Rezension zu »Der Totgeglaubte« von Michael Punke

Der Totgeglaubte

von


Abenteuerroman · Malik · · Gebunden · 320 S. · ISBN 9783890297682
Sprache: de · Herkunft: us

Klicken Sie auf die folgenden Links, um sich bei Amazon über die Produkte zu informieren. Erst wenn Sie dort etwas kaufen, erhalte ich – ohne Mehrkosten für Sie! – eine kleine Provision. Danke für Ihre Unterstützung! Mehr dazu hier.
Bei Amazon kaufen

Rache und Gerechtigkeit

Rezension vom 14.11.2015 · 7 x als hilfreich bewertet · noch unkommentiert

Hugh Glass ist am Ende. Er weiß das so gut wie seine Be­gleiter. Am Grand River hat ihn ein Grizzly an­ge­fallen, ihm den Hals aufge­rissen, den Rücken zerfetzt, die Kopfhaut fast abgelöst. Captain Andrew Henry, der den zusam­men­gewürfelten Haufen von Pelztier­jägern im September 1823 durch die uner­forschte und gefährliche Wildnis am Ostrand der Rocky Moun­tains führt, ordnet an, dass Jim Bridger und John Fitz­gerald mit dem Ster­benden zu­rück­bleiben, ihn nach sei­nem Ableben begra­ben und dann zur Truppe auf­schließen sollen.

Doch Hugh Glass, 36, ist ein zäher Bursche. Sein malträ­tier­ter Kör­per gibt sich keineswegs auf. Bridger und Fitz­gerald war­ten tagelang am bereits ausge­hobe­nen Grab auf seinen Tod. Als Indianer auftauchen und höchste Gefahr droht, fliehen die beiden, um ihr eigenes Leben zu retten. Dem ihnen anver­trauten Ka­me­raden stehlen sie zuvor noch alles, was ihnen nütz­lich sein könnte, vor allem seine Waffen (ein Gewehr, ein Messer), und überlassen ihn mutter­seelen­allein, hilflos und wehrlos seinem Schick­sal.

Wie durch ein Wunder überlebt Glass auch diese aus­sichtslose Notlage. Was ihn fortan treibt, ist der eiser­ne Wille, die Waag­schalen der Gerech­tig­keit wieder ins Gleichge­wicht zu bringen, indem er Rache übt an den bei­den eigensüch­tigen und mit­leidlosen Ver­rätern. Unter un­menschlichen Strapazen kriecht, wankt, schleppt er sich über Tausende Meilen auf ver­schlunge­nen Pfaden durch die endlosen Weiten der Prärie und unwegsames Gebiet am Oberlauf des Missouri River zwischen Fort Atkin­son im Süden und dem Yellow­stone River im Nor­den, wider­steht den Unbil­den des her­ein­brechenden Winters und setzt sich mit India­nerstäm­men ausein­ander, die ihn bei sich aufneh­men und ge­sund pflegen – oder erneut in Todes­ge­fahr bringen können. Zu Sil­vester 1823 er­reicht Glass Fort Union: »Der Augenblick ist gekom­men.«

