Rezension zu »Mit geballter Faust« von Nicoletta Giampietro

Mit geballter Faust

von


In der aufwühlendsten Phase der italienischen Nachkriegszeit, den „bleiernen Jahren" des Terrorismus, müssen zwei heranwachsende Schwestern schwere Entscheidungen treffen: Sollen sie sich den hehren Zielen der revolutionären Bewegung anschließen oder der differenzierten Weltsicht ihrer Eltern folgen?
Belletristik · Piper · · 384 S. · ISBN 9783492071659
Sprache: de · Herkunft: de

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Die unwiderstehliche Attraktivität des Guten

Rezension vom 26.01.2023 · noch unbewertet · noch unkommentiert

Nicoletta Giampietro hat eine bemerkenswerte Vita, 1960 geboren, wuchs sie in Mailand auf, studierte dort und in Tübingen Politik­wissen­schaften und Geschichte und lebt seit 1986 in Deutsch­land. Sie spricht fünf Sprachen und verfasst ihre Romane auf Deutsch.

Ihr Debüt von 2019 (»Niemand weiß, dass du hier bist« [› Rezension]) spielt in den Kriegs­jahren im besetzten Siena. In ihrem Nach­folge­werk versetzt sie uns wieder in ein politisch bedeut­sames Setting, nämlich die Sieb­ziger­jahre in Mailand. Es sind die anni di piombo (»Jahre des Bleis«), in denen Gruppen vom äußersten rechten Rand Anschläge aus­führ­ten, um eine neue Ordnung zu errichten und die Linke zu gewalt­samer Gegen­wehr zu provo­zieren. Auch Teile der extremen Linken radi­kali­sier­ten sich und verübten zahl­reiche Attentate, so dass sich die Aus­einander­setzung zwischen den Extre­misten unter­ein­ander und den staat­lichen Institu­tionen anderer­seits blutig zuspitzte. Ihren Tiefpunkt erreichte die »Bleierne Zeit«, als die Terro­risten­gruppe Brigate Rosse (»rote Brigaden«) den Chef der italieni­schen Christ­demo­kraten, Aldo Moro, ent­führte und ermor­dete. Er war der promi­nen­teste der 370 Menschen, die in dem von Fana­tismus und äußerster Gewalt geprägten Zeitraum ihr Leben verloren.

Dieses düstere Kapitel der italieni­schen Geschichte, das seither wissen­schaft­lich, filmisch und litera­risch viel­fältig auf­gearbei­tet ist, wählt Nicoletta Giam­pietro zum histo­rischen Hinter­grund ihres ergrei­fenden Romans. Neben der Dar­stel­lung der politi­schen Atmos­phäre jener Zeit überzeugt er in zwei weiteren Dimen­sionen: als ein­dring­liche Familien­geschichte mit lebens­nahen Charak­teren und als Illustra­tion zur Psycho­logie der Verfüh­rung. Es geht der Autorin darum zu zeigen, wie tief zerrissen die italieni­sche Gesell­schaft ist, dass die sich zuspit­zende politi­sche Aus­einander­setzung selbst stabile, gut funk­tionie­rende Familien­bande zu spalten vermag. Bei­spiel­haft erleben wir dies an der (etwas zu modell­haften, zu ideali­sierten) Konstel­lation eines liebe­vollen, ver­trauens­vollen, liberalen und gut situ­ierten Arzt­haus­haltes, in dem die beiden Schwes­tern Giulia und Gabriella aufge­wachsen sind. Wie reagieren sie auf den Ansturm von Idealen und Anfor­derun­gen, der ihnen ent­gegen­schlägt?

