Das Ende des Fadens
von Andrea Camilleri
Ausgerechnet die Schneiderin, bei der Montalbano einen Maßanzug in Auftrag gegeben hat, wird erstochen. Die Suche nach dem Täter gleicht dem Entwirren eines Wollknäuels. Derweil stranden in Vigàta täglich nordafrikanische Flüchtlingsboote. Sie treffen auf Hilfsbereitschaft und Ressentiments.
Die Flüchtlingswelle überrollt Vigàta
Unglaublich, was für eine Schaffenskraft dieser Mann besaß, welche Kreativität ihn immer wieder in neue Bahnen trieb, und wie rege er Anteil daran nahm, was in seinem Heimatland geschah. Als Andrea Camilleri im Jahr 2016 »L’altro capo del filo« veröffentlichte, war er einundneunzig Jahre alt, und es war sein einhundertstes Buch in siebenundfünfzig Jahren! Wegen seines schwindenden Sehvermögens war er allerdings auf die Unterstützung seiner langjährigen persönlichen Assistentin Valentina Alferj angewiesen.
Deutlicher als seine Vorläufer rückt dieser Krimi, die Nummer 24 der Reihe um den commissario Salvo Montalbano [› Übersicht], ein tagespolitisches Thema ausführlich in den Vordergrund. Abgehoben von der Realität waren auch seine Vorgänger keineswegs, aber die Fälle hatten doch meist mit allgemeinen Grundübeln der sizilianischen (bzw. italienischen) Gesellschaft zu tun (Korruption, Filz, Mafia, Drogen, Entführung, Menschenhandel, Mord, Bausünden, Umweltzerstörung, illegale Abfallentsorgung ...) und endeten in der Regel eher besinnlich, wenn nicht pessimistisch, da Montalbano seine (bisweilen eigenwillige) Vorstellung von Gerechtigkeit zwar in seinem kleinen Vigàta einigermaßen etablieren konnte, im Grundsätzlichen aber nichts zu bessern vermochte.
Jetzt taucht der Autor ein ins pralle triste Leben unserer Tage und schildert auf ergreifende Weise, wie das ›Flüchtlingsdrama‹ auch das (fiktive) sizilianische Hafenstädtchen Vigàta überrollt. Auf den ersten hundert (!) Seiten breitet Camilleri das Elend aus, das mit jedem überfüllten Seelenverkäufer übers Meer kommt. Wie Montalbanos norditalienische Langzeitverlobte Livia kennen wir die Bilder aus der Berichterstattung in den Medien. Aber Salvo erklärt ihr:
»Weißt du, von Boccadasse aus kannst du dir überhaupt keine Vorstellung machen, wie dramatisch die Situation hier ist. Die Flüchtlingsboote kommen an den Küsten inzwischen pünktlicher an als der Bus aus Montelusa. Hunderte Menschen, Nacht für Nacht. Bei jedem Wetter. Männer, Frauen, Kinder, Alte. Sie sind durchgefroren, ausgehungert, durstig, verängstigt. Sie benötigen einfach alles. Und wir im Kommissariat sind rund um die Uhr damit beschäftigt, die Ankunft der Flüchtlinge in geordnete Bahnen zu lenken. In der Stadt gibt es Freiwilligenkomitees, die das Allernötigste sammeln, Essen kochen und Kleidung, Schuhe und Decken besorgen.«
Und ein erfahrener Fischer spitzt die traurige Lage so zu: »Wissen Sie, Dottore, heutzutage hat es keinen Sinn mehr, aufs Meer hinauszufahren. Man holt mehr menschliche Leichen als Fische heraus.«
Camilleri spielt seine literarischen Gestaltungstechniken aus. Er personalisiert, individualisiert die bitteren Schicksale von Männern, Frauen und Kindern, die die Meeresströmungen hierher getrieben haben. Wir lesen die Geschichten eines Fünfzehnjährigen, eines vergewaltigten Mädchens und etlicher anderer Menschen, die sich und ihre Sorgen, Ängste und Schmerzen den Helfern anvertrauen. Weder wir Leser noch die vielen zupackenden Freiwilligen im Ort bleiben davon unberührt. Besonders engagieren sich Beba, Mimì Augellos Frau, und der tunesischstämmige Zahnarzt dottor Osman, der schon seit Jahren hier heimisch ist und jetzt neben medizinischen auch wertvolle Dolmetscherdienste leistet.
