Rezension zu »Der Uhrmacher in der Filigree Street« von Natasha Pulley

Der Uhrmacher in der Filigree Street

von


Eine aus dem Nichts zugefallene goldene Taschenuhr warnt Nathaniel Steepleton vor einer Bombenexplosion. Er schließt Freundschaft mit dem begnadeten Uhrmacher, einem Japaner. Eine Art Retro-Science-Fiction-Krimi führt uns ins London von 1883, wo sich meisterliche Mechanik, Fantasy und Mystery bei Gaslicht und Nebelnässe begegnen.
Steampunk · Klett-Cotta · · 448 S. · ISBN 9783608984750
Sprache: de · Herkunft: gb

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Unbekannte Gefilde

Rezension vom 20.02.2022 · noch unbewertet · noch unkommentiert

Nathaniel Steepleton ist einsam in der pulsie­renden Großstadt. Als Tele­grafist im Innen­ministe­rium leitet er täglich mehr oder weniger bedeut­same Gesprächs­schnipsel an die zustän­digen Stellen weiter. Die eintönige Arbeit ist schlecht bezahlt und unter­fordert ihn, denn er ist intelli­gent, aufge­schlossen, wissbe­gierig und musika­lisch.

Im November 1883 ändert sich sein Leben. Irische Separa­tisten zünden eines Nachts im Gebäude von Scotland Yard eine Bombe. Nathaniel wäre unter den Todes­opfern des Anschlags, wäre er nicht vorab gewarnt worden. Einige Monate zuvor hatte er auf seinem Bett eine Schatulle vorge­funden, deren Herkunft er sich nicht erklären konnte. Darin war eine edle vergol­dete Taschen­uhr. Seltsam, dass sie Sekunden vor der heftigen Explosion einen Alarm wie Sirenen­geheul auslöste und damit sein Leben rettete.

Wen überrascht es, dass Nathaniel (»Thaniel«) heraus­bekom­men möchte, was es mit der wunder­samen Uhr auf sich hat? In der Filigree Street entdeckt er den außer­gewöhn­lichen Laden eines Uhr­machers, der sich als schlicht­weg genial erweist. Der Mann ist klein, freund­lich, aber in sich gekehrt und wirkt reser­viert. Mit seinen fernöst­lichen Gesichts­zügen und gefärbtem Haar hat er etwas Beun­ruhigen­des an sich. Seine fein­mechani­schen Kreatio­nen aber stellen alles in den Schatten, was Thaniel je gesehen hat. Es sind fantasti­sche Tierwesen, die sich, von Uhrwerken ange­trieben, wie Zauber­gebilde bewegen. So schwirren metallene Vögel und Glüh­würm­chen durch die Werkstatt, bis sie sich nieder­lassen, um wieder aufge­zogen zu werden. Das faszi­nierend­ste all dieser Wunder­werke ist ein Oktopus, der mit seinen langen Tentakeln ein bewegtes, immer aufs Neue über­raschen­des Eigen­leben führt.

Nachdem Thaniel seinen Vorgesetzten über seine Beob­achtun­gen infor­miert hat, erhält er den Auftrag, den Uhrmacher im Auge zu behalten. Womöglich steht er ja in irgend einer Verbin­dung zu den Atten­tätern. Zwar kann Thaniel sich kaum vor­stellen, dass sein kauziger Bekannter bei etwas Abgrund­bösem wie einem Terror­anschlag mitwirken könnte, aber seiner neuen dienst­lichen Aufgabe entzieht er sich nicht. Sie zahlt sich ja auch in barer Münze aus, bringt ihm eine Beförde­rung ins Außen­ministe­rium und dadurch gesell­schaft­liches Ansehen.

Mit der Zeit werden die beiden Männer enge Freunde. Thaniel darf in das leer­stehende Gäste­zimmer bei der Werkstatt einziehen, und auch der mechani­sche Oktopus darf fortan bei ihm seinen Unfug treiben. Mal taucht er am Treppen­geländer auf, mal versteckt er sich in einer Schublade, mal stibitzt er Socken, Krawatten oder Man­schetten­knöpfe.

Was hat es mit dem ungewöhn­lichen Uhrmacher auf sich? Er heißt Keita Mori und wurde 1845 als unehe­licher Sohn einer Adels­familie in Japan geboren. Nach dem Bürger­krieg (1867-1869) wurde das Land refor­miert. Einer­seits blieb es traditions­bewusst und konser­vativ, anderer­seits lieb­äugelte man mit der west­lichen Moderne. Deswegen zog Keita Mori, nachdem er einige Jahre als Berater eines Ministers in Tokyo gear­beitet hatte, nach London.

