Rezension zu »Niemand weiß, dass du hier bist« von Nicoletta Giampietro

Niemand weiß, dass du hier bist

von


Lorenzo verbringt die Kriegsjahre in Siena. Der kluge, empfindsame Junge beobachtet aufmerksam, was um ihn herum vorgeht. Zwischen all den verwirrenden Widersprüchlichkeiten, dem Guten und dem Bösen sucht er den für sich richtigen Weg.
Historischer Roman · Piper · · 416 S. · ISBN 9783492059183
Sprache: de · Herkunft: de · Region: Toskana, Umbrien, Marken

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Wer hat Recht?

Rezension vom 13.06.2019 · 5 x als hilfreich bewertet · noch unkommentiert

Als Lorenzo Guerrini drei Jahre alt war, wurde sein Vater Umberto nach Libyen versetzt. Der Militär­ingenieur sollte mithelfen, Italiens Kolonie für Mussolinis Volk nutzbar zu machen. Die glücklichen Kinderjahre in Tripolis finden ein Ende, als der Duce an der Seite Hitlers in den Weltkrieg zieht und Nordafrika zum Kriegs­schau­platz wird. Der wagemutige General Rommel stürmt im Frühjahr 1941 von Italienisch-Libyen aus ostwärts, fegt die Feinde beiseite wie »Gibli, der Wüstenwind,« und erntet allgemeine Bewunderung. Auch Lorenzo ist begeistert und voller Stolz, dass sein Papà mit dem »Wüstenfuchs« kämpfen und als Held heimkehren würde. Die Sorgen von Mutter Luisa dagegen sind ihm unver­ständ­lich – und schon gleich ihre über­raschende Entschei­dung, mit ihm für die Sommer­ferien zu Opa und Tante ins ferne Siena zu reisen.

Die Stadt in der Toskana ist mit all ihren markanten Sehens­würdig­keiten, Plätzen und Gassen der Haupt­schau­platz des Romans. Hier entwickelt die Autorin eine atmosphä­risch dichte Handlung, die durchweg die Spannung hoch hält, zutiefst anrührt und immer stärker bedrückt. Sie erzählt aus Lorenzos Perspektive, wie er die Wirren der Kriegsjahre erlebt und wie sie immer wieder sein Weltbild verändern und verun­sichern. Denn in dieser schwierigen, ereignis­reichen, schmerz­vollen Zeit gibt es keine einfachen Lösungen, sondern eine ganze Palette wider­streiten­der Positionen. Der etwa zwölf­jährige Lorenzo setzt sich mit Fragen auseinander, denen viele Erwachsene noch heute lieber ausweichen.

Nach den Berichten seines Vaters hatte sich Lorenzo Siena als eine Art Ritterburg mit Türmen, Palästen und einer Stadtmauer ausgemalt. Doch statt feiner Burg­fräu­lein laufen magere, verhärmte Menschen in grauer, viel zu großer Kleidung über holprige, von Pferde­äpfeln und Ochsen­fladen verdreckte Straßen. Lorenzo zieht in das tradi­tions­reiche Haus seines alters­schwachen Großvaters und Papàs jüngerer Schwester, wo man Wert auf Unab­hängig­keit und Gedanken­frei­heit legt. Zia Chiara, eine engagierte Lehrerin und Anders­denkende, geht ihrer eigenen, bisweilen geheimnis­vollen Wege und macht um die Befind­lich­keit des Gastes nicht viel Aufhebens. Den Haushalt führt Cesarina, eine Hirten­tochter mit unter­setztem, üppig aus­laden­dem Körperbau, die den schmäch­tigen Jungen »aus einem Nest von weichen Falten« mit wässrigen Augen anhimmelt, herzt und liebevoll umsorgt.

Nicht nur über solche Wesensunterschiede denkt Lorenzo nach. Niemand nimmt Einfluss auf ihn. Aus eigenem Antrieb beobachtet und registriert er feinfühlig, wie sich Freunde und Nachbarn verhalten, was die Stadt und ihre Einwohner durchleben, wie sich alles schleichend verändert. Er diffe­renziert, zweifelt, hinterfragt auch seine eigenen Ansichten. Dennoch gelingt es ihm nicht, die konfuse Welt der Erwachsenen zu verstehen. Wie kann Mamma, während er Gott jeden Abend um Schutz und Sieg für Duce und Papà bittet (»hilf ihm, ein Held zu werden«), ihn hier im Stich lassen und nach Rom fahren, um ihren Mann aus Rommels Corps zu holen? »Papà konnte etwas so Ehrloses nicht wollen. Oder doch?«

Kompliziert und im Wesen unterschiedlich sind auch Lorenzos Freundschaften. Franco Tacconi, dem selbstbe­wussten, derben Sohn der Besitzerin des Ladens nebenan, gibt er Nachhilfe im Rechnen und bekommt dafür Lebens­mittel. Wie alle Klassen­kame­raden teilt Franco den Enthusias­mus ihres Lehrers, der in flammenden Reden rühmt, wie Mussolini das römische Erbe Italiens aufge­griffen, das Land um­gekrem­pelt, Unmögliches geschafft, die Pontini­schen Sümpfe trocken­gelegt habe. Wie sein älterer Bruder Giovanni, 16, würde sich Franco sofort und freiwillig für den Duce in den Krieg stürzen. Zwischen eigener Begeis­terung, Skepsis und Ver­unsiche­rung begleitet ihn Lorenzo zu den Exerzier­übungen der »Balilla« (Vorbild­organi­sation für die Hitler­jugend).

