Das zündendste Buch des Jahres
Püh – einen Roman lesen kann ja jeder. Hier schenkt uns ein Autor ein eigenes Theater! Der Vorhang hebt sich, wann und wo jeder Eigentümer es wünscht, und als einziger Zuschauer genießt er obendrein königliche Privilegien, wie etwa während der Vorstellung nach Belieben zu husten, zu essen und zu trinken, zu telefonieren, zu fotografieren, zu gähnen und zu schnarchen.
Oder sich einfach davonzumachen. Aber das wird niemand tun. Denn was dargeboten wird, ist einfach köstlich. Es kitzelt den Intellekt ebenso wie die Lachmuskeln. Das Repertoire umfasst dreißig kleine »Unterhaltungen« voller Esprit, deren Figuren und Verlauf sich Michael Frayn ausgedacht hat. Der kreative Autor, mit blühender Fantasie begabt, ist einschlägig bekannt als Meister des skurrilen Humors britischer Couleur. Seine kompakten Sketche (formal: Dialoge, Monologe und schwer Definierbares ...) präsentieren auf unterschiedlichen Kommunikationsebenen (von Pseudo-Shakespeare bis zur Lautsprecherdurchsage) und an diversen Orten (vom Fernsehstudio bis in die Gruft) aberwitzige Etüden über die ganze Bandbreite menschlicher Phänomene.
Sir Geoffrye de Frodsham und Lady Hilarye ruhen seit sechs Jahrhunderten (fast) bewegungslos auf ihrem Grabmal nebeneinander und schlafen dem Tag der Auferstehung entgegen. »Das ideale Paar«, wie viele Kirchenbesucher meinen. Doch wenn sie alle paar Jahrzehnte mal wieder gestört werden (»Bei dem Krach kann keiner schlafen ... Geoffrye! Mach was! Hämmer auf den Boden!«), gibt ein Wort das andere: »Tu nicht so, als ob du schläfst.« ... »Gleich kriegst du wieder einen Krampf!« ... »Andere Männer führen sich nicht so auf!« ... »Es gab mal eine Zeit, da hast du mich angeschaut.« ... »1774 ... Das war ein gutes Jahr.« [»Schlafende«]
Krank oder doch nicht krank? Der Patient, der da den Arzt aufsucht, leidet jedenfalls darunter, dass er sich fürchterlich fühlt, obwohl er sich eigentlich gut fühlt. Sein verzweifelter Versuch, seine paradoxe Gefühlslage zu formulieren, eskaliert zu einer Art Amoklauf der Wörter, an dessen Ende sich der Patient gesund geredet hat, der Doktor sich jedoch fürchterlich fühlt. [»Wie geht es mir, Herr Doktor?«]
Fachsprachen sind ein Thema, das sich generell für Satire anbietet, weil sie Outsider so schön von der Kommunikation auszuschließen vermögen. Michael Frayn hat für sein Kuriositätenkabinett einen Dialog unter Mathematikern ausgearbeitet, der exklusiv in seinem – nein: unserem Kopftheater aufführbar ist. Nicht einmal die Technik des weltweiten Webs befähigt mich, Ihnen zur Illustration einen »eklatanten Fall von rassistisch beleidigender Mathematik« zu zitieren. [»Haargenau«]
»Jetzt aber zurück zum heutigen Hauptthema und unserem Sonderkorrespondenten Richard Roving live vor dem National Theatre. Wie ist denn dort die aktuelle Lage, Richard?« Jeder kennt die Rituale und Floskeln der alltäglichen TV-Nachrichtenmagazine. Aber die Vorfälle, über die uns Michael Frayns Anchorman und sein Kollege in authentischer Routine informieren, kommen aus einer irgendwie anderen Realität. Richard berichtet von »einer Art Showdown« zwischen der Königin und dem Prinzen, der »kein Blatt vor den Mund genommen« habe, von »Meldungen über eine Messerattacke auf einen der Berater der Königin«, von »Befürchtungen, der König könne eine härtere Linie fahren«, von dem Gerücht, »jemand habe einen Geist gesehen«, dann wieder von Wetten auf das »baldige Läuten der Hochzeitsglocken«. Der Name des Prinzen macht stutzig: Hamlet heißt er – »Wissen Sie etwas darüber?« Nach dieser Live-Schalte folgt der Nachrichtenblock. Es besteht Hoffnung, dass die lokale Planungsbehörde die umstrittene Abholzung des Kirschgartens verhindern kann. In der »Walhalla, dem Zuhause einiger der bekanntesten Götter der Welt«, hat es einen Großbrand gegeben. Ein wohlhabender spanischer Playboy hat eine Statue zum Abendessen eingeladen – und sie erschien tatsächlich ... Bleiben Sie dran bei diesen Tagesthemen aus der Theaterwelt, einem Quotenhit Ihres Streichholztheaters! [»Außenreportage«]
Purer Klamauk oder hintergründige Philosophie mit Witz? Selbst über diese akademische Frage wird herumgealbert, nämlich in der Pause. Neben den üblichen Phrasen (»Und ... was hältst du bis jetzt davon?«) und Trivia (»Es gibt nicht mal eine Schlange vor der Damentoilette.«) tangieren die zwei Streichholztheaterbesucher auch Metaphysisches: »›Sind wir tatsächlich selbst hier oder nur eingebildet?‹ ›Und wenn ja, wer bildet sich uns ein? Ziemlich heavy das Ganze.‹«
Glauben Sie nur nicht, dass diese paar Trailer auch nur annähernd vermittelt hätten, welche Themen, Stilrichtungen, Gimmicks und Überraschungen die übrigen fünfundzwanzig »Unterhaltungen« noch liefern.
»Matchbox Theatre« , dieses umweltfreundliche Null-Energie-, Kopf- und Lieblingsleseplatztheater, hat Michael Raab stilsicher ins Deutsche übersetzt. Die Auslieferung der Skripte hat der Dörlemann Verlag übernommen und sie liebevoll in der einzig passenden Form gebunden: als (überdimensionale) Streichholzschachtel im Schuber. Auf der Suche nach einem zündenden Geschenk für Mitmenschen mit Sinn für Skurriles sollte Ihnen das Buch in jeder Buchhandlung ins Auge springen.