Der Holländer
von Mathijs Deen
Drei Männer betreiben Wattwandern als Leistungssport. Als sie ihre Meisterleistung erbringen wollen, stirbt einer von ihnen, und nur einer erreicht das Ziel. Die Suche nach dem wahren Ablauf gestaltet sich kompliziert, denn im Watt verlaufen sich die Grenzen zwischen Realität und Wahn und selbst zwischen Staaten.
Eine tödliche Nachtwanderung
Klaus Smyrna, Peter Lattewitz und Aron Reinhard verbindet ein ungewöhnliches Hobby: Sie sind Extrem-Wattwanderer. Gemeinsam haben sie vom Festland aus schon sämtliche Inseln des Wattenmeers zu Fuß erreicht, darüber zahlreiche Vorträge gehalten und ein Buch veröffentlicht. Doch die Krönung ihrer Karriere steht noch aus: die Durchquerung des Watts zur Insel Borkum.
Wer sich als Landratte schon einmal mit Gummistiefeln auf den weitläufigen, wabbeligen, wurmlöchrigen Untergrund gewagt hat – wie alljährlich Zehntausende Touristen – wird sich wundern, was daran so Besonderes sein mag. Das vermeintlich friedlich ruhende Wattenmeer birgt indes Gefahren, die die gewaltige Macht der Natur vor Augen führen und sich obendrein kaum vorausberechnen lassen. Zwar kennt jeder das Regelmaß des Gezeitenwechsels von Ebbe und Flut, doch im Watt komplizieren eine Menge Faktoren wie Untiefen, Priele, Sinnestäuschungen und Nebel die Abläufe. Durch Jahrhunderte der Beobachtung und die Erfindung einfacher Hilfsmittel (wie Peilstock oder ein hoch aufgespanntes Netz) hat der Mensch gelernt, diese Risiken einzuschätzen und einzugrenzen, aber noch heute hat die Natur das letzte Wort und kann die sorgsamste Planung zunichte machen. Am Ende kann selbst ein Zentimeter mehr oder weniger an Körpergöße über Leben und Tod entscheiden.
Innerhalb einer Tide vom Festland zur Insel Borkum zu laufen ist (in einer um 90 Grad verdrehten Metapher) der »Mount Everest« der Wattwanderer, und der »wollte sich nicht erobern lassen«. Diese exorbitante und aufsehenerregende Tour können sich nur außergewöhnliche, erfahrene Sportler wie die fiktionalen Helden dieses Romans als Lebensziel setzen und sich dann jahrelang darauf vorbereiten. Der Langstreckenschwimmer Klaus Smyrna ist Bademeister in Lübeck, sein Freund Peter Lattewitz Geographielehrer in Aurich, und Aron Reinhard ist der Dritte im Bunde.
An einem Septemberabend 2015 werden bei Greetsiel endlich alle Bedingungen zusammenpassen: »Nipptide«, Niedrigwasser, hoher Luftdruck und Wind aus Osten, der das Wasser in das Naturschutzgebiet der Außenems treibt. Die Wanderung könnte somit um 18 Uhr von dem idyllischen Warfendorf Manslagt aus in Angriff genommen werden. Peter ergreift die Initiative und ruft als ersten Aron an, damit sie die einmalige Chance beim Schopf packen können. Doch der ist gerade mit seiner Frau in Südengland und will lieber bei ihr bleiben. So ziehen die beiden anderen am Abend alleine los.
Viele Stunden später wird Klaus Smyrna tot auf der Sandbank De Hond angeschwemmt. Während ein deutscher Hubschrauber auf der Suche nach den in der Nacht Verschollenen kreist, birgt ein niederländisches Patrouillenboot die Leiche, hält ihren Zustand und die Koordinaten des Fundorts fest und nimmt Kurs auf die Hafeneinfahrt von Delfzijl. Im Ergebnis seiner Untersuchung hält der niederländische Leichenbeschauer Ertrinken als Todesursache für wahrscheinlich, sieht sich aber nicht berechtigt, eine »natürliche Todesart« zu bescheinigen, zumal eine Verletzung am Ohr noch der genaueren Abklärung bedarf.
