Der Uhrmacher in der Filigree Street
von Natasha Pulley
Eine aus dem Nichts zugefallene goldene Taschenuhr warnt Nathaniel Steepleton vor einer Bombenexplosion. Er schließt Freundschaft mit dem begnadeten Uhrmacher, einem Japaner. Eine Art Retro-Science-Fiction-Krimi führt uns ins London von 1883, wo sich meisterliche Mechanik, Fantasy und Mystery bei Gaslicht und Nebelnässe begegnen.
Unbekannte Gefilde
Nathaniel Steepleton ist einsam in der pulsierenden Großstadt. Als Telegrafist im Innenministerium leitet er täglich mehr oder weniger bedeutsame Gesprächsschnipsel an die zuständigen Stellen weiter. Die eintönige Arbeit ist schlecht bezahlt und unterfordert ihn, denn er ist intelligent, aufgeschlossen, wissbegierig und musikalisch.
Im November 1883 ändert sich sein Leben. Irische Separatisten zünden eines Nachts im Gebäude von Scotland Yard eine Bombe. Nathaniel wäre unter den Todesopfern des Anschlags, wäre er nicht vorab gewarnt worden. Einige Monate zuvor hatte er auf seinem Bett eine Schatulle vorgefunden, deren Herkunft er sich nicht erklären konnte. Darin war eine edle vergoldete Taschenuhr. Seltsam, dass sie Sekunden vor der heftigen Explosion einen Alarm wie Sirenengeheul auslöste und damit sein Leben rettete.
Wen überrascht es, dass Nathaniel (»Thaniel«) herausbekommen möchte, was es mit der wundersamen Uhr auf sich hat? In der Filigree Street entdeckt er den außergewöhnlichen Laden eines Uhrmachers, der sich als schlichtweg genial erweist. Der Mann ist klein, freundlich, aber in sich gekehrt und wirkt reserviert. Mit seinen fernöstlichen Gesichtszügen und gefärbtem Haar hat er etwas Beunruhigendes an sich. Seine feinmechanischen Kreationen aber stellen alles in den Schatten, was Thaniel je gesehen hat. Es sind fantastische Tierwesen, die sich, von Uhrwerken angetrieben, wie Zaubergebilde bewegen. So schwirren metallene Vögel und Glühwürmchen durch die Werkstatt, bis sie sich niederlassen, um wieder aufgezogen zu werden. Das faszinierendste all dieser Wunderwerke ist ein Oktopus, der mit seinen langen Tentakeln ein bewegtes, immer aufs Neue überraschendes Eigenleben führt.
Nachdem Thaniel seinen Vorgesetzten über seine Beobachtungen informiert hat, erhält er den Auftrag, den Uhrmacher im Auge zu behalten. Womöglich steht er ja in irgend einer Verbindung zu den Attentätern. Zwar kann Thaniel sich kaum vorstellen, dass sein kauziger Bekannter bei etwas Abgrundbösem wie einem Terroranschlag mitwirken könnte, aber seiner neuen dienstlichen Aufgabe entzieht er sich nicht. Sie zahlt sich ja auch in barer Münze aus, bringt ihm eine Beförderung ins Außenministerium und dadurch gesellschaftliches Ansehen.
Mit der Zeit werden die beiden Männer enge Freunde. Thaniel darf in das leerstehende Gästezimmer bei der Werkstatt einziehen, und auch der mechanische Oktopus darf fortan bei ihm seinen Unfug treiben. Mal taucht er am Treppengeländer auf, mal versteckt er sich in einer Schublade, mal stibitzt er Socken, Krawatten oder Manschettenknöpfe.
Was hat es mit dem ungewöhnlichen Uhrmacher auf sich? Er heißt Keita Mori und wurde 1845 als unehelicher Sohn einer Adelsfamilie in Japan geboren. Nach dem Bürgerkrieg (1867-1869) wurde das Land reformiert. Einerseits blieb es traditionsbewusst und konservativ, andererseits liebäugelte man mit der westlichen Moderne. Deswegen zog Keita Mori, nachdem er einige Jahre als Berater eines Ministers in Tokyo gearbeitet hatte, nach London.
