Semper fortis
"SEMPER FORTIS" ("allzeit stark") – das ist der Leitspruch des englischen Internats, in dem Tommy endlich durch Härte gestählt werden soll. Keinen Leser wird kalt lassen, was der sensible Schwächling, Bettnässer und Nägelkauer durchleidet, wenn ihn seine eher dümmlichen Klassenkameraden mit ekligsten Methoden mobben, wenn der Schulleiter und der gefürchtetste Lehrer ihn prügeln und der Gepeinigte sich anschließend noch bedanken muss. Wie könnte er es wagen, seinen Eltern davon zu erzählen? Die Angst vor weiteren Drangsalierungen schnürt ihm die Kehle zu, versperrt ihm jeglichen Ausbruchsversuch.
Tommys einzige Vertraute ist seine ältere Schwester Diane, die aus eigener Erfahrung weiß, was ihr Bruder durchsteht. Die sehr hübsche junge Frau hat gerade in London eine Schauspielkarriere begonnen und ist in der Lage, ihm die Liebe zu geben, die ihm seine ungewöhnlich alten Eltern nicht zeigen können.
Zum Shootingstar der Filmbranche geworden, lernt Diane den Schauspieler Ray kennen und holt Tommy, wie versprochen, in eine sichere Existenz nach Los Angeles. Hier besucht er eine Schule, tummelt sich oft auf den Filmsets, ist stolz auf seine viel gefragte Schwester, lernt einen Blackfeet-Indianer kennen, der die gefährlichen Stunts für Ray spielt. Schon als kleiner Junge hatte sich Tommy nur für Western und deren Helden interessiert und regelmäßig die einschlägigen TV-Serien verfolgt – nun ist er Teil dieser Traumwelt geworden. Bei Cal lernt er reiten. Findet er jetzt also sein "Glück auf dem Rücken der Pferde"?
Im Gegenteil. Der Horror fängt erst an. Nachdem Diane und Ray geheiratet haben, wird ihre ursprünglich intensive Liebesbeziehung immer mehr von heftigsten, lautstarken Streitereien belastet. Ray kann nicht ertragen, dass Regisseure und Journalisten behaupten, er sei unfähig, während Diane weiterhin Erfolge feiert. Von Eifersucht geplagt, verfällt er dem Alkohol und anderen Drogen. Die Situation spitzt sich zu und endet in einer Katastrophe, in die auch Tommy involviert ist.
Diese Erschütterungen werfen Tommy restlos aus der Bahn, und auch endlose Therapien können ihm kaum Halt geben. Er heiratet Gina, aber traumatisiert, wie er ist, kann er ihr kein Lebenspartner sein. Die beiden trennen sich wieder, und seinen Sohn Danny lernt er kaum kennen. Erst als Fünfzigjähriger findet Tommy langsam seinen inneren Frieden, indem er an einem Dokumentarprojekt über Leben und Kultur der Blackfeet-Indianer arbeitet. Auch sein Alkoholproblem bekommt er in den Griff.
Eines Tages erhält er einen völlig unerwarteten Anruf von seiner Exfrau Gina. Er erfährt, dass Danny mittlerweile als Colonel der US-Marines, also einer Elitetruppe, im Irak stationiert war, wo er bei einem terroristischen Bombenanschlag in einer entscheidenden Sekunde falsch reagiert und unschuldige Menschen erschossen habe. Nun werde er vor ein Militärgericht gestellt, und ihm drohe die Todesstrafe. Gina bittet Tommy um Hilfe ...
"Die wir am meisten lieben" ist ein düsterer Roman, der den Leser am Ende mit einem unguten Gefühl entlässt. Tommy wuchs mit einer folgenschweren Lüge auf und muss viele Jahre lang ein furchtbares Geheimnis schweigend bewahren. Erst seinem erwachsenen Sohn Danny öffnet er sich. Jedoch reicht es nicht aus, sich gegenseitig die Wahrheit anzuvertrauen – das allein kann keinen von seiner Schuld reinwaschen. Die Sühne bleibt aus.
Nicholas Evans wurde durch seinen Bestseller "Der Pferdeflüsterer", der auch als Kinofilm erfolgreich war, berühmt. Nach wie vor stehen dem Autor Natur und Tierwelt besonders nahe, und so verwebt er diese Thematiken und Motive auch in seinem neuesten Roman mit denen der Western, der Cowboys und Indianer.
Alle vier Protagonisten – der junge Tommy, die hoffnungsvolle Diane und Ray in den Handlungssträngen der Vergangenheit, dann, im Handlungsstrang der Gegenwart, Tommy als Erwachsener, eingebunden in den Prozess um seinen Sohn Danny – sind tragische Figuren mit bedrückenden Schicksalen. Alle verheimlichen etwas aus ihrer Vergangenheit, werden zu Opfern ihrer Lügen, zahlen einen hohen Preis (vor allem Diane). Der einfühlsame, subtile Erzähler führt den Leser langsam an die vier Wahrheiten heran, gestaltet die seelischen und körperlichen Verletzungen der Figuren sehr überzeugend und folgerichtig.
Ein kleiner Wermutstropfen hat mich allerdings genervt: Auf etlichen Seiten des Buches füllen unendlich viele Namen von Schauspielern, Regisseuren und Filmen Zeile um Zeile – kaum gelesen, schon vergessen. Ein bisschen viel Hype um das glamouröse Hollywood der Zeit Gary Coopers und seiner Konsorten. Aber das muss man dann einfach überfliegen ...