Rache und Gerechtigkeit
Hugh Glass ist am Ende. Er weiß das so gut wie seine Begleiter. Am Grand River hat ihn ein Grizzly angefallen, ihm den Hals aufgerissen, den Rücken zerfetzt, die Kopfhaut fast abgelöst. Captain Andrew Henry, der den zusammengewürfelten Haufen von Pelztierjägern im September 1823 durch die unerforschte und gefährliche Wildnis am Ostrand der Rocky Mountains führt, ordnet an, dass Jim Bridger und John Fitzgerald mit dem Sterbenden zurückbleiben, ihn nach seinem Ableben begraben und dann zur Truppe aufschließen sollen.
Doch Hugh Glass, 36, ist ein zäher Bursche. Sein malträtierter Körper gibt sich keineswegs auf. Bridger und Fitzgerald warten tagelang am bereits ausgehobenen Grab auf seinen Tod. Als Indianer auftauchen und höchste Gefahr droht, fliehen die beiden, um ihr eigenes Leben zu retten. Dem ihnen anvertrauten Kameraden stehlen sie zuvor noch alles, was ihnen nützlich sein könnte, vor allem seine Waffen (ein Gewehr, ein Messer), und überlassen ihn mutterseelenallein, hilflos und wehrlos seinem Schicksal.
Wie durch ein Wunder überlebt Glass auch diese aussichtslose Notlage. Was ihn fortan treibt, ist der eiserne Wille, die Waagschalen der Gerechtigkeit wieder ins Gleichgewicht zu bringen, indem er Rache übt an den beiden eigensüchtigen und mitleidlosen Verrätern. Unter unmenschlichen Strapazen kriecht, wankt, schleppt er sich über Tausende Meilen auf verschlungenen Pfaden durch die endlosen Weiten der Prärie und unwegsames Gebiet am Oberlauf des Missouri River zwischen Fort Atkinson im Süden und dem Yellowstone River im Norden, widersteht den Unbilden des hereinbrechenden Winters und setzt sich mit Indianerstämmen auseinander, die ihn bei sich aufnehmen und gesund pflegen – oder erneut in Todesgefahr bringen können. Zu Silvester 1823 erreicht Glass Fort Union: »Der Augenblick ist gekommen.«
Diesen Reißer aus den frühen Jahren des Wilden Westens, lange bevor die Siedlertrecks hier durchzogen, die Ureinwohner in die Reservate und die Bisons den Rinderherden und endlosen Feldern weichen mussten, verfasste ein bemerkenswerter Autor. Michael Punke ist Wirtschaftsjurist und Diplomat, seit 2011 Botschafter der USA bei der WTO in Genf, und das Schreiben ist sein Hobby. Neben Sachbüchern aus seinen Fachgebieten hat er bereits mehrere Studien speziell zur rauen Frontier-Zeit am Anfang des 19. Jahrhunderts veröffentlicht. Die Glorifizierung der »Eroberung des Westens« hat (unter Ausblendung zahlreicher unschöner Nebenwirkungen) die Mentalität der Amerikaner zutiefst geprägt. Im unbekannten Niemandsland war der furchtlose weiße Mann auf sich allein gestellt, auf nichts und niemanden durfte er vertrauen außer auf sich selbst, fern jeder Ordnung war er selbst das Gesetz, und seine Waffen waren das höchste Gut, um sein Leben und seine Freiheit zu verteidigen. Nur der Starke konnte überleben, die Untauglichen mussten weichen, böse Widersacher sterben. Die erfolgreichen, tapferen Pioniere jener frühen Tage haben die Fundamente einer neuen Nation geschaffen, ihre Expansion from coast to coast vorangetrieben und sind Prototypen eines neuen Menschenbildes geworden, das sich das ganze Land of the Free zueigen gemacht hat und seither in die Welt ausstrahlt.
Besondere Relevanz erhält Michael Punkes Geschichte – sein erster Roman – in diesem Zusammenhang, weil sie auf einer wahren Begebenheit beruht. Hugh Glass, diesen vorbildlichen Trapper, den kein Grizzly töten, keine Schandtat entmutigen, keine Wildnis umbringen kann, der niemals aufgibt, bis er, »nachdem er hundert Tage auf diesen Moment zugekrochen war«, Vergeltung üben, sich Genugtuung verschaffen kann, hat es wirklich gegeben. Der Autor gestaltet seine wahre Geschichte mit einiger dichterischer Freiheit.
Neben der individuellen und der ideologischen Ebene hat »Der Totgeglaubte« eine politische Botschaft, die bis heute Balsam für die geschundene Seele vieler Amerikaner ist. Als »The Revenant« 2002 in die Läden kam, war »9/11« noch frisch in jedermanns Bewusstsein; amerikanische und NATO-Truppen waren im Oktober 2001 in Afghanistan einmarschiert, um die Taliban-Diktatur zu stürzen und das al-Qaida-Terrornetzwerk zu zerstören (Operation »Enduring Freedom«). Dreizehn Jahre später hat das Heldenepos offenbar nichts von seiner erbaulichen Attraktivität verloren, sonst wäre es jetzt nicht verfilmt worden. Der mexikanische Regisseur Alejandro G. Iñárritu (»Amores Perros«, 2000; »Birdman«, 2014) hat die Hauptrollen mit Leonardo DiCaprio, Tom Hardy und Will Poulter besetzt. Die US-Premiere gibt es zu Weihnachten 2015, in Deutschland kommt »Der Rückkehrer« am 21. Januar 2016 in die Kinos. Dazu ist rechtzeitig die deutsche Übersetzung des Romans erschienen, die Ulrike Wasel und Klaus Timmermann erarbeitet haben.
