Angeli per i Bastardi di Pizzofalcone
von Maurizio de Giovanni
Ein begnadeter Automechaniker wird in seiner klinisch sauberen Werkstatt erschlagen aufgefunden. Ein kleines verstörtes Mädchen hat Ohrenschmerzen – oder wird es misshandelt? Die »Bastardi di Pizzofalcone« müssen tief eindringen in das Universum von Neapel – und sind selber eine Truppe schillernder Individuen.
Starke und schwache, robuste und zerbrechliche Wesen
Jahrzehntelang hat Ferdinando Iaccarino als Faktotum in Diensten der vornehmen Familie Alagna di Roccaforte in Posillipo gestanden. Mit Mitte fünfzig erfüllt er sich einen Traum: eine eigene kleine Autowerkstatt, spezialisiert auf edle Klassiker. Durch Fleiß, pedantische Arbeitsweise und Kompetenz (»Faceva tutto da solo, con quelle mani magiche.«) erlangt er rasch höchstes Ansehen bei den wohlhabenden Eigentümern solcher Fahrzeuge. Ehe er sechzig Jahre alt ist, wird er eines Abends in der Werkstatt, die stets pingelig wie ein Operationssaal gepflegt war, ermordet, offenbar ohne Kampf und ohne dass der Täter auch nur die geringste Spur hinterlässt. Wer könnte etwas gegen diesen Mann gehabt haben, der zwischen seinem Arbeitsplatz und einem anspruchslosen Zimmer darüber ein unauffälliges, geradezu mönchisches Leben geführt hatte? Seine einzige Angehörige ist Giulia, die achtundzwanzigjährige Tochter, die in Mailand eine steile Karriere hinlegt.
Dies ist der aktuelle Fall, den das Kommissariat von Pizzofalcone unter Leitung des vicequestore Luigi Palma aufzuklären hat, und er und seine Mitarbeiter stehen dabei unter gehörigem Druck. Denn Maurizio de Giovanni hat seiner Romanreihe ein nachhaltiges, fruchtbares Konzept zugrunde gelegt. Es basiert auf dem Coup, dass das Kommissariat, untergebracht in einer verlotterten Kaserne auf dem Hügel zwischen Chiaia, Santa Lucia und dem Montedidio, durch krasses Fehlverhalten einiger Beamter stadtweit in Misskredit fiel. Fast alle wurden gefeuert und übergangsweise – bis zur endgültigen Schließung der Station – durch Strafversetzte aus anderen Regionen ersetzt. Das gemischte Völkchen aus höchst unterschiedlichen Charakteren musste sich erst zusammenraufen, wobei Luigi Palma oft genug seine liebe Not hatte, zu motivieren und zu besänftigen, Eskapaden auszubügeln, auf korrektes Arbeiten und gemeinsame Ziele einzuschwören. So konnte die Mannschaft die Schließung zwar durch gute Arbeit immer wieder abwenden, aber Missgunst und Druck von konkurrierenden und übergeordneten Behörden lassen nicht nach.
Indem Maurizio de Giovanni uns erzählt, wie die Ermittlungen voranschreiten, entwickelt sich eine ganze Schar von Handlungssträngen, darunter natürlich die Vita des Mordopfers und ein umfassendes Porträt der Familie Roccaforte. Unabhängig davon sucht eine Arzthelferin Rat bei ihrem Bekannten vom Kommissariat, weil eine verschüchterte Achtjährige womöglich Anzeichen von Misshandlung zeigt. Die Ordensschwester suor Giovanna, Lehrerin an einer teuren Traditionsschule, müht sich, ihren aufgeweckten Drittklässlern zu verdeutlichen, was das Wesen von Engeln sei. Beachtlichen Raum nimmt freilich ein, was die bastardi selbst bewegt.
Jede/r Einzelne/r im Team hat mindestens ein Päckchen zu tragen, darunter mangelnde Selbstbeherrschung, Sperrigkeit, Sorgen um Kinder, Beziehungsprobleme, anstehende schwierige Entscheidungen, oder die Vergangenheit holt sie ein – ganz normal Menschliches also, keine aufgesetzt-ideologischen Haltungsfragen. Der Autor behält alle und alles im Blick und führt seine Figuren sorgfältig, überzeugend und immer wieder überraschend weiter. Auf diese Weise sind alle bastardi inzwischen zu runden Charakteren gereift, zu guten Bekannten, deren Entwicklungsgang man mit echtem Interesse verfolgt.