Diesen Reißer aus den frühen Jahren des Wil­den Wes­tens, lange bevor die Siedlertrecks hier durch­zogen, die Ureinwohner in die Reser­vate und die Bisons den Rinder­her­den und endlosen Fel­dern weichen muss­ten, ver­fasste ein be­merkenswerter Autor. Michael Punke ist Wirt­schafts­jurist und Diplomat, seit 2011 Botschaf­ter der USA bei der WTO in Genf, und das Schreiben ist sein Hobby. Neben Sach­büchern aus seinen Fach­ge­bieten hat er bereits mehrere Studien spe­ziell zur rauen Fron­tier-Zeit am An­fang des 19. Jahrhun­derts ver­öffentlicht. Die Glorifi­zie­rung der »Eroberung des Wes­tens« hat (unter Aus­blen­dung zahlreicher un­schö­ner Neben­wirkun­gen) die Menta­li­tät der Ame­ri­kaner zu­tiefst ge­prägt. Im un­bekannten Nie­mands­land war der furchtlose weiße Mann auf sich allein ge­stellt, auf nichts und niemanden durfte er ver­trauen außer auf sich selbst, fern jeder Ord­nung war er selbst das Gesetz, und seine Waffen waren das höchste Gut, um sein Leben und seine Freiheit zu verteidi­gen. Nur der Starke konnte über­leben, die Un­tauglichen mussten wei­chen, böse Wider­sacher sterben. Die erfolg­reichen, tap­feren Pio­niere jener frühen Tage haben die Fun­damente einer neuen Nation ge­schaffen, ihre Expan­sion from coast to coast voran­getrieben und sind Proto­typen eines neuen Men­schen­bildes ge­worden, das sich das ganze Land of the Free zu­eigen ge­macht hat und seither in die Welt aus­strahlt.

Besondere Rele­vanz er­hält Michael Punkes Ge­schichte – sein erster Roman – in die­sem Zu­sammen­hang, weil sie auf einer wahren Be­gebenheit be­ruht. Hugh Glass, diesen vor­bild­lichen Trapper, den kein Grizzly töten, keine Schandtat ent­mutigen, keine Wild­nis umbrin­gen kann, der niemals auf­gibt, bis er, »nachdem er hundert Tage auf diesen Moment zu­ge­krochen war«, Ver­geltung üben, sich Genug­tuung ver­schaffen kann, hat es wirklich ge­geben. Der Autor ge­staltet seine wahre Ge­schichte mit eini­ger dichte­rischer Freiheit.

Neben der indi­viduellen und der ideologi­schen Ebene hat »Der Totge­glaubte« eine politische Bot­schaft, die bis heute Balsam für die geschun­dene Seele vieler Ame­rikaner ist. Als »The Revenant« Michael Punke: »The Revenant« bei Amazon 2002 in die Läden kam, war »9/11« noch frisch in je­der­manns Be­wusstsein; ame­rikani­sche und NATO-Truppen wa­ren im Okto­ber 2001 in Afgha­nistan einmar­schiert, um die Taliban-Diktatur zu stür­zen und das al-Qaida-Terror­netz­werk zu zer­stören (Operation »Enduring Free­dom«). Dreizehn Jahre später hat das Hel­denepos of­fenbar nichts von seiner erbau­lichen Attrak­tivität verloren, sonst wäre es jetzt nicht verfilmt worden. Der mexi­kani­­sche Regis­seur Ale­jan­dro G. Iñár­ritu (»Amores Perros«, 2000; »Birdman«, 2014) hat die Hauptrollen mit Leonardo DiCaprio, Tom Hardy und Will Poulter be­setzt. Die US-Pre­miere gibt es zu Weihnachten 2015, in Deutschland kommt »Der Rückkehrer« am 21. Januar 2016 in die Kinos. Dazu ist recht­zeitig die deutsche Über­setzung des Romans erschie­nen, die Ulrike Wasel und Klaus Tim­mermann er­ar­beitet haben.