Den Sizilianern ist bewusster als uns, wie nahe die Ankömmlinge ihnen stehen. Seit Urzeiten teilen sie die Reichtümer und Wege des »Mare Nostrum« und treiben Handel miteinander. Salvo weiß, »dass die Fischer des Mittelmeers einst eine gemeinsame Sprache gehabt hatten, das Sabir. Wer wusste schon, wie es entstanden und wie es erloschen war. Aber heute hätte dieses Sabir gute Dienste leisten können.« Nun erkennt er betrübliche neuzeitliche Gemeinsamkeiten: »Im Übrigen sind auch die Tunesier heute gezwungen, ihre Häuser, ihr Land und ihre Familien zu verlassen, um zu überleben, wie auch unsere jungen Leute die Insel verlassen müssen, um anderswo Arbeit zu finden.«
Natürlich malt Camilleri kein naiv-einseitiges Bild der Lage. Das Kommissariat von Vigàta hat alle Hände voll zu tun, um die Ordnung aufrechtzuerhalten, den Schlepperbanden beizukommen, der Terrorismusgefahr zu begegnen. Als auf einem der Flüchtlingsschiffe einer der Passagiere fehlt, sucht Polizeipräsident Bonetti-Alderighi seinen dickschädeligen commissario sogleich einzunorden:
»›Ich habe vertrauliche Informationen der Anti-Terror-Einheit. Offenbar hatte sich ein hochgefährlicher ISIS-Kämpfer auf diesem Boot versteckt.‹
›Offenbar oder sicher?‹
›Montalbano, jetzt bloß keine Haarspaltereien, verdammt nochmal. Wir haben die Aufgabe und die Pflicht, ihn zu finden und im Erstaufnahmezentrum festzusetzen.‹
›Gestatten Sie, dass ich Ihnen widerspreche, Signor Questore. Diese Haarspaltereien, wie Sie es nennen, sind äußerst wichtig. Die Boote sind voll mit armen Flüchtlingen, die meisten von ihnen Muslime, und wenn wir nicht zwischen Muslimen und ISIS-Kämpern unterscheiden, tragen wir nur dazu bei, die Ignoranz zu vergrößern und noch mehr Panik und Feindseligkeit zu schüren. Damit steigen wir in das schmutzige Spiel dieser Terroristen ein.‹
Bonetti-Alderighi schwieg. Allerdings nur für einen kurzen Moment.
›Verdammt nochmal, finden Sie mir diesen Terroristen!‹ sagte er und legte grußlos auf.«
Montalbano (in dieser Hinsicht ganz sicherlich das Sprachrohr seines Schöpfers) macht keinen Hehl aus seiner Verbitterung, wie einstige großartige Ideale verspielt wurden und nun die Angst vor Terrorismus instrumentalisiert wird, um das zerschlagene Porzellan unter den alten Teppich zu kehren:
»Ich glaube, dass wir nach dem großen Traum eines geeinten Europas alles Erdenkliche getan haben, um dessen Fundamente zu zerstören. Wir pfeifen auf eine gemeinsame Geschichte, eine gemeinsame Politik, eine gemeinsame Wirtschaft. Das Einzige, was vielleicht gerettet wurde, ist die Idee des Friedens. Wahrscheinlich, weil wir einfach nicht mehr konnten nach Jahrhunderten, in denen wir uns gegenseitig abgeschlachtet haben. Aber das haben wir auch schon wieder vergessen, und jetzt bieten uns diese Migranten eine gute Ausrede, alte Grenzen mit Stacheldraht wiederzuerrichten und neue aufzubauen. Es heißt, dass sich unter den Migranten Terroristen verstecken, aber in Wirklichkeit fliehen diese armen Menschen doch vor den Terroristen.«
Keine Sorge, dass dieser Roman womöglich zum politischen Pamphlet statt zu einem unterhaltsamen Krimi missraten könnte. Nach einem Drittel wechseln Thema und Ton, als signora Elena, eine hochgeschätzte Schneiderin, brutal ermordet aufgefunden wird. (Einhundert Seiten ohne einen einzigen Mord – welcher andere Krimiautor dürfte sich so viel ›Leerlauf‹ erlauben?)
Schon auf den ersten Seiten hatte Livia, wieder einmal zu Besuch in Vigàta, ihrem Salvo den einen oder anderen Schrecken eingejagt. Demnächst steht in ihrem Wohnort Boccadasse eine romantische Festivität an, und zu diesem Anlass muss er sich endlich einmal einen vernünftigen Anzug anfertigen lassen. Sie hat ihm nicht nur sein Einverständnis abgeluchst, sondern auch gleich die Meisterin in der Via Roma 32 aufgesucht und informiert, was sie erwartet. Doch ehe Salvos Anzug fertig ist, wird Elena umgebracht.