Anfangs mögen die unvermittelten Sprünge verwirren, mit denen uns jedes neue Kapitel in einen anderen Kontext wirft, bis sich herauskristallisiert, welcher Handlungsstrang fortgeführt wird und was Gegenwart, was Vergangenheit ist. Dagegen braucht, wer in einen späten Band wie diesen einsteigt, keine Sorge zu haben, in eine geschlossene Gesellschaft versetzt zu werden. Wann immer nötig, rekapituliert der Erzähler im erforderlichen Umfang die Vorgeschichte, ehe er sie dann wieder ein Stückchen weiterführt.
Selten ist ein Buchtitel derart wortwörtlich mit der Erzählung verflochten wie hier. Tatsächlich taucht das Wortfeld »angeli« in allen Bedeutungsschattierungen auf, sowohl in religiösen Zusammenhängen als auch in metaphorischer Übertragung, als liebevolle Benennung, als Zeichen der Anerkennung, Wertschätzung, Ehrerbietung (»Iaccarino era un genio. Anzi, di piú, perché faceva miracoli. Era … un angelo.«). Frappierend sind die Überlegungen und Spekulationen der Kinder, ob in suor Giovannas Unterricht, in Gesprächen untereinander oder in ihren Gedanken. Da vermischen sich kreative Fantasie, freche Provokationslust, praktische Vernunft (»Come riuscivano gli angeli a fare il loro mestiere?«) und Bildungserfahrungen (die Einflugschneise für »angelo Batman, un angelo Uomo Ragno, un angelo Superman«).
Neben der reizvollen Gestaltung interessanter Plots gefällt mir bei de Giovanni (selbst gebürtiger Neapolitaner), wie er die Atmosphäre der Stadt in Szene setzt. Hier ist der zeitliche Rahmen Ende September, noch immer drückt die Hitze hochsommerlicher Tage. Die Handlung taucht uns mitten ins bunte Alltagsgeschehen auf den Straßen, in Villen, Geschäften, Ämtern, Krankenhäusern. In diesen Passagen hebt de Giovanni, großartiger Menschenkenner und scharfer Beobachter, kleine Zeichen heraus und gestaltet sie markant.
So ist ein avvocato ungehalten, weil man am Empfang des Krankenhauses seine Terminbuchung nicht findet. »La platea dei pazienti si godeva lo spettacolo, girando le teste dall’uno all’altra come in un match di tennis al Foro Italico. Il tizio deglutí e si giocò l’ultima carta. […] La donna indurí la già rigida mandibola e, dopo aver rivolto all’uomo uno sguardo carico di disgusto, tornò a concentrarsi sulla lista. Il pubblico, tacitato dall’interessante battibecco, attese trepidante il responso tifando per il donnone odiato fino a un minuto prima.«
Neapel ist eine vitale Großstadt, die man lieben oder hassen kann. De Giovannis Porträt ist parteiisch, aber nicht einseitig. Es legt offen, dass jeder poliziotto hier in einer zona grigia operiert, »fatta di lavoro nero, di mancati scontrini fiscali e di parziale registrazione della merce in entrata. Gente tendenzialmente onesta che sopravviveva in maniera disonesta, insomma: parcheggiatori abusivi, ambulanti, commercianti di alimenti di molto prossima o già intervenuta scadenza, ristoratori non a norma, piccole imprese edili con muratori clandestini, percettori di sussidi in grado di lavorare; una popolazione che provava disagio in sua presenza. […] Pizzofalcone era tutt’altro che un paradiso, anzi: sapeva diventare un inferno con tale velocità da lasciar dubitare che fosse mai stato altro. C’erano tante cose da riparare, sistemare. Come i giovani che, in orario scolastico, se ne stavano seduti ai tavolini del bar a fumare e discutere in dialetto stretto, e poverina la ragazza che passava lí davanti. Eppure, fra tante realtà da correggere, quel quartiere era l’unico luogo dove Giorgio si sentiva a posto. Altrove, per bello che fosse, località di vacanza con mare e sole o meravigliose montagne innevate, di fronte a fumanti piatti di spaghetti con le cozze o sugli spalti di fantastici anfiteatri, poteva pure stare bene, ma senza mai perdere la consapevolezza della provvisorietà. Lui era uno di Pizzofalcone.«