Rezension zu »Das Lavendelzimmer« von Nina George

Das Lavendelzimmer

von


Belletristik · Knaur · · Gebunden · 382 S. · ISBN 9783426652688
Sprache: de · Herkunft: de

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Vergesst das Leben, Lieben, Lesen nicht!

Rezension vom 01.09.2013 · 67 x als hilfreich bewertet mit 7 Kommentaren

»Ein Meer aus Lebenszeichen« ist das Wohnhaus, in dem der fünfzigjährige Jean Perdu in Paris lebt – eine schöne Metapher für das bunt gemischte Völk­chen von Individualisten, die Jean umgeben. Da sind: – das schon etwas ältere Ehepaar Goldenberg, das sich ständig streitet – die ehemalige Pianistin Clara Violette, die inzwischen an ihren Elektrorollstuhl gefesselt ist – Che, der blinde Koch, der sich auf seinen Geruchssinn bedingungslos verlassen kann – der aus Ghana stammende Kofi, ein Podologe – die Witwe Madame Bomme, bei der sich regelmäßig ein Damenkränzchen trifft.

In der dritten Etage ist kürzlich der Schriftsteller Maximilian Jordan (25) eingezogen. Aber der kann und will wohl nicht viel von seiner Umwelt wahrnehmen. Er isoliert sich mit maßgeschneiderten Gehör­pfropfen, über denen er Ohrenschützer und bei Kälte zusätzlich noch eine Wollmütze trägt; all das dürfte genügen, um den Geräuschpegel auf Level Null zu dämpfen.

Ein bisschen kauzig ist auch Jean Perdu selber. Vor gut zwanzig Jahren hat er in einem Anfall sein gesam­tes Mobiliar zerdeppert. So lebt er noch heute in einer auf das Lebensnotwendigste reduzierten, dekor­freien Wohnung. Zwei seiner Zimmer nutzt er gar nicht mehr. Verschlossen ist auch das »Lavendelzimmer«, sein ehemaliges Liebesnest, in dem er sich über fünf Jahre lang mit Manon geliebt hatte und wo er ihr ein selt­sames Versprechen geben musste: »Ich wünsche mir, dass du vor mir stirbst.« Doch dann hat sie ihn ver­lassen, um Luc, einen Weinbauern aus der Provence, zu heiraten. Einen Brief hat sie ihm geschickt, aber der verletzte, verbitterte Jean hat ihn nie geöffnet; noch immer liegt er verschlossen in einer Schreib­tisch­schublade.

Jean Perdus Lebensinhalt heißt »Lulu«. Das ist ein Schiff, das am Ufer der Seine dümpelt und vollgestopft ist mit Büchern. Ein Schild mit der Aufschrift »La pharmacie littéraire«, die Literarische Apotheke, lockt die vorbeiflanierenden Spaziergänger. Nachdem Perdu jahrzehntelang gelesen und gelesen hat, empfiehlt er heute seinen Kunden Bücher, die nicht nur ihren Lesehunger stillen, sondern auch solche, die Trost spen­den, ja heilen können, wo kein Arzt oder Therapeut mehr weiter weiß. Seine Bücher lindern Schwer­mut, Heimweh, Liebeskummer, Ängste aller Art, ob vor dem Leben, dem Älterwerden oder dem Sterben.

Nur sich selber zu therapieren, seine ihn immer noch quälende Seelenpein zu besiegen, sich endlich zu öff­nen, um Glück zu erleben und nach Jahren der Abstinenz mal wieder eine Frau zu berühren – das vermag Perdu bis heute nicht.

Da tritt die schöne Catherine in sein Leben. Obwohl sie nicht kochen kann und nicht einmal Teller oder Besteck besitzt, lädt sie ihn zum Essen ein. Die beiden kommen sich näher. Catherine bringt Perdu nicht nur dazu, ihr von Manon zu erzählen, sondern sogar den verschlossenen Brief zu öffnen. Was Jean darin zu lesen bekommt, ist bitter und beschämend für ihn: Manon hätte damals dringend seine Hilfe benötigt. Jetzt will Jean sich auf den Weg machen; er muss Manon finden – vielleicht kann er noch etwas gutmachen …

So legt die »Lulu« ab und tuckert auf der Loire, der Rhône und vielen Kanälen hinunter in die Provence. Mit von der Partie ist Max, auf der Flucht vor sich selber und auf der Suche nach Geschichten, denn seine Schreibblockade macht ihn fertig. Als das gemeinsame Budget schnell aufgebraucht ist, bezahlt man Schleusen- und Hafengebühren und sogar das tägliche Brot mit Naturalien. Denn irgendein passendes Buch hat Jean für jeden dabei.