Das Buch glänzt nicht durch lite­ra­rischen An­spruch oder Inno­vation. Es setzt vielmehr eine popu­läre Tra­di­tion fort. Aber es fas­zi­niert auf viel­fache Weise. Da ist natürlich zu­nächst die abenteuerli­che Biogra­fie des Pro­tagonisten. Hugh Glass wird 1786 in Phila­delphia geboren. Sein Vater wünscht, der be­gabte Sohn solle Jurist wer­den, doch der begeis­tert sich für die Schiffe, die am De­laware lie­gen, für den Globus und die Karten im Büro der Reederei nahe der elter­lichen Wohnung. Ins­besondere die weißen Flecken der »terra inco­gnita« regen seine Fanta­sie an. Mit sechzehn heuert er als Schiffsjunge an; nach zehn Jah­ren fährt er be­reits im Rang eines Ersten Offi­ziers. Im Britisch-Ameri­kani­schen Krieg 1812-1815 durchbricht er mit seiner schnellen Fre­gatte die briti­sche Blockade amerikani­scher Häfen, um in der Karibik Rum und Zucker ein­zukaufen. Bald wird er zum Kapi­tän beför­dert. Vor Ha­vanna fällt er in die Hände des legen­dären fran­zösi­schen Frei­beuters Jean La­fitte und muss Jahre unter des­sen brutalem Kommando ver­bringen. Erst 1820 gelingt ihm mit einem Leidens­genossen die Flucht. Ge­meinsam ziehen sie zu Fuß gen Norden, tau­send Meilen durch Texas. Am Ar­kan­sas River werden sie von Pawnee-India­nern überfallen. Glass über­lebt den An­griff, kann sich trick­reich seinem Todesurteil ent­ziehen und darf schließlich wie ein Sohn des Häupt­lings im Stamm leben. Was er bisher noch nicht vom Über­leben in der Wildnis wusste, lernt er in die­sem Jahr bei den Pawnee.

Eine Zei­tungs­anzeige im Büro der Mississippi Shipping Com­pany in St. Louis, wohin er den Häuptling begleitet hat, führt ihn zu den Weißen zurück. William Henry Ashley, Mit­be­gründer der Rocky Mountain Fur Com­pany, sucht Männer, die zum Ober­lauf des Mis­souri River vor­stoßen sollen, um den Pelz­han­del, der nach heftigen In­dia­nerattacken ein­gebrochen war, neu auf­zubauen. Glass zögert nicht: »Dieses Un­ter­nehmen lockt mich, wie mich nie zuvor etwas in meinem Leben ge­lockt hat.« Im Sep­tem­ber 1823 bricht er mit Captain Andrew Henrys »Pelz­brigade« auf ...

Nach der Epi­sode des schändlichen Verrats tritt zu der bisher be­stimmen­den Span­nung, wie sich Glass, Bridger und Fitzgerald (denn auch deren Vor­ge­schichte wird erzählt) durch ihr ge­fährliches Leben schla­gen, das Leitmotiv der Vergel­tung. Wie wird Hugh Glass sich rä­chen, wenn er den beiden end­lich ge­gen­über­tritt? Hierzu sei nur ange­deutet, dass der Roman nicht so ge­rad­linig en­det, wie man es sich aus­rechnet.

Ein wesentli­cher Teil meiner Be­geisterung gilt der Be­schrei­bungskunst, die in eigen­stän­digen, von der Handlung abge­rückten Passa­gen zu genießen ist. In bewun­dernswerter Detailliert­heit und Sachkennt­nis führt uns Michael Punke den Alltag seiner Helden vor Augen (wie sie sich klei­den, Feuer machen, eine Klapper­schlange und andere Tiere häuten), ebenso die sie umge­bende Natur (wie ein Kie­fern­samen in einer Fels­spalte keimt und zu einem Baum her­an­wächst, der sich krumm der Sonne ent­gegen­streckt). Der Autor er­achtet keinen Gegen­stand als zu gering, um ihn in seinem gleichmäßi­gen, sach­lichen Sprachstil zu würdigen.

