Ungesunde Beschützerinstinkte
Amsterdam. Der Allgemeinmedinziner Marc Schlosser ist ein verantwortungs- und hingebungsvoller Familienvater für seine Frau und seine beiden Töchter. Eigentlich hatte er sich Söhne gewünscht. Doch mittlerweile – Lisa und Julia sind 11 und 13 Jahre alt – genießt er die Vorzüge: Mädchen sind lieber und weniger anstrengend als Jungs, und ihre Zimmer riechen angenehm. Als Vater muss er sie beschützen – eine Verpflichtung, die jeder Mann gegenüber einer Frau hat, doch Marc ist in dieser Hinsicht besonders empfindlich: Sollte sich je ein Mann seinen Mädels unsittlich nähern, könnte er zum Tier werden.
Marcs Praxis läuft gut. Seine Patienten sind auf 20 Minuten getaktet, und er täuscht ihnen größtmögliche Aufmerksamkeit vor, obwohl ihn ihre Wehwehchen eigentlich gar nicht interessieren. Wenn sie so vor ihm sitzen, findet er ihre Körper schon bekleidet schlimm genug – vor dem Anblick ihrer Nacktheit aber graust es ihn. Wahrscheinlich stinken sie, sind von Bakterien bevölkert, zwischen ihren Zehen gedeihen Pilze, und sie müssen sich an Stellen kratzen, bis es blutet. Nein, das kann man sich doch wirklich ersparen. Wenn ein Patient absolut darauf drängt, na gut, dann ab hinter den Wandschirm, während Marcs Gedanken schon abgeschweift sind, zum Beispiel auf die Achterbahn einer Kirmes oder in ein Flugzeug, das gerade explodiert ...
Eines Tages erhält er Besuch von Ralph Meier, einem anerkannt guten Theaterschauspieler. Er leidet an den Nebenwirkungen seines massiven Körpers.
Von Shakespeare-Aufführungen hat Marc längst die Nase voll – ständig diese nervigen experimentellen Inszenierungen mit Schauspielern in Windeln, mit Mülltüten, als Junkies und Waisenkinder aus Simbabwe oder sogar nackt mit Schnürsenkeln zwischen den Arschbacken. Aber die Einladung zur Premiere von Richard II., die sogar seine Frau Caroline reizt, nimmt er an.
Beim anschließenden Sektempfang lernt Caroline Ralph nebst Ehefrau Judith kennen. Ralph entpuppt sich als attraktiver womanizer; er betrachtet die Frauen mit begehrlichen Raubtierblicken, und Marc findet dieses taxierende Körperscreening obszön, insbesondere, wenn die Blicke seiner attraktiven Frau Caroline gelten.
Anlässlich einer Party laden die Meiers Marc und seine Familie ganz unverbindlich ins Sommerhaus an der französischen Küste ein. Aber Caroline will ganz bestimmt nicht zu diesem schmierigen Dreckfink Ralph, sondern lieber campen. Doch hatte Marc schon während der Party Blicke mit Judith getauscht, und so wählt er jetzt einen Stellplatz in der Nähe des Meierschen Hauses aus. Die Rechnung geht auf: Ganz zufällig trifft man sich am Strand, das Zelt wechselt seinen Standort, die Familien genießen zusammen die Sommersaison.
Für lebhafte Gespräche zwischen Marc und seiner Frau sorgt ein überraschender Besucher, nämlich Ralphs 60-jähriger amerikanischer Regisseur Stanley, der mit seiner knapp18-jährigen Gespielin auftaucht. Was sollen die Töchter nur davon halten? Gemeinsam verbringt man die Tage mehr oder weniger freizügig am Pool, der dicke Ralph liebt es splitternackt, treibt neckische Spiele, grillt Fisch und Fleisch in Unmengen, knallt Böller am Strand ab. Die Luft knistert nur so vor lüsternen, hormonellen vibrations.
Ralphs älterer Sohn Alex hat den Auftrag, abends am Strand Julia zu beschützen – aber obwohl er sich in sie verliebt hat, lässt er sie allein – und dann geschieht, was jeder Leser ahnt: Julia wird im Sand zwischen den Felsen gefunden, vergewaltigt und bewusstlos. Marc handelt sofort: Er bringt sie schnellstmöglich weg vom Tatort, und noch bei Nacht verlassen sie das Sommerhaus. Die Polizei will er nicht einschalten, denn Julia kann sich an nichts erinnern; warum soll er ihr also die Tortur der Befragungen antun?
In der Folgezeit kommt Marc nicht zur Ruhe, vernachlässigt sogar seine Praxis. Alex und Ralph gehen ihm nicht aus dem Sinn – sie hatten etwas zu verbergen ...
Das Schicksal spielt Marc den Ball zu, als Ralph Meier nochmals in die Praxis kommt – wegen einer schmerzhaften Geschwulst. Marc erkennt sofort, dass hier sofort gehandelt werden müsste – aber muss er das diagnostizieren? Fehler passieren doch jedem Arzt. Und so liegt Ralph ein halbes Jahr später todkrank im Krankenhaus, bis Marc ihm den tödlichen Cocktail verabreicht ...
Durfte er sich zum Richter erheben, und hat er überhaupt den wahren Täter zur Strecke gebracht?
Marc Schlosser hasst nicht nur seine hypochondrischen Patienten, sondern leidet selbst an einer Körperparanoia und vertritt ein verqueres Weltbild. In Erinnerung an seine Biomedizinvorlesungen bei Professor Aaron Herzl interpretiert er Sexualität so, wie es ihm passt: Die biologische Uhr von Frauen und Männern ticke anders; Frauen haben ein Haltbarkeitsdatum, während Männer unbegrenzt für den Fortbestand der Art sorgen – und das mit vielen Frauen. Ambivalent, wie Schlosser ist, geht er mit Judith fremd und hält das für normal, verabscheut aber gleichzeitig das geile Verhalten anderer Männer. Der durch die zivilisatorische Entwicklung unterdrückte menschliche Instinkt befiehlt ihm, den Vergewaltiger der Frau zu kastrieren, den Mörder des Bruders umzubringen. Warum sollte Marc seine Tochter dann nicht rächen dürfen?
Herman Koch hat mit "Sommerhaus mit Swimmingpool" einen außergewöhnlichen Krimi geschrieben. Seine Phantasie ist bissig, rabenschwarz und voller Humor, doch mancher Lacher bleibt einem im Halse stecken. Wir verfolgen ein Familiendrama, dessen Protagonist ein ungewöhnlicher Arzt ist; sein Verhalten, seine Prüderie, seine Heuchelei, sein Nicht-wahrhaben-wollen, dass seine Tochter sich zur Frau entwickelt, ihre Reize testen will, führen zur Katastrophe.
Das Buch ist absolut empfehlenswert und wurde in die Liste meiner ganz privaten aktuellen Lesetipps aufgenommen.