Rezension zu »Das Judasbaumtor« von Oya Baydar

Das Judasbaumtor

von


Belletristik · Ullstein · · Gebunden · 480 S. · ISBN 9783550088681
Sprache: de · Herkunft: tr

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Ein Land frisst seine Kinder

Rezension vom 08.01.2013 · 3 x als hilfreich bewertet · noch unkommentiert

Ist es Zufall oder eher Schicksal, dass aus­ge­rech­net diese vier Menschen in Istanbul zu­sam­men­treffen? In einem Zeitraum von zwei Jahren werden sich ihre Wege immer wieder kreuzen. Sie werden sich gegenseitig beeinflussen, zeitweise eine sehr enge Beziehung zueinander aufbauen, um am Ende wieder aus­ein­ander­zu­gehen.

Das Judas­baum­tor des Titels war - so heißt es - ein Teil der Stadtmauer Istanbuls aus ihrer byzan­tini­schen Phase. Für eine der vier Personen ist es das konkrete Objekt einer wissen­schaft­lichen Suche, aber Sinn gebend steht es zugleich für alle. Die Suche nach dem Tor sym­bo­lisiert die Suche nach ihren Wurzeln, ihrer Bestimmung, ihrer Identität.

Teo, 1960 geboren, stammt aus einem grie­chi­schen Elternhaus. Als die Griechen ab 1974 in der Türkei nicht mehr gelitten waren, verließ die Familie das Land. Teo studierte Kunst und Geschichte mit Schwerpunkt Byzanz und lebt in Amerika. An Politik ist er nicht sonderlich interessiert; von der Vertreibung seiner Familie weiß er wenig, und welches Fähnchen im Jahr 2000 in der Türkei weht, inter­es­siert ihn nur peripher. Es ist die Ent­schlüs­se­lung einer alten byzan­tini­schen Handschrift, die ihn nach Istanbul führt. Auf einem Pergament, dessen Ent­ste­hungs­zeit um 1000 n.Chr. vermutet wird, steht ein Gedicht mit den ebenso poetischen wie geheim­nis­vollen Zeilen "Um die verlorene Seele der Stadt zu retten, / schreitet er durch ein geheimes verfallenes Tor, / das Judasbaumtor, / auf seinem Haupt die Krone aus purpurnen Judasblüten, / gewandet in Purpur, / pur­pur­farben seine Wunden, / folgt er dem Schatten eines leugnenden Mönchs / auf dem Weg zur Heiligen Weisheit."

Gab es in den alten Ringmauern der Stadt Byzanz tatsächlich ein Judasbaumtor? Und wenn ja, sind davon im heutigen Istanbul noch Überreste zu finden? Und wer mag der Mann gewesen sein, der durch das Tor schritt? Jesus? Judas?

Mit Teo wird der Leser zu einem Reisenden durch die Ver­gan­gen­heit einer kultur­ge­schicht­lich reichen Stadt, in der "die Seelen der Menschen und die Seelen der Räume miteinander verschmelzen". Die bedeutende Stadt auf den sieben Hügeln, die drei klingende Namen trug (Kon­stan­tino­pel - Byzanz - Istanbul), fasziniert mit ihrer Jahr­tau­sen­de alten Historie, ihrer multi­kul­tu­rellen Gesellschaft voller Gegensätze, ihren Ge­heim­nissen und Legenden aus tausend­und­einer Nacht.

Für zeitgemäße Spannung sorgt zudem, dass aus­ge­rechnet der un­poli­tische Teo im Verlauf der Handlung in das Netz einer revo­lutio­nären "Organisation" gerät, für einen CIA-Agenten gehalten wird, liquidiert werden soll.

Bei einem Treffen mit einem türkischen Historiker lernt Teo die junge Derin kennen, die in Lausanne studiert. Die Zwan­zig­jährige ist die zweite Figur, die Oya Baydar aus ihrer Perspektive erzählen lässt. Auch sie führt eine Suche nach Istanbul. Ihr Vater Arin, ein türkischer Diplomat, wurde 1992 getötet - warum? Erstmals erfährt sie, dass sie einen Bruder hatte; der war 