Die Handlung des Romans beginnt mit einer öffent­lichen Trauer­kund­gebung histori­schen Ausmaßes. Drei Tage zuvor, am 12. Dezember 1969, hatte eine Bomben­explo­sion in einer Bank­filiale siebzehn Menschen getötet und achtund­achtzig verletzt. Jetzt sind Tausende auf der Piazza del Duomo in Mailand zusam­men­gekom­men, um Mitgefühl und Respekt vor den Opfern zu bekunden und für Frieden zu beten. Auch Giulia (14), Gabriella (16) und ihre Eltern sind darunter. Der Vater hatte in der Nacht des Attentats einen Jungen operiert, der bei der Explosion einen Fuß verloren hatte. Die Gespräche der Eltern und der Um­stehen­den bringen Bitteres und Neues an die Ohren der Mädchen (»Warum dieses Gemetzel?« Das waren »Anar­chisten«!) und lösen bei Gabriella unbändige Wut aus: »Wer so etwas tut, ist kein Mensch.«

Nach den Sommerferien beginnt für Giulia ein neuer Lebens­abschnitt. Sie wechselt auf das Liceo, wo sie endlich in die Welt der Großen eintritt und mit Michele und Carmela neue Freunde findet. Gabriella, die ange­him­melte, stets vorbild­liche große Schwester, erleich­tert ihr das Einleben und lässt sie Teil ihres intellek­tuellen Kreises werden. Sie disku­tieren in der Assemblea über ihre Zukunft, über die Radi­kalisie­rung, den Terror in der Stadt, sie enga­gieren sich und nehmen an Demon­stratio­nen teil. Die junge, selbst politi­sierte Lehrer­schaft sieht dem wohl­wollend zu, auch wenn Unter­richt ausfällt. Wie zuvor die Studenten, werden jetzt auch die Schüler invol­viert in die Aus­einander­setzun­gen zwischen Rechten und Linken, die ihre Gegen­sätze mit wach­sender Bruta­lität gegen­einan­der aus­fechten.

Die Politik nimmt selbst in dem Zimmer, das die beiden Schwes­tern gemeinsam bewohnen, immer mehr Raum ein. An Gabriel­las Wand hängen Poster von Che Guevara und Karl Marx, und eines Tages liegen Stapel von Flug­blättern herum, die Gabriella vor Unter­richts­beginn in der Schule verteilen will. Sie laden ein zu einer Demon­stra­tion der Lotta Continua (»Ständiger Kampf«), einer links­radika­len außer­parla­menta­rischen Gruppie­rung und Rivalin der Brigate Rosse. Erste Heimlich­keiten und Ver­tuschun­gen (»die Eltern flippen aus … sag ihnen nichts«) befremden und besorgen Giulia und stürzen sie schließ­lich in einen Konflikt, als sie aus den Abend­nach­richten erfährt, dass die Demon­stration völlig aus dem Ruder gelaufen ist, und Gabriella sich erst spät heimlich ins Haus schleicht – verletzt, verdreckt und stinkend. Giulia ist zerrissen zwischen der Sorge um ihre Schwester, ihrer Not, die Vorgänge nicht recht zu verstehen, dem Wunsch, die Eltern zu Rate zu ziehen, und der Gefahr, ihr Ver­trauens­verhält­nis zu Gabriella zu verlieren.

Aus dem Charakter der kindlich-naiven, gänzlich unpoliti­schen Giulia ent­wickelt die Autorin eine kritische Beob­achterin einer gefähr­lichen Ent­wick­lung. Nachdem die verschie­denen politi­schen Gruppie­rungen, unter­einan­der im Kon­kurrenz­kampf, bereits die empfäng­lichen Teile der Studen­tenschaft für ihre radikalen Ziele und Aktivi­täten begeis­tern konnten, versuchen sie nun, Nachwuchs aus jüngeren Kreisen zu requi­rieren.

Bald ist Gabriella völlig aufgegangen in den Idealen der Lotta Continua und ihrem Sendungs­bewusst­sein. Unwis­sende Schüler müssen aufge­klärt werden über globales Unrecht wie den Vietnam­krieg, wobei hinter allem mächtige Kapita­listen stecken, die Menschen ausbeuten und unter­drücken. Ihre eigenen Methoden dagegen preisen sie als basis­demo­kratisch, rein rational und den Willen der Völker reprä­sentie­rend. Sie veran­stalten »Mobili­sations­wochen« mit Infor­mations­ständen und Debatten. Wer sich kritisch zu den vor­gebrach­ten Theorien äußert oder auch nur schweigt, wird kurzer­hand als »Faschist«, Spalter oder konter­revolutio­närer Feind abge­stempelt.