Besondere Sorg­falt widmet der Autor re­spekt­vollen Porträts der Indianer (Yellow Horse: »Im straff ge­floch­tenen Haar trug er drei Adler­federn, mit Kerben für jeden Feind, den er im Kampf ge­tötet hatte. Zwei Zier­bänder schmückten die Brust seiner Hirsch­lederjacke ... kunstvoll ... gearbeitet ... Hunderte ver­wobene Stachel­schweinstacheln, die leuchtend zinnoberrot und indigo­blau ge­färbt waren.« Ein junger Man­dan-Krieger »trug das Haar wie eine Krone ... Ein lan­ger, mit Ka­ninchen­fellstreifen um­wickelter Pferde­schwanz fiel ihm auf den Rücken. Oben auf dem Kopf waren die Haare offen, und an den Seiten er­gos­sen sie sich, mit Fett ge­bän­digt, wie Wasser hin­unter zum Kinn, wo sie stumpf abge­schnitten wa­ren ... Große Zinnohrringe baumelten von drei gro­ßen Löchern in seinem rechten Ohr. Ein Hals­band aus weißen Per­len stach von der bronze­farbe­nen Haut ab.«).

Zwar dürften die präzisen Anam­nesen all der un­glaublichen Verletzungen die Mitlei­dens­fähigkeit man­chen Lesers an ihre Gren­zen führen. Doch überdrüssig wurde ich der beschrei­benden Pas­sagen nie. Dass es nie­mals lang­weilig wird, wie man be­fürchten könnte, liegt nicht nur daran, dass eine aufre­gende Epi­sode die an­dere jagt, sondern auch an den zwi­schen den Pro­tagonis­ten Hugh Glass, Captain Henry und John Fitz­gerald wech­selnden Per­spektiven. Da­durch er­leben wir die Pionier­zeit auf differen­ziertere Weise. Die ehrgeizige Unterneh­mung, ent­lang der noch kaum erforsch­ten Flüsse im Indianerland Pelzhandels­stationen zu eta­blieren, trägt bereits den Keim der rück­sichts­losen Kommer­zia­lisierung und Verdrängung in sich, an deren Ende die Urein­wohner alles verloren haben wer­den.


War dieser Artikel hilfreich für Sie?

Ja Nein

Hinweis zum Datenschutz:
Um Verfälschungen durch Mehrfach-Klicks und automatische Webcrawler zu verhindern, wird Ihr Klick nicht sofort berücksichtigt, sondern erst nach Freischaltung. Zu diesem Zweck speichern wir Ihre IP und Ihr Votum unter Beachtung der Vorschriften der europäischen Datenschutzgrundverordnung (DSGVO). Nähere Hinweise finden Sie in unserer Datenschutzerklärung. Indem Sie auf »Ja« oder »Nein« klicken, erklären Sie Ihr Einverständnis mit der Verarbeitung Ihrer Daten.

Klicken Sie auf die folgenden Links, um sich bei Amazon über die Produkte zu informieren. Erst wenn Sie dort etwas kaufen, erhalte ich – ohne Mehrkosten für Sie! – eine kleine Provision. Danke für Ihre Unterstützung! Mehr dazu hier.

»Der Totgeglaubte« von Michael Punke
erhalten Sie im örtlichen Buchhandel oder bei Amazon


Kommentare

Zu »Der Totgeglaubte« von Michael Punke wurde noch kein Kommentar verfasst.

Schreiben Sie hier den ersten Kommentar:
Ihre E-Mail wird hier nicht abgefragt. Bitte tragen Sie hier NICHTS ein.
Ihre Homepage wird hier nicht abgefragt. Bitte tragen Sie hier NICHTS ein.
Hinweis zum Datenschutz:
Um Missbrauch (Spam, Hetze etc.) zu verhindern, speichern wir Ihre IP und Ihre obigen Eingaben, sobald Sie sie absenden. Sie erhalten dann umgehend eine E-Mail mit einem Freischaltlink, mit dem Sie Ihren Kommentar veröffentlichen.
Die Speicherung Ihrer Daten geschieht unter Beachtung der Vorschriften der europäischen Datenschutzgrundverordnung (DSGVO). Nähere Hinweise finden Sie in unserer Datenschutzerklärung. Indem Sie auf »Senden« klicken, erklären Sie Ihr Einverständnis mit der Verarbeitung Ihrer Daten.


Go to Top