Rezension zu »Der Klang der Sehnsucht« von Manisha Jolie Amin

Der Klang der Sehnsucht

von


Belletristik · Insel · · Taschenbuch · 309 S. · ISBN 9783458358213
Sprache: de · Herkunft: au

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Der Geist des Raga

Rezension vom 21.06.2012 · 2 x als hilfreich bewertet · noch unkommentiert

Vom Bettlerjungen zum erfolgreichen Flötenspieler – was sich wie eine amerikanische Erfolgsgeschichte anhört, liest sich ganz anders, wenn so ein sozialer Aufstieg in der Gesellschaft Indiens gelingt. Schon der Titel von Manisha Jolie Amins Debütroman "Der Klang der Sehnsucht" ("Dancing to the Flute", übersetzt von Ursula Gräfe) lenkt den Leser auf eine sinnliche, gefühlsbetonte Ebene. Amins Roman setzt auf Empathie.

"Sehnsucht" – das ist ein bedeutungsschwangerer Begriff aus der deutschen Romantik. Da klingt schmerzvolles Leid mit; Wunsch und Weg sind wichtiger als das (ohnehin unerreichbare) Ziel; aus dem Sehnen erwächst geistige Schönheit. Die Kunstform der Sehnsucht ist die Musik – wortlos, unbegrifflich, über das Gefühl wirkend, mystisch.

Dem Klang des Flötenspiels schreibt auch die Kultur Indiens metaphysische Kräfte zu; es verbindet mit uralten Mythen, mit esoterischen Seelenwanderungen.

Im indischen Hastinapur wird ein etwa zehnjähriger Junge von seinen Eltern ausgesetzt. An nichts kann sich der klapperdürre, ausgemergelte Knabe erinnern, er weiß nicht einmal, wie er heißt. Eine gutbürgerliche Dame, Ganga Ba, liest ihn von der Straße auf, gibt ihm den Namen Kalu und lässt ihm täglich etwas Milch reichen. Im Gegenzug verrichtet er für sie Botengänge, natürlich immer barfuß unterwegs. Eines Tages verletzt er sich schwer; es entwickelt sich eine schmerzhafte, eitrige Entzündung. Doch zu einem Arzt will er nicht, obwohl Ganga Ba die Kosten zu tragen bereit ist: Die meisten sind Trunkenbolde, sie würden ihm den Fuß einfach amputieren. So wird er, da er nicht mehr arbeiten kann, von nun an betteln müssen.

Kalu klettert auf einen Baum, formt aus einem Blatt ein Röhrchen und bläst hinein. Der Mann, der unter dem Baum Schatten und Ruhe sucht, vernimmt den hellen, süßen Ton. Ob der Junge für die Götter spiele, fragt er ihn. Doch dem ist sein hungriger Magen näher als die Götter, und er bittet den Unbekannten um eine kleine Spende.

Diese Schicksalsbegegnung wendet Kalus Leben. Der Fremde ist ein "Vaid", ein Heiler, und gegen ein Versprechen rettet er seinen Fuß. Von der besonderen Gabe des Jungen überzeugt, nimmt er ihn mit in die Berge, wohin sich sein Freund, ein großer Musiker und Guru seines Fachs, nach einem einschneidenden Ereignis zurückgezogen hat. Der will nichts und niemanden sehen – und schon gar nicht einen Straßenbengel, der weder lesen noch schreiben kann. Doch nachdem Kalu dem Meister ein paar Töne auf einer Plastikflöte vorgespielt hat, besiegeln die beiden mit Handschlag ein Probejahr.

Kalu macht nun eine harte Schule durch: Atemübungen, Tonleitern, Sprachen, Benimmregeln sind nur einige der Hürden, die er nehmen muss, bis er auf einer Bambusflöte erstmals ein paar Töne des Alap, der meditativen, langsamen Einleitung eines traditionellen Raga, erlernt. Über die Jahre erobert Kalu nicht nur durch sein Spiel, sondern auch durch sein liebenswertes, einfühlsames Wesen das Herz des distanzierten, sich von der Welt abschließenden Lehrers und Künstlers. In den bittersten Stunden wiegt er den Jungen in seinen Armen – Zärtlichkeiten, die beide kaum im Leben gespürt haben ...

Als ausgebildeter Flötenspieler und reifer Mann zieht Kalu in die Welt hinaus, doch nach Hastinapur kehrt er immer wieder zurück. Hier hat er seine besten Freunde: Bal, den Büffelhirten, der als kleiner Junge von seinen Eltern an einen Bauern verkauft wurde, und Malti, niederste Dienstbotin im Hause Ganga Bas. Ihr Leben besteht nur aus Waschen und Putzen. Ihre bescheidenen Einnahmen schickt sie nach Hause, damit ihr Bruder studieren kann. Sie wird verheiratet und macht dabei eine bessere Partie, als sie sich je erträumt hat. Doch man ahnt frühzeitig, dass sie ein hartes Schicksal treffen wird.

In vielen wechselnden Sequenzen erzählt uns Manisha Jolie Amin vom Leben ihrer Figuren. Das Gefühl der Sehnsucht, das innige Verlangen, eine traurige Vergangenheit zu überwinden, verbindet die Mehrzahl der Protagonisten. Wer vermutet schon, dass die liebenswerte Ganga Ba als kleines Mädchen eigentlich getötet werden sollte, so wie es noch heute in vielen indischen Familien (trotz Strafandrohung) üblich ist?

Amins Blick auf die indische Kastengesellschaft, ihre Lebensweise und Regeln ist erhellend, könnte aber tiefer gehen. Im Mittelpunkt steht jedoch die detaillierte Darstellung der indischen Musiktheorie und -traditionen, die den Mittelteil des Buches ausmacht. Wir lesen über Shiva und erhalten Einblick in die für Europäer unüberschaubare und schwer verständliche Götterwelt. All dies liefert Schlüssel zum Verständnis der vielen mysteriösen, märchenhaften, wundersamen Ereignisse wie etwa diesem: Kalu befindet sich in einer unterirdischen Höhle, einem Tempel. Meditierend und die Raga spielend taucht eine Schlange auf, hinterlässt Spuren und Moschusduft im Sand. Später wälzt Kalu sich darin und findet im Boden vergraben eine Holzflöte. Andere Sequenzen sind dem Handlungsplot schwer zuzuordnen; beispielsweise stürzt sich einer, von priesterlichen Gesängen angelockt, in einen Fluss, bleibt in einem Felsen hängen und wird gerettet.

Ein apartes Strukturkonzept ist die der klassischen Musikform des Raga nachempfundene Dreiteilung des Romans in Alap, Sthayi/Antara und Bol Bandh. (Eine kurze Erläuterung der Bedeutung ist dem jeweiligen Teil vorangestellt.) Ebenso apart, weil musikalisch wirkend, finde ich die vielen unübersetzten Originalwendungen in Gujarati und anderen indischen Sprachen; in einem Glossar werden sie erläutert.

So habe ich den fremdartigen Roman gern gelesen, aber verzaubert hat er mich leider nicht. Einerseits ist zwar Authentizität spürbar, und der Sprachstil verschafft vielfach neue ästhetische Genüsse durch eine Poesie eigener Art. Andererseits empfinde ich Brüche, Gestelztheit, Aufgesetztes. Fehlt es der Autorin womöglich an echtem, warmem Herzblut? Sie hat zwar herkunftsbewusste indische Eltern, wurde aber in Kenia geboren und lebt in Australien, seit die Familie 1974 dorthin emigrierte; in Indien aber hat Manisha Jolie Amin (soweit ich das recherchieren konnte) nie gelebt.


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