Rezension zu »Der Fälscher, die Spionin und der Bombenbauer« von Alex Capus

Der Fälscher, die Spionin und der Bombenbauer

von


Belletristik · Hanser · · Gebunden · 282 S. · ISBN 9783446243279
Sprache: de · Herkunft: de

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Der Virtuose der Biografien

Rezension vom 03.09.2013 · 4 x als hilfreich bewertet · noch unkommentiert

Alex Capus liebt es, Menschen aufzustöbern, die nicht unbedingt im Zentrum der großen Weltgeschichte agierten, aber in deren Randbereichen eine nicht ganz unbedeutsame Rolle spielten oder einfach nur »dabei waren«. Ihre Zeitzeugenschaft macht sie interessant – wie auch ihre Vita und ihr Charakter. Fleißig trägt der Autor die bisweilen kärglichen Informationen über ihre Lebensläufe zusammen, und dann re­kon­stru­iert er ihre Biografien. Die trotz gewiss intensiver Recherche reichlich verbliebenen inhaltlichen Lücken füllt oder überbrückt er auf unnachahmlich leichtfüßige, charmante Art mit Esprit und witzigen Inspirationen. Zuletzt konnten wir diese Methode in dem kleinen Büchlein »Skidoo« goutieren, in dem Capus erzählt, wie er den Spuren eines Oltener Mitbürgers aus früheren Tagen, Louis Munzinger, nachging – genauer gesagt: nachritt, und zwar auf einem Kamel durch den Wilden Westen … (Lesen Sie hier meine Rezension zu Alex Capus: »Skidoo« auf Bücher Rezensionen.)

In seinem neuesten Roman mit dem (unangemessen reißerischen) Titel »Der Fälscher, die Spionin und der Bombenbauer« plaudert Capus nun aus dem Leben gleich dreier Personen der Zeitgeschichte.

Der Fälscher: Emile Gilliéron (1885-1939) trägt den gleichen Namen wie sein Vater. Der wurde in Ville­neuve am Genfer See geboren, studierte in München Kunst, zog 1877 nach Athen und wurde zur rechten Hand des berühmten Archäologen Heinrich Schliemann. Nach dessen Tod engagiert ihn Arthur Evans für seine Ausgrabungen in Knossos auf Kreta, und den zeichnerisch talentierten Sohn gleich dazu. Sie sollen die Mauer- und Farbreste, die er vom Staub der Jahrtausende befreit hat, für die interessierte Weltöffent­lichkeit optisch attraktiv aufbereiten. Die beiden dienen dabei allerdings nicht nur der hehren Wissen­schaft, sondern mehren auch ihren eigenen Ruhm und Wohlstand, indem sie die Freskenfragmente nach Gut­dün­ken künstlerisch frei aufrüsten, Statuen und dergleichen reproduzieren und weltweit an Museen und Samm­ler verkaufen.

Die Spionin: Laura d’Oriano (1911-1943) wird in Konstantinopel als Tochter eines italienischen Musikers und einer Chansonneuse geboren. Als Jugendliche beschließt sie, Sängerin zu werden, doch dafür reicht ihr Talent nicht so recht. Die weitgereiste Künstlerfamilie zieht schließlich nach Marseille, wo Laura 1931 einen Schweizer heiratet und somit Schweizer Staatsbürgerin wird. Aber sie wird nicht glücklich als Mutter und Ehefrau und verlässt 1935 Mann und ihre beiden Töchter. Nach der Besetzung Frankreichs zieht sie, die ja Ausländerin ist, von Paris nach Südfrankreich und wird dort als Spionin für die Alliierten angewor­ben. Nach Aktionen in Frankreich und Italien wird sie dort enttarnt, verhaftet, 1943 zum Tode verurteilt und in Rom von einem Sonderkommando erschossen, als einzige Frau im Königreich Italien. Viel ist nicht über sie bekannt, aber 2009 ging das Schweizer Fernsehen SF1 mit ihrer Tochter Anna Keller auf Spuren­suche. Den daraus entstandenen Dokumentarfilm »Laura D'Oriano – die geheimnisvolle Schweizer Spio­nin« (am 18.1.2011 ausgestrahlt) mag auch Capus gesehen haben und inspiriert worden sein.

Der Bombenbauer: Felix Bloch (1905-1983) ist Schweizer. Er studiert Mathematik und Physik in Zürich, setzt dann seine Ausbildung bei Werner Heisenberg in Leipzig fort. 1934 emigriert er in die USA. An der Stanford University erhält er den ersten Lehrstuhl für theoretische Physik. Der Physiker J. Robert Oppen­heimer gewinnt ihn für die Mitarbeit am Manhattan-Geheimprojekt, das den Bau der Atombombe zum Ziel hat. Doch im November 1943 verlässt Bloch Los Alamos, wo das kostenintensivste Forschungsunterneh­men aller Zeiten zu Hause ist. Welche Beweggründe leiteten ihn? Dazu hat Bloch keine Aufzeichnungen hinterlassen. Aber er sieht wohl, dass Nazi-Deutschland im Wettrüsten bereits abgeschlagen ist. Er geht zu­rück nach Stanford und forscht am Magnetismus des Atomkerns. 1952 erhält er zusammen mit Edward Mills Purcell den Nobelpreis für Physik. Ein Produkt der Forschungen Blochs und Purcells ist der Kern­spin-Tomograph, der heute aus der medizinischen Diagnostik nicht mehr wegzudenken ist.