Indem die beiden dahinschippern, passieren sie herrliche Landschaften, lernen sympathische Menschen kennen und nehmen einen weiteren Gast bei sich auf. Am Ende ihrer Flussfahrt findet jeder der Three Men in a Boat genau die Frau, die er sich erträumt hatte.

Was ziemlich seicht und kitschig klingt, hat die Autorin gar nicht so platt gestaltet. Es sind halt die Zufälle des Lebens, die diese Menschen zusammenführen, und Nina George erzählt sie ansprechend, einfühlsam, bedächtig, phantasievoll, poetisch – ein Märchen auf 382 Seiten.

Darüber hinaus hat sie sich eine ausgewachsene Fleißkarte verdient, denn sie fügt ihrem Roman einen An­hang bei, der (neben Rezepten aus der Provence) »Jean Perdus literarische Notapotheke von Adams bis von Armin« bereithält – eine Literaturliste, die zu einem geschätzten Drittel bekannte Klassiker (»Moby Dick«, »Der Mann ohne Eigenschaften«), ansonsten einen bunten Mix von Gattungen und Genres unter­schiedlichster Autoren in ein paar Wörtern auf ihre Indikation und Nebenwirkungen hin kondensiert. Setzt Nina George das Werk Jean Perdus fort? Identifiziert sie sich voll und ganz mit seinem Lebenshilfe-Kon­zept?

Trotz alldem konnte mich das Buch nicht wirklich packen. Da ist einerseits das Duftig-Fluffige, das natür­lich Fließende in Handlungsgang und Erzählton. Es gibt nette Überraschungen und unterhaltsam-heitere Pas­sagen. Doch steckt in der Figur des Protagonisten von Anfang an zuviel selbstauferlegtes Pathos. Ein erwachsener, umfassend belesener Mann, der in der quirligen Weltmetropole Paris lebt, sich jedoch Jahr­zehnte lang in einen inneren und äußeren Kerker einschließt, weil er über die Liebe seines Lebens nicht hinwegkommt – das ist mir zu dick aufgetragen: eine weltfremde, konstruierte Dramatik, der der spre­chen­de Name mit einem ganzen Strauß von Bedeutungen ein schweres Krönchen aufsetzt (»Jean Perdu«: der verlorene, der herbe, abgeschiedene, verkommene, versunkene Johannes). Und kaum ist die Büchse der Pandora (Manons Brief) geöffnet, ist es vorbei mit der unbeschwerten Leichtigkeit des Seins. Von da an wird der Handlungsgang metaphorisch aufgeladen, und hinter der hübschen Flussreise schimmert be­stän­dig die Sinnüberhöhung durch. Ein bedauernswerter verkrampfter Kauz muss lernen, seine unter­schied­lich­sten Gefühle wieder zuzulassen, um auf dem Umweg einer Reise schließlich wieder zu sich sel­ber zu fin­den. Die Botschaft an den Leser lautet dann wohl: Machen Sie es nicht wie Jean, sondern leben Sie jetzt, denn das Leben ist endlich, und lesen Sie nur recht viel, denn Bücher sind die beste Medizin. Nett und harmlos.


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Kommentare

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Zu »Das Lavendelzimmer« von Nina George wurden 7 Kommentare verfasst:

Elisabeth Guechida schrieb am 14.11.2013:

Zum Glück hier einmal eine kritische Rezension zum "Lavendelzimmer". Mir wurde es von einer Kollegin empfohlen, ich fing an zu lesen und glaubte mich nach kurzer Zeit in einem Text von Coelho vor, dem "Eso-Schwadroneur", wie A.Altmann ihn treffend nennt. Es sind so viele "Schlampigkeiten" und z.T, dümmliche "Lebensweisheiten" versteckt, dass ich fast nicht weiterlesen mag. Gibt es in Paris wirklich Papierservietten, auf denen Hesses "Stufen" gedruckt sind? Und Kästners "Hausapotheke" gibt dem Schiff des M. Perdu den Namen. Es kommt mir vor, dass Frau George nur deutsche Dichter kennt. Die eune Katze heisst "Kafka", warum nicht Voltaire oder Moliere...Und bitte, was ist ein "energisch gebügeltes Hemd" (S.12). Ich könnte noch Hunderte von Beispielen des Verirrens der Autorin in der deutschen Sprache bringen, aber das soll genügen. Ich glaube, mir ist die Zeit zu schade, um das Buch fertig zu lesen.