Der Plot dieses Romans ist im Grunde der eines Krimis. Eine Kette von unheimlichen Vorkommnissen im Zusammenhang mit Keita Mori legen den Verdacht nahe, dass der etwas zu verbergen habe. Doch es ist das Setting, das den Roman besonders macht. Schauplatz und Zeit liefern den basso continuo der Ereignisse: Im spätviktorianischen London lässt die Autorin mit trübem Gaslicht und Zahnrad-Mechanik, mit Nebel und Dauernieselregen eine Atmosphäre entstehen, die uns aus gängigen Genres vertraut ist. Dann aber brechen immer wieder merkwürdige Elemente anderer Provenienz ein: dampfende Retro-Maschinenungeheuer neben perfekten Automatenwesen wie dem Oktopus, von denen anno 1893 kein Uhrwerk-Technik auch nur geträumt haben dürfte – Science-Fiction aus der Retro-Perspektive also. Ähnliche ›Spielsachen‹ geistern ja auch durch die Wohnung des genialen Erfinders Dr. Eldon Tyrell in Ridley Scotts Science-Fiction-Film »Blade Runner«, doch der spielt in einer fernen Zukunft, wo alles machbar geworden ist (übrigens 2019 …).
Mit einer guten Mischung aus Abenteuer, Naturwissenschaft, Zukunftsvisionen, Exotik und Verbrechen haben schon Jules Verne und H. G. Wells große Erfolge erzielt. Im »Uhrmacher in der Filigree Street« aber bestimmen obendrein hochentwickelte Technik sowie Elemente aus Mystery, Märchen und Fantasy die Handlung (Kaita Mori kann in die Zukunft blicken …) – ein bunter Mix also, der Vergangenheit und Zukunft, Rationalität und Irrationalität vereint.
Das Genre hat zahlreiche Fans und einen Namen: »Steampunk«. Eine besondere Rolle in diesem eigenwilligen Universum spielt Äther, eine hypothetische Substanz, die Licht leiten soll. An deren Nachweis arbeiten Forscher an der Universität Oxford, unter ihnen die Studentin Grace Carrow. Sie hat ihr letztes Semester abgeschlossen, aber ihre Versuchsreihe ist noch ohne Ergebnis. Gerne würde sie im Keller eines geerbten Hauses weiterforschen, doch Frauen sind noch rechtlos. Als Hausbesitzer müsste ein Mann einspringen und sie heiraten, was sich Grace’ Vater ohnehin schon lange wünscht. Aber die Männer machen lieber einen Bogen um die nicht sehr attraktive, eher männlich auftretende Intellektuelle mit dem Kurzhaarschnitt. Sie lernt Thaniel kennen, ohne sonderliche Empathie für ihn aufzubringen, aber sie könnte sich vorstellen, ihn zur Not zu heiraten. (Im Übrigen ist die Figur ein Beispiel für eine unbefriedigende Charaktergestaltung: Ausgerechnet gegen die Suffragetten hegt Grace eine Abneigung – dabei vertreten doch gerade diese Kämpferinnen für das Frauenwahlrecht, die Gleichberechtigung und den Abbau patriarchalischer Gesellschaftsstrukturen Grace’ ureigenste Interessen, wie sie sich beispielsweise im Umgang mit ihrem Vater herausgebildet haben.)
Während Nathaniel die Nähe des mysteriösen Uhrmachers sucht, dafür gar Japanisch lernt, steht Grace ihm mit gehöriger Skepsis gegenüber. Warum soll er mit seinem herausragenden technischen Geschick nicht den Iren beim Bombenbauen zur Seite gestanden haben, um einer gerechten Sache zum Sieg zu verhelfen, um Geschichte zu schreiben? Und was verbindet ihn mit ihrem zukünftigen Mann, der die Gesellschaft des Japaners höher zu schätzen scheint als die ihre?
Mit »The Watchmaker of Filigree Street« debütierte die 1988 in London geborene Natasha Pulley im Jahr 2015. Bei Steampunk-Fans kam das Buch gut an, es erhielt aber auch einen gut dotierten, traditionsreichen Preis für Erstlingswerke eher konventioneller Literatur von jungen Autoren aus dem Commonwealth. In der Übersetzung von Jochen Schwarzer erschien es jetzt auf Deutsch und eroberte Platz 1 der Fantastik-Bestenliste. Insgesamt ist der Roman mit seinem komplexen Plot und allerlei unerwarteten Wendungen eine recht unterhaltsame, leichte Lektüre, trotz einiger Längen, eher verwirrender Handlungsseitenstränge und schroffer Sprünge zu anderen Schauplätzen, zu anderen Figuren. Wer mag, kann sich zu Gedanken über Fragen der Wahrscheinlichkeit und der Vorherbestimmung, des Zufalls und des Schicksals animieren lassen, wenn man denn einem derart realitätsfernen Erzählwerk so viel Relevanz zutrauen will.