Rezension zu »Ernste Männer« von Manu Joseph

Ernste Männer

von


Belletristik · Klett-Cotta · · Gebunden · 357 S. · ISBN 9783608938920
Sprache: de · Herkunft: us

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Ayyan Mani, der Quoten-Dalit inmitten brahmanischer Wissenschaftler

Rezension vom 10.11.2010 · 2 x als hilfreich bewertet · noch unkommentiert

Ayyan Mani, Ehefrau Oja und der zehnjährige Sohn Adi wohnen in einer Einraumwohnung in den Wohnblocks vor Bombay, wie achtzigtausend andere Menschen wie sie. Vor achtzig Jahren hatte man diese Unterkünfte für Obdachlose gebaut, doch denen waren sie zu schäbig. Dann wurden sie als Gefängnis genutzt, und nun sind sie gut genug für die Dalits, die Unberührbaren, die im Kastensystem der Hindus den untersten Rang einnehmen. Unvorstellbar ist für uns Europäer das allmorgendliche Ritual: Schlange stehen im stechenden Chlorgeruch vor den gemeinschaftlichen "Örtlichkeiten", jeder mit seinem Eimer in der Hand.

Wer es eben schafft, sucht modernere Waschräume am Arbeitsplatz auf. Das gelingt auch Ayyan oft, der als Sekretär im Institut für Theorie und Forschung arbeitet. Diese Stelle verdankt er der 15%-Quote, die Dalits den Eintritt in die von Brahmanen, der obersten Gruppe von Kasten, beherrschte Arbeitswelt Indiens öffnet. Seit dreizehn Jahren sitzt er im Vorzimmer des Institutsleiters Arvind Archary und erträgt die "aufgesetzte Weltläufigkeit, den unausrottbaren Chauvinismus" der Forscher. Die diskutieren Fragen wie die, ob es nun "Weltall", "Weltraum" oder "Kosmos" heißt, und verpulvern hemmungslos öffentliche Gelder, um als Ergebnis ihrer Forschungen zu postulieren: "Der Mensch weiß nach wie vor nichts". Wenn Ayyan, von seinem Chef gar nicht erst nicht wahrgenommen, ins "Allerheiligste" tritt, Post ablegt oder Gäste ankündigt, dann beobachtet er, wie der große Geist in tiefen, teuren Gedanken versunken ist (unterm Tisch aber liest er häufig Comics ...).

Vice President Jana Nambodri ist Radioastronom, unheilbar verliebt in seine Kordhosen und in sein fortgeschrittenes Experiment. Er will mit riesigen Teleskopen extraterrestrische Signale empfangen. Dazu benötigt er nur noch die Zustimmung des Verteidigungsministeriums.

Auch Archary hat ein Forschungsprojekt: Mit einem Ballon und sterilisierten Stahlbehältern will er die Luft in 41 Kilometer Höhe einfangen, denn er glaubt, er werde darin unbekannte vollausgebildete Mikroben entdecken.

Nun sind sich Erst- und Zweitchef spinnefeind; jeder ist auf seine Art gegen das Projekt des anderen. So gelingt es Archary, die Mission seines Untergebenen auf heimtückische Weise zu torpedieren. Das Blatt wird sich aber im weiteren Verlauf der Handlung wenden, und Nambodris Stunde wird kommen.

Ayyan, der die Brahmanen hasst, schaut diesem Krieg gern und mit Genugtuung zu. Obendrein nutzt er jede Gelegenheit, ihnen klein, fein und unauffällig Ungemach zu bereiten. Mal leitet er die Post nicht weiter, mal lässt er angemeldetete Gäste bei sich im Vorzimmer warten ... Immer ist er top informiert, was im Institut läuft. Damit das so bleibt, öffnet er die Kurierpost, liest sie erst einmal selber und verschließt sie anschließend wieder fachmännisch, ehe er sie auf Archarys Schreibtisch legt. Außerdem hört er über das nicht aufgelegte Telefon oder ein eingeschleustes Handy Konferenzen mit.

Aber Ayyan möchte mehr. So heckt er ein Spiel aus, in dem sein zehnjähriger Sohn Adi die Hauptrolle spielt: Er lässt ihn intelligente physikalische Fragen auswendig lernen, die er später ganz beiläufig mitten in der Schulstunde in seinen Klassenraum ruft. Zwar ist die Lehrerin ob des genialen Gedankens beeindruckt, aber dennoch stört er den Unterricht. Die Eltern werden zur Schule zitiert, manche Strafarbeit wird Adi aufgebrummt, aber mit Vaters Worten im Ohr – "Mach weiter so!" – verrät er nichts vom gemeinsamen Geheimnis.

Was bisher nur ein Schabernack ist, baut Ayyan immer weiter aus. Er lanciert den Jungen in die Zeitung mit der Nachricht, er sei vom schweizerischen Institut für wissenschaftliche Bildung für ein Stipendium ausgewählt worden. Dann soll er bei einem Intelligenztest mitmachen. Die Krönung wäre freilich der Eignungstest zur Aufnahme am Institut für Theorie und Forschung. Aber Archary winkt ab, Adi sei noch viel zu jung. Wie listig Ayyan schließlich doch noch erreicht, dass Adi teilnehmen wird, ist herrlich zu lesen. Dabei hat man durchweg Angst, dass der Schwindel auffliegen könnte ... Aber das möchten und sollten Sie selber lesend genießen.

Ein phantastischer Roman mit dem liebenswerten, intelligenten Protagonisten Ayyan, der sein Ziel konsequent verfolgt, nicht aufgibt und für einen unerwarteten Schluss sorgt.

An keiner Stelle artikuliert der Autor Manu Joseph bösartige Kritik an dem ungerechten Gesellschaftssystem, das die Menschen ein für allemal danach bewertet, in welche Kaste sie hinein geboren wurden. Dieser Zufall determiniert ihr gesamtes Leben, denn man kann seine Kaste kaum verlassen. Stattdessen klingt liebevolle Ironie durch, wie die offen Benachteiligten sich rächen: In Massen verstopfen sie täglich die Straßen mit jeder Art von Fortbewegungsmitteln oder einfach durch ihre Anwesenheit. Da steckt der Brahmane in seiner glänzendsten Edelkarosse fest, und Mahatma Gandhis Theorie vom passiven Widerstand lässt grüßen.

Iggeliger, als Joseph dies gelungen ist, kann man die Welt der hehren Wissenschaften kaum vorführen. Dort ist man ganz bedeutend, ganz wichtig, aber bei unverstelltem Blick ist alles hohles und teuer bezahltes Nichts. Arvinds Experiment entpuppt sich als Blamage der Extragüte.

Manu Joseph lässt die Geisteswissenschaftler aber auch Menschen sein. So sehnt sich Arvind Archary, während seine Frau auf Reisen ist, nach der attraktiven Chefin der Astrobiologie und Königin des Kellerlabors. Ganz im Geheimen (Das ganze Institut weiß von der Affäre zwischen Chef und "Kellergewächs" ...) kuscheln die zwei in Decken auf hartem Betonboden. Ein herrlicher "Eiertanz".

Für seinen Debütroman "Ernste Männer" wurde Manu Joseph mit dem Hindu Best Fiction Award 2010 ausgezeichnet.


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