F. Gajewski schrieb am 26.09.2015:

Vielleicht ist die Kommentatorin E.G. doch besser bei "Jerry Cotton"-Romanen aufgehoben. Aber schließlich haben wir in D ja die Meinungsfreiheit! Nicht wahr!

Elisabeth Guechida schrieb am 15.10.2016:

Leider habe ich erst heute den Kommentar von F.G. entdeckt und eigentlich würde ich nicht darauf antworten, wenn ich ihn nicht ausgesprochen unverschämt finden würde. Glauben Sie wirklich, dass eine gelernte Buchhändlerin und Bibliotheksassistentin, deren Lieblingsbuch Bulgakows "Meister und Margarita" ist, Jerry Cotton liest? Ja, machmal haben wir leider Meinungsfreiheit in D, sodass man auch beleidigende Kommentare schreiben darf.

Sara Zen schrieb am 16.11.2018:

Nachdem ich in einer Sendung die von sich - vorsichtig ausgedrückt - selbst sehr überzeugte Autorin über sich reden und dabei mit erotisch unterlegter Stimme ständig billige Lebensweisheiten und gewollt dicht klingende Fomulierungen herausschütteln hörte, glaube ich, dass die Autorin einfach nur möchtegern-philosphisch und unpassend formulieren kann. Das zeigt vor allem eines - dass das Publikum nach liebesromanartiger Literatur giert, die aber gebunden sein darf, damit man dabei ein besseres Gefühl hat. Ich gebe damit ungeprüft der Leserin recht, die sich hier über Beliebigkeit der romanesken "Ideen" äußert.
Das INterview ist derzeit noch in der Mediathek https://www.zdf.de/verbraucher/volle-kanne/volle-kanne-vom-15-november-2018-nina-george-und-jean-michel-jarre-100.html sichtbar und ich hoffe, dass es Eingang in Youtube findet, damit es nicht vergessen werden kann als Beispiel für westdeutsche Selbstverliebtheit. Der Leser, der hier annimmt, das Jerry COtton Leserinnen Kritiken verfassen muss leider in Kauf nehmen, dass seine über alles verehrte Autorin Schwächen hat.

Thomas Eggenschwiler schrieb am 27.09.2019:

Zwei Dinge vorneweg: a) ich habe das Buch noch nicht bis zur Hälfte gelesen und b) ich bin ein 64-jähriger Mann - also wohl nicht die eigentliche Zielgruppe und wohl aus Sicht der meisten hier vertretenen Kritikerinnen nicht prädestiniert für eine fundierte Kritik...
Zu den obigen Kommentaren nur soviel: Etwas Neid scheint mir da mitzuschwingen... Zum Buch: Ein Buch, das mich mit seiner Poesie so packt, dass ich kaum mit lesen aufhören kann, ist für mich ein gutes Buch. Einen Mann wie Jean Perdu würde ich allzu gerne kennenlernen. Was würde er mir wohl für Bücher empfehlen? Und würde er - hier halt doch noch ein kleiner Seitenhieb - zu E.G. ihr vorgeblichem "Lieblingsbuch" wohl verkaufen oder es ihr vorenthalten?

Rita Hooss schrieb am 11.07.2020:

Jede Seite ist eine Streicheleinheit für die Seele. Mancher findet es vielleicht übertrieben, ich habe es genossen. Ich liebe die Landschaft um den Mont ventoux, den Lubéron und die Provence, es war wie Urlaub

Karl-Heinz Schlautmann schrieb am 11.07.2023:

Es war ein einziges Erlebnis und ein Genuss dieses Buch zu lesen. Ich bin Mann, 60 Jahre und Psychotherapeut. Die Lust am Leben, an Sinnfragen, an unseren Gefühlen und der Liebe zum Tango waren absolut wohltuend. Auch der Versuch Menschen auf einer tieferen Ebene zu verstehen. Toll!

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