Der Plot dieses Romans ist im Grunde der eines Krimis. Eine Kette von unheim­lichen Vorkomm­nissen im Zu­sammen­hang mit Keita Mori legen den Verdacht nahe, dass der etwas zu verbergen habe. Doch es ist das Setting, das den Roman besonders macht. Schau­platz und Zeit liefern den basso continuo der Ereig­nisse: Im spät­viktoriani­schen London lässt die Autorin mit trübem Gaslicht und Zahnrad-Mechanik, mit Nebel und Dauer­niesel­regen eine Atmos­phäre entstehen, die uns aus gängigen Genres vertraut ist. Dann aber brechen immer wieder merk­würdige Elemente anderer Prove­nienz ein: damp­fende Retro-Maschinen­unge­heuer neben perfekten Auto­maten­wesen wie dem Oktopus, von denen anno 1893 kein Uhrwerk-Technik auch nur geträumt haben dürfte – Science-Fiction aus der Retro-Perspek­tive also. Ähnliche ›Spiel­sachen‹ geistern ja auch durch die Wohnung des genialen Erfinders Dr. Eldon Tyrell in Ridley Scotts Science-Fiction-Film »Blade Runner«, doch der spielt in einer fernen Zukunft, wo alles machbar geworden ist (übrigens 2019 …).

Mit einer guten Mischung aus Abenteuer, Natur­wissen­schaft, Zukunfts­visionen, Exotik und Ver­brechen haben schon Jules Verne und H. G. Wells große Erfolge erzielt. Im »Uhrmacher in der Filigree Street« aber bestimmen obendrein hoch­entwi­ckelte Technik sowie Elemente aus Mystery, Märchen und Fantasy die Handlung (Kaita Mori kann in die Zukunft blicken …) – ein bunter Mix also, der Ver­gangen­heit und Zukunft, Ratio­nalität und Irratio­nalität vereint.

Das Genre hat zahlreiche Fans und einen Namen: »Steam­punk«. Eine besondere Rolle in diesem eigen­willigen Universum spielt Äther, eine hypothe­tische Substanz, die Licht leiten soll. An deren Nachweis arbeiten Forscher an der Univer­sität Oxford, unter ihnen die Studentin Grace Carrow. Sie hat ihr letztes Semester abge­schlos­sen, aber ihre Versuchs­reihe ist noch ohne Ergebnis. Gerne würde sie im Keller eines geerbten Hauses weiter­forschen, doch Frauen sind noch rechtlos. Als Haus­besitzer müsste ein Mann ein­springen und sie heiraten, was sich Grace’ Vater ohnehin schon lange wünscht. Aber die Männer machen lieber einen Bogen um die nicht sehr attrak­tive, eher männlich auf­treten­de Intel­lektu­elle mit dem Kurz­haar­schnitt. Sie lernt Thaniel kennen, ohne sonder­liche Empathie für ihn aufzu­bringen, aber sie könnte sich vor­stellen, ihn zur Not zu heiraten. (Im Übrigen ist die Figur ein Beispiel für eine unbe­friedi­gende Charakter­gestal­tung: Ausge­rechnet gegen die Suffra­getten hegt Grace eine Abneigung – dabei vertreten doch gerade diese Kämpfe­rinnen für das Frauen­wahl­recht, die Gleich­berech­tigung und den Abbau patriar­chali­scher Gesell­schafts­struk­turen Grace’ ureigen­ste Inter­essen, wie sie sich beispiels­weise im Umgang mit ihrem Vater heraus­gebil­det haben.)

Während Nathaniel die Nähe des myste­riösen Uhr­machers sucht, dafür gar Japanisch lernt, steht Grace ihm mit gehöriger Skepsis gegenüber. Warum soll er mit seinem heraus­ragen­den techni­schen Geschick nicht den Iren beim Bomben­bauen zur Seite gestanden haben, um einer gerechten Sache zum Sieg zu verhelfen, um Ge­schich­te zu schreiben? Und was verbindet ihn mit ihrem zukünf­tigen Mann, der die Gesell­schaft des Japaners höher zu schätzen scheint als die ihre?

Mit »The Watchmaker of Filigree Street« Natasha Pulley: »The Watchmaker of Filigree Street« bei Amazon debü­tierte die 1988 in London geborene Natasha Pulley im Jahr 2015. Bei Steampunk-Fans kam das Buch gut an, es erhielt aber auch einen gut dotierten, tradi­tions­rei­chen Preis für Erst­lings­werke eher konven­tionel­ler Literatur von jungen Autoren aus dem Common­wealth. In der Über­setzung von Jochen Schwarzer erschien es jetzt auf Deutsch und eroberte Platz 1 der Fantastik-Besten­liste. Insgesamt ist der Roman mit seinem komplexen Plot und allerlei unerwar­teten Wendungen eine recht unter­halt­same, leichte Lektüre, trotz einiger Längen, eher verwir­render Hand­lungs­seiten­stränge und schroffer Sprünge zu anderen Schau­plätzen, zu anderen Figuren. Wer mag, kann sich zu Gedanken über Fragen der Wahr­schein­lich­keit und der Vorher­bestim­mung, des Zufalls und des Schick­sals animieren lassen, wenn man denn einem derart reali­täts­fernen Erzähl­werk so viel Rele­vanz zutrauen will.


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