Was sollte diese drei so unterschiedlichen Menschen in einem Unterhaltungsroman vereinen, und wozu? Miteinander zu tun haben weder ihre Charaktere noch ihre Professionen noch ihre Missionen noch sonst irgendetwas an oder in ihnen; keine Größe, keine Tragik ihrer Schicksale teilen sie miteinander. Allein Capus’ literarische Freiheit verbindet sie, und so lässt er sie, die einander sicherlich niemals begegnet sind, womöglich nicht einmal voneinander wussten, an einem unbestimmten Tag Anfang November 1924 zu­gleich am Bahnhof Zürich zugegen sein, ehe ihre Wege unbeeinflusst wieder auseinanderstreben wie die Bahnen der unzähligen winzigen Materiebausteinchen in einem Teilchenbeschleuniger.

Unterwegs waren alle drei im Jahre 1924. Da reist eine Dreizehnjährige mit ihren Eltern gen Marseille, um dort endlich ein gesetzteres Leben zu beginnen. Emile Gilliéron, 39, bringt die Asche seines verstorbenen Vaters zurück in dessen Geburtsort Villeneuve, um sie, wie er es ihm versprochen hatte, im See zu ver­streuen. Abiturient Felix Bloch soll Maschinenbau studieren, doch das will er auf keinen Fall. Gerade ein­mal sechs Jahre ist es her, dass der Weltkrieg Europa zermürbte, und Felix hat in den Zeitungen genug dar­über gelesen, was an der Front geschah, was die gewaltigen modernen Maschinen – Panzer, Flugzeuge, Kanonen – anrichteten. Er ist darüber Pazifist geworden, und er will etwas Schönes, Nutzloses studieren, das sich keine Tötungsmaschine »einverleiben« kann … Aber ein Zerwürfnis mit dem Vater will er auch nicht riskieren. Lange hat er über sein Dilemma gegrübelt, und eigentlich kann er ja auch nichts anderes außer Mathe, Physik und Chemie. Jetzt ist er auf dem Weg nach Zürich, um sich an der ETH für Maschi­nenbau zu immatrikulieren.

»Es wäre ein Zufall«, wenn sich im nächtlichen Zürcher Bahnhof auch nur die Blicke dieser drei Reisenden getroffen hätten, aber »ich wünsche es mir«, beschließt Capus und macht es geschehen: Emile hat gerade noch rechtzeitig seinen Bummelzug nach Villeneuve erreicht, als auf dem anderen Bahnsteig der elegante dunkelblau-goldene Orientexpress einfährt. Auf dem Treppchen des letzten Waggons hockt ein »blonder Backfisch« und gähnt hemmungslos. Während das Bild sich entfernt, macht sich Emile seine Gedanken über die Szene: Sicher ist das Mädel eigensinnig, hat sich mit ihren Eltern gestritten, hält sie für »Paviane oder Lurche«, sich selbst jedoch für die »Krone der Schöpfung«. Dabei hält sie sich nicht einmal fest, trägt viel zu luftige Kleidung, sollte wenigstens die Hand vor den Mund halten beim Gähnen … Aus den Au­gen­win­keln erspäht Emile »noch so eine Type« – einen jungen Mann, der zwischen den Gleisen am Güter­schuppen »dahinschlurft« und sich sicher vor einen Zug werfen will, »weil er zu gut ist für diese Welt. Oder zu schlecht.« Und so fabuliert der Autor prächtig weiter und weiter und weiter …

Ausgehend von jenem reizvoll erdachten Zusammentreffen, als jeder der drei Protagonisten einen winzigen Eindruck der beiden anderen auf seine Weiterreise mitnimmt, erfahren wir in jedem der vierzehn Kapitel ein neues Stück aus ihrem Leben. Capus’ Kunst besteht darin, dass er Fakten klug und kompetent zusam­men­stellt (wir lernen eine Menge über Archäologie, Kernphysik, Politik und Zeitgeschichte, orientalische Kultur, Maschinenbau, Kunsthandel …) und gleichzeitig Menschen auf amüsante, leicht ironische, manch­mal spöt­ti­sche, aber immer seriöse und respektvolle Weise porträtiert, so wie sie gewesen sein könnten. Dazu werden ihre Lebensumstände szenisch ausgebreitet, das Ambiente wundervoll koloriert, die Details perlen mit der süffisanten Wortwahl. Wir hören die kapriziöse Laura, wie sie orientalische Balladen summt, wäh­rend sie ägyptische Zigaretten raucht. Wir schauen dem geschäftstüchtigen Maler Emile über die Schul­tern, wie er auf seiner Staffelei aus den mickrigen Resten alter Fresken »ein rituelles Menschen­opfer für den Stiergott der Minoer« gestaltet oder sie zu »Campingstuhl-Schönheiten« stylt. Dann wandern wir mit ihm durch Villeneuve (»Kleine Menschen in einem kleinen Land mit kleinen Ideen, die kleine Städte, kleine Bahnhöfe und unfassbar pünktliche Eisenbahnen bauen«; »die touristische Vermarktung des Post­kar­ten­idylls bringt gutes Geld«). Wir belauschen Diskussionen zwischen den Physik-Koryphäen der Zeit von Einstein über Heisenberg und Oppenheimer bis Edward Teller, in deren Laboren millionenfachen Tod bringende Maschinen ersonnen werden und die doch auch nur Menschen sind: Die Straßenkreuzer in Manhattan haben »auch nur vier Räder wie alle Autos überall auf der Welt«, und »die Leute waren Leute. Kein Grund zur Aufregung.«

Was ist wahr, was erdacht? Egal – bei Alex Capus ist alles möglich; er stellt sich das halt mal so vor. Und wir genießen seine Biografie-Romane wie Schokoladensahnetorte …


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