Das Buch glänzt nicht durch literarischen Anspruch oder Innovation. Es setzt vielmehr eine populäre Tradition fort. Aber es fasziniert auf vielfache Weise. Da ist natürlich zunächst die abenteuerliche Biografie des Protagonisten. Hugh Glass wird 1786 in Philadelphia geboren. Sein Vater wünscht, der begabte Sohn solle Jurist werden, doch der begeistert sich für die Schiffe, die am Delaware liegen, für den Globus und die Karten im Büro der Reederei nahe der elterlichen Wohnung. Insbesondere die weißen Flecken der »terra incognita« regen seine Fantasie an. Mit sechzehn heuert er als Schiffsjunge an; nach zehn Jahren fährt er bereits im Rang eines Ersten Offiziers. Im Britisch-Amerikanischen Krieg 1812-1815 durchbricht er mit seiner schnellen Fregatte die britische Blockade amerikanischer Häfen, um in der Karibik Rum und Zucker einzukaufen. Bald wird er zum Kapitän befördert. Vor Havanna fällt er in die Hände des legendären französischen Freibeuters Jean Lafitte und muss Jahre unter dessen brutalem Kommando verbringen. Erst 1820 gelingt ihm mit einem Leidensgenossen die Flucht. Gemeinsam ziehen sie zu Fuß gen Norden, tausend Meilen durch Texas. Am Arkansas River werden sie von Pawnee-Indianern überfallen. Glass überlebt den Angriff, kann sich trickreich seinem Todesurteil entziehen und darf schließlich wie ein Sohn des Häuptlings im Stamm leben. Was er bisher noch nicht vom Überleben in der Wildnis wusste, lernt er in diesem Jahr bei den Pawnee.
Eine Zeitungsanzeige im Büro der Mississippi Shipping Company in St. Louis, wohin er den Häuptling begleitet hat, führt ihn zu den Weißen zurück. William Henry Ashley, Mitbegründer der Rocky Mountain Fur Company, sucht Männer, die zum Oberlauf des Missouri River vorstoßen sollen, um den Pelzhandel, der nach heftigen Indianerattacken eingebrochen war, neu aufzubauen. Glass zögert nicht: »Dieses Unternehmen lockt mich, wie mich nie zuvor etwas in meinem Leben gelockt hat.« Im September 1823 bricht er mit Captain Andrew Henrys »Pelzbrigade« auf ...
Nach der Episode des schändlichen Verrats tritt zu der bisher bestimmenden Spannung, wie sich Glass, Bridger und Fitzgerald (denn auch deren Vorgeschichte wird erzählt) durch ihr gefährliches Leben schlagen, das Leitmotiv der Vergeltung. Wie wird Hugh Glass sich rächen, wenn er den beiden endlich gegenübertritt? Hierzu sei nur angedeutet, dass der Roman nicht so geradlinig endet, wie man es sich ausrechnet.
Ein wesentlicher Teil meiner Begeisterung gilt der Beschreibungskunst, die in eigenständigen, von der Handlung abgerückten Passagen zu genießen ist. In bewundernswerter Detailliertheit und Sachkenntnis führt uns Michael Punke den Alltag seiner Helden vor Augen (wie sie sich kleiden, Feuer machen, eine Klapperschlange und andere Tiere häuten), ebenso die sie umgebende Natur (wie ein Kiefernsamen in einer Felsspalte keimt und zu einem Baum heranwächst, der sich krumm der Sonne entgegenstreckt). Der Autor erachtet keinen Gegenstand als zu gering, um ihn in seinem gleichmäßigen, sachlichen Sprachstil zu würdigen.
Besondere Sorgfalt widmet der Autor respektvollen Porträts der Indianer (Yellow Horse: »Im straff geflochtenen Haar trug er drei Adlerfedern, mit Kerben für jeden Feind, den er im Kampf getötet hatte. Zwei Zierbänder schmückten die Brust seiner Hirschlederjacke ... kunstvoll ... gearbeitet ... Hunderte verwobene Stachelschweinstacheln, die leuchtend zinnoberrot und indigoblau gefärbt waren.« Ein junger Mandan-Krieger »trug das Haar wie eine Krone ... Ein langer, mit Kaninchenfellstreifen umwickelter Pferdeschwanz fiel ihm auf den Rücken. Oben auf dem Kopf waren die Haare offen, und an den Seiten ergossen sie sich, mit Fett gebändigt, wie Wasser hinunter zum Kinn, wo sie stumpf abgeschnitten waren ... Große Zinnohrringe baumelten von drei großen Löchern in seinem rechten Ohr. Ein Halsband aus weißen Perlen stach von der bronzefarbenen Haut ab.«).
Zwar dürften die präzisen Anamnesen all der unglaublichen Verletzungen die Mitleidensfähigkeit manchen Lesers an ihre Grenzen führen. Doch überdrüssig wurde ich der beschreibenden Passagen nie. Dass es niemals langweilig wird, wie man befürchten könnte, liegt nicht nur daran, dass eine aufregende Episode die andere jagt, sondern auch an den zwischen den Protagonisten Hugh Glass, Captain Henry und John Fitzgerald wechselnden Perspektiven. Dadurch erleben wir die Pionierzeit auf differenziertere Weise. Die ehrgeizige Unternehmung, entlang der noch kaum erforschten Flüsse im Indianerland Pelzhandelsstationen zu etablieren, trägt bereits den Keim der rücksichtslosen Kommerzialisierung und Verdrängung in sich, an deren Ende die Ureinwohner alles verloren haben werden.