Mit Daniele Neri dagegen verbindet Lorenzo Intellektualität und das Interesse an den Künsten. Sie begegnen einander, als Lorenzo am Bahnhof die Entladung eines Güterzuges voller Schwer­verletz­ter beobachtet. »Die dünnen Militär­decken über den Soldaten [wirkten] verdächtig flach an den Stellen, wo sich ein Arm oder ein Bein hätte wölben sollen.« Daniele erklärt Lorenzo die wunderbaren Boden­mosaiken im Dom, darunter eine Darstellung des Kinder­mordes zu Bethlehem, die sich fest in Lorenzos Gedächtnis haftet.

Zwar besucht Lorenzo weiterhin die Versammlungen der »Balilla«, wo er Franco und andere trifft, doch irgend etwas hat sich verändert. Feuer und Flamme für kämpfe­rische Aufgaben und kommendes Heldentum sind abgekühlt, man zieht ihn wegen seiner Schwäch­lich­keit auf, und eine Meldung im Radio (Zia Chiara hört heimlich BBC) lastet schwer auf seinem Herzen: Der Krieg in Afrika sei verloren.

Mit der von den Deutschen forcierten und von italienischen Faschisten wie den Tacconi begrüßten Ver­schär­fung der Rassen­doktrin (auch sie ein Thema in der Schule) werden die Juden der Stadt nicht mehr ›nur‹ diskrimi­niert. In Nacht- und Nebel­aktionen werden ganze Familien abgeholt, in Lastwagen gepfercht und abtrans­portiert. Wohin? Das kann sich kaum jemand vorstellen. Auch Familie Neri glaubt, die Juden dürften bald zurück­kehren, nachdem die Deutschen ihre Papiere kontrol­liert haben. Lorenzos Vorahnungen nehmen sie nicht ernst, und so kann der nur entsetzt zusehen, was mit seinem Freund Daniele geschieht. Erschüt­ternde Szenen wie diese erzwingen schicksal­hafte Entschei­dungen, und nicht selten werden gerade dann Grenzen über­schritten, Erwartungen Lügen gestraft, im Inferno Mensch­lich­keit bewiesen. In der Gestaltung solcher Szenen zeigt sich die Qualität dieses Romans.

Der Plot endet nach der Befreiung Sienas im Sommer 1944. Die einen feiern ein Freudenfest über den frischen Wind der Freiheit und die Überwindung von Diktatur, Krieg, Hunger und Kälte, während manche Ver­antwort­liche und Kollabo­ranten sich beeilen, ihr Fähnchen zu drehen, und sich als Wider­ständ­ler oder Partisanen stilisieren.

Nicoletta Giampietros vielschichtiger Roman zeichnet sich durch eine besonders feinfühlige und differen­zierte Charakter­zeich­nung aus. Das gilt als Erstes für den Protago­nisten. Einerseits ist Lorenzo insofern idealisiert, als seine hell­sichti­gen Beobach­tungen und Gedanken­gänge, seine Ent­schluss­kraft und seine mutigen Taten über das hinausgehen, was von einem Jugend­lichen an Reife und Überblick erwartet werden kann, selbst wenn schwere Zeiten die Reifung beschleu­nigen. (Beispiels­weise stellt er im Gespräch die mörderi­schen Angriffe der Partisanen auf deutsche Soldaten angesichts der vielfach grausameren Ver­geltungs­aktionen infrage.) Anderer­seits ist er auch vor seinem eigenen Gewissen keineswegs so ein strahlender Held, wie andere am Ende des Romans ihn sehen. Er ist nüchterner und selbst­kritischer.

Immer wieder überraschen uns Brüche im Bild der Charaktere, etwa solcher, die sich ihrem faschisti­schen Umfeld anpassen müssen, ohne jedoch den Sinn für Gut und Böse zu verlieren. Mancher ahnt, was im Hause Guerrini an Subversivem vorgeht, und behält seine Beobach­tungen dann doch für sich.

Die Autorin Nicoletta Giampietro, 1960 geboren, wuchs in Mailand auf, studierte dort und in Tübingen Politik­wissen­schaften und Geschichte und lebt seit 1986 in Deutschland. Sie ist verheiratet und hat vier erwachsene Kinder. Sie spricht fünf Sprachen und hat ihren Debütroman auf Deutsch verfasst. Als Grundlage dienten ihr nach eigener Auskunft die »kostbaren« Erinne­rungen ihres Vaters und ihrer Tante, und etliche Schauplätze und Figuren sind mit der Geschichte ihrer Familie verbunden.

Dieses Buch habe ich in die Liste meiner 20 Lieblingsbücher im Frühjahr 2019 aufgenommen.


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