Derweil hat Peter Lattewitz Kontakt mit der Borkumer Inselpolizei aufgenommen. Sie nimmt den Mann nun am Deich in Empfang, als er als Einziger das gemeinsam gesteckte Ziel erreicht. Als erstes konfrontiert ihn ein Polizeibeamter mit dem Vorwurf, er habe »gesperrtes Gebiet« betreten, was Peter allerdings kaum wahrzunehmen scheint. Er macht einen erschöpften und verwirrten Eindruck, stammelt, dass sein ertrunkener Freund »wie ein Bruder für mich« gewesen sei, und spricht eine anwesende Journalistin als »Helen« an.
Die Ermittlungen nehmen ihren Lauf, und zwar sowohl auf niederländischer als auch auf deutscher Seite. Die vordringlichste Frage scheint die der Zuständigkeit zu sein, denn es entwickelt sich ein Kompetenzgerangel, das eine lange politische Vorgeschichte bis zurück zum Ems-Dollart-Vertrag von 1960 hat. Erst im Jahr 2014 unterzeichneten Außenminister Walter Steinmeier und sein niederländischer Amtskollege Bert Koenders einen Vertrag, der die jahrzehntelangen Grenzstreitigkeiten in der Emsmündung mit einem pragmatischen Kompromiss beenden sollte. Dennoch wird der Fall durch die amtlichen Mühlen gedreht, bis er zu einer veritablen Grenzaffäre gerät und der deutsche Kriminalbeamte Liewe Cupido aus Cuxhaven inoffiziell seine Fühler ausstrecken soll. Unter seinen Mitarbeitern ist der nicht sonderlich gesprächige Mittfünfziger als »Holländer« bekannt, denn sein Vater ist Niederländer, seine Mutter Deutsche. Auf niederländischer Seite bekommt er es mit dem jungen Kollegen Henk van de Wal zu tun, der »höher hinaus« strebt und sich den spektakulären Fall nicht nehmen lassen will. Um sich durchzusetzen, ist ihm jedes Mittel recht
Dabei wirft viel gewichtigere Fragen auf, was während der nächtlichen Wattwanderung eigentlich geschah. Ist es denn überhaupt möglich, dass ein Marathonschwimmer und Bademeister im Watt ertrinkt? Während der »Holländer« eifrig hin und her reist, um sich zusammen mit seinen niederländischen Kollegen an das Puzzle heranzutasten, wird der Hergang in der finsteren Einsamkeit des Wattenmeeres immer unklarer. Die Befragungen von Beteiligten, die nicht selbst dabei waren, können naturgemäß kaum Aufschlüsse bringen, aber auch vom Hauptverdächtigen ist dazu nicht viel Konkretes zu erfahren. Peter Lattewitz wirkt zunehmend wirrer, berichtet von »Wattfieber«, von Wahnvorstellungen, die ihm in den langen Nachtstunden den Verstand geraubt hätten, von quälenden Erinnerungen an Vergangenes. Wie so oft bringen selbstloses Engagement der Ermittler sowie ihr ›Kollege Zufall‹ wertvolle Erkenntnisse aus gänzlich unerwarteten Bereichen.
Der niederländische Autor Mathijs Deen, der 1962 in Hengelo geboren wurde, hat mit »De Hollander« einen ruhig verlaufenden, aber raffinierten Kriminalroman geschrieben (Andreas Ecke hat ihn übersetzt.). Er punktet mit einem geruhsamen Sprachstil und mit netten Charakteren wie dem Pathologen, der als Amateur-Schauspieler gern Shakespeare zitiert, Die Erzählung wird reichlich ergänzt und aufgelockert durch eingeschobene Zeitungsartikel, Radiointerviews, Archivberichte und Mails, die zwar teilweise Bekanntes vertiefen, aber als zusammenfassende Wiederholungen durchaus willkommen sind. Knisternde Spannung zu erzeugen ist nicht das primäre Ziel des Autors, dafür erfährt der Flachlandtiroler viel über die Schönheiten einer bereisenswerten Landschaft mit faszinierender Atmosphäre und solides Insiderwissen über das unterschätzte Wattenmeer. Eine Landkarte auf der Innenseite des Schutzumschlags gibt Orientierung und verdeutlicht die Dimensionen des Schauplatzes.