Auch bei Giulia verfangen die simpli­fizie­renden Erklä­rungen über die Unrechts­politik. Sich einem gerechten Kampf anzu­schlie­ßen, kann doch nicht falsch sein. Umso über­raschen­der treffen Einwände, Sorgen und Entsetzen der Eltern auf ihren Enthu­sias­mus. Während das Mädchen von fried­lichen Menschen­ansamm­lungen auf Mailands Straßen schwärmt, berichten die Eltern von Stein­würfen, erbit­terten Kämpfen mit der Polizei, immer jüngeren Verletz­ten auf Vaters Kranken­station und formu­lieren ihre Argumente, warum es nicht richtig sein kann, die Welt verbes­sern zu wollen, indem man jeden politisch Anders­denken­den zum Feind erklärt und mit Gewalt ver­nichtet.

Die Ruhe, mit der die Eltern ihre Ansichten vertreten, ihr umfas­sendes Hinter­grund­wissen, die Verweise auf andere, komplexe Krisen­herde in der Welt (Militär­putsch in Chile, Attentat der Palästi­nenser während der Olympiade in München …) und die Offenheit, die sie bei Gesprä­chen mit ihren Kindern und deren Freunden über brisante Themen wie Verhütung, Abtrei­bung, Gleich­stellung der Frau bewiesen hatten, führen Giulia zu einer diffe­renzier­teren Betrach­tungs­weise als der ihrer bereits indoktri­nierten Schwester. Deren zuneh­mende Radikali­sierung können auch die Eltern nicht aufhalten – zu stark ist der propa­gandis­tische Einfluss der Compagni (»Genossen«), zu groß ihre Empfäng­lichkeit für die große und gute welt­politi­sche Sache.

Die Entwicklung des (durchaus vorher­seh­baren) Plots erreicht ihren Wende­punkt, als Gabriella Spenden­gelder für die Revo­lution in Chile ein­treiben soll und dafür auch Giulia und deren Freund einspannt. Während Michele an diesem Punkt aussteigt, lässt sich Giulia wieder über­zeugen. Die Folgen sind für beide drama­tisch. Als die Eltern heraus­bekom­men, wohin ihre Gebüh­ren für die Geigen­stunden gegangen sind, ziehen sie autoritär die Reißleine. Michele aber wird jetzt von den eigenen Kameraden zum »dreckigen Faschis­ten« erklärt, gegen den sich primi­tivster Hass entladen darf. Da machen sich bei Giulia Zweifel breit am Wert der Lobreden, die Gabriella ihr für ihre helden­hafte Teilnahme an einer besonders aggressiv verlau­fenen Demons­tration hält (»gelebter Antifa­schismus«).

Neben der eindringlichen Familien­geschichte mit der über­zeugen­den, feinfüh­ligen Gestal­tung der Charak­tere liefert Nicoletta Giam­pietro ein Lehrstück über die Mecha­nismen, mit denen politi­sche Akti­visten jeder Couleur guten Willen, Begeis­terungs­fähig­keit, Uner­fahren­heit und Unwissen junger Menschen seit jeher aus­nutzen, um sie zum Mit­machen zu verfüh­ren und gegen Anders­den­kende aufzu­hetzen. Man kennt die Verhee­rungen, die dadurch im Lauf der Geschichte immer wieder aufs Neue ange­richtet wurden, sowohl in der Seele der jungen Menschen als auch in deren Familien als auch in der Gesell­schaft, und doch wieder­holt sich dieses Geschehen bis zum heutigen Tag auch in »aufge­klärten« Ländern wie unse­rem. Seien die postu­lierten Ziele auch noch so edel, die Manipu­lation von Kindern und Jugend­lichen zu Werk­zeugen vermeint­lich guter Ideolo­gien bleibt verwerf­lich.


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