihre Schilderungen verhüllen oder beschönigen nichts – im Gegenteil: Sie lässt keine Grausamkeit aus. Aber sie urteilt nicht. Sie tritt hinter ihren Helden Teddy zurück, entzieht ihm nicht den Boden. Erst im Nachwort äußert sich die Autorin freimütig über den Bombenkrieg als eine »Strategie, die mit den besten Vorsätzen begann«, dann eskalierte wie »ein stets geöffneter Schlund, der nie genug bekam«. Ihr Buch sei allerdings »ein Roman, keine Polemik, [...] und demgemäß habe ich es den Figuren und dem Text überlassen, die Zweifel und Ambiguitäten auszusprechen.«
Die erzählte Zeit beginnt mit Teddys Geburt (1914) und endet mit seinem Tod (2012). Sein Lebenslauf wird in epischer Breite entfaltet, alle Familienangehörigen (Eltern, Geschwister, Tochter und Enkel) werden einbezogen. Doch »Teddys Krieg« ist der treibende Motor des Romans. Bei denen, die ihn durchleiden, hinterlässt er lebenslange Spuren, und noch auf die folgenden Generationen wirft er seine Schatten. Kate Atkinson hat in umfassenden Recherchen überraschende Einzelheiten zutage gefördert, bis hin zu technischen Konstruktionsdetails, so dass die Szenen aus der Luft wie auf dem Boden den Leser überzeugen, erschüttern und schockieren. Bisweilen erscheinen ihre Schilderungen wie bitter-sarkastische, grotesk überzeichnete Fiktion und spiegeln doch das tatsächliche Grauen realer Kriegsereignisse wider.
Wurde der Leser in »Die Unvollendete« mit der unentwegten Variation der Handlung verunsichert, so fordert ihn in »Glorreiche Zeiten« das Spiel mit der Zeit. Zwar etablieren wichtige Zeitabschnitte und Episoden eine grobe Kapitelstruktur (Kindheit: Spaziergang mit der Tante; 1944: Teddy schreitet vor seinem letzten Einsatz das Flugfeld ab; nach 1980: Teddys Enkelkinder; 2012: im Pflegeheim ...). Doch die ist oberflächlich und unverbindlich. Denn die Erzählung springt auf furiose Weise zwischen Episoden der Vergangenheit oder der Zukunft, um dann wieder im Gedankenfluss der Ist-Zeit fortzufahren.
Kate Atkinson ist eine reflektierte Autorin. Es ist ihr wichtig, sich hinreichend »auktorialen Spielraum zu lassen«. Romanschreiben erfährt sie als halb bewussten, halb getriebenen Prozess, bei dem Plot und Bildersprache, literarische Traditionen, Referenzen auf Gelesenes und Erlebtes ein Eigenleben entwickeln. Sie glaubt, »dass alle Romane nicht nur Fiktion sind, sondern auch von Fiktion handeln«, und fordert: »Jede Kategorie, die einschränkt, sollte verworfen werden.« Dazu gehört auch die Chronologie.
Atkinson-Romane sorgen für ungewöhnliche, betörende Leseerfahrungen. Auf dem festen Fundament solide recherchierter Fakten füllt die Autorin die Seiten mit reichhaltigen Details, lässt gleichzeitig ihrer Fantasie freien Lauf, schaut im Vorwärtsschreiten immer wieder zurück und wirft gleichzeitig den Blick weit in die Zukunft. Die Vorausverweise bleiben oft geheimnisvoll, bis sie später weitere Informationen nachreicht. Kurz vor dem Ende überwältigt uns geradezu eine unerwartete Kehrtwende.
»Glorreiche Zeiten« ist ein genialer, anspruchsvoller Roman. Kate Atkinson schreibt mit leichter Feder und doch raffiniert, voller Esprit, Ironie und Melancholie. Mit spitzzüngig-kritischem Unterton präsentiert sie ihre Figuren in ihrem Lebensumfeld und die Trends ihrer Zeit mit allen Auswüchsen. Ungeschoren bleibt dabei niemand.
Dieses Buch habe ich in die Liste meiner 20 Lieblingsbücher im Frühjahr 2016 aufgenommen.