Dass eine allseits verehrte und geachtete Dame wie sie, eine zurückgezogen lebende Witwe in den besten Jahren, auf grausame Weise dahingeschlachtet würde, ist ein Verbrechen, das niemand begreift und jeden rührt – selbst den dickfelligen, bärbeißigen Pathologen dottor Pasquano.
Lange tappt Montalbano in diesem wahrhaft vertrackten Fall im Dunkeln, und zahlreiche Wendungen überraschen ihn und uns. Wenn er sich auch eingestehen muss, dass gewisse Alterserscheinungen seine gewohnte Spontaneität bremsen, so verhelfen ihm doch längst bewährte Mittel zum Erfolg: genaues Zuhören, Einfühlungsvermögen, Intuition und Fantasie, dazu die Erfahrung vieler Jahre sowie rätselhafte Hinweise in seinen berüchtigten Träumen und – neu! – die Einflüsterungen einer Hauskatze, der einzigen Tatzeugin. So formuliert er Hypothesen, die seinen Kollegen oft allzu verwegen erscheinen, bis er schließlich aus lauter Einzeleindrücken einen Film zusammensetzt, der den wahren Tatablauf wiedergibt. (Wer im Rückblick genau und kritisch nachprüft, wird nicht ganz überzeugt sein von der Lösung, die uns da verkauft wird. Aber man muss sich ja den Lesegenuss nicht im Nachhinein versauern.)
Im Übrigen bleibt alles beim Alten: Camilleris Erzählstil ist weiterhin konventionell und ein wenig betulich, der Ton (abseits der Flüchtlingsszenen) heiter. Noch immer genießt Montalbano sein Bad im Meer vor der Haustür (bzw. der Terrasse) – wenn er es nicht bei einem (altersgemäßeren) Spaziergang belässt – ebenso wie die delikaten Mahlzeiten, die ihm Enzo in seiner Trattoria oder Adelina zu Hause zubereitet, und am Ende findet er die Drahtzieher in nur vorgeblich ›feinen‹ Promi-Kreisen. Die Beziehung mit Livia trübt zwar noch immer manches Missverständnis und manche beidseitige Biestigkeit, doch insgesamt scheint eine Art nachsichtige Altersgelassenheit einzukehren. Salvo entdeckt gar eine lyrische Ader in sich … (Ob Camilleri womöglich ein Happy End der endlosen Love Story anbahnt?)
Wie so oft sind es Nebenfiguren, zum Teil nicht einmal benamt, die uns in winzigen Dialogszenen zum Lachen bringen und für comic relief sorgen. Der Autor hat ihre Charakteristika leicht und liebevoll zugespitzt, so wie es die besten süditalienischen Krippenschnitzer vermögen, und daher wirken sie so authentisch, dass wir sie mitten auf einem sizilianischen Markt, am Hafen oder in einem Dorf antreffen könnten:
»Mein Sohn ist unschuldig! [...] Dottori, Sie müssen mir glauben, er ist unschuldig! Als seine Mutter spüre ich es tief in meinem Herzen. [...] Lillo, mein eigenes Fleisch und Blut, ist nicht imstande, etwas so Entsetzliches zu tun! Mein Sohn würde sich eher selbst umbringen als jemand anderen.«
Andrea Camilleri ist nie einer gewesen, der sich auf seinen (massenhaft verliehenen) Lorbeeren ausgeruht hätte. Sein einhundertstes Buch ist gelungener als manch schwächere Montalbano-Folge zuvor, die befürchten ließ, er habe uns nichts Neues mehr mitzuteilen. »L’altro capo del filo« aber ist auch in der Übersetzung (von Rita Seuss und Walter Kögler) bestes ›erzähltes Drama‹, tragisch und komisch, unterhaltsam und ernsthaft, abwechslungsreich und tiefgründig, spannend und bedächtig.
Übrigens: Was liest eigentlich Salvo Montalbano, wenn er freie Zeit hat? »Er verbrachte einen geruhsamen Abend. Er schaffte es sogar, ein paar Seiten eines schönen Romans zu lesen, dessen Protagonist, ein Vicequestore aus Rom, ins schneereiche Aostatal versetzt worden war. Montalbano fröstelte schon bei dem Gedanken daran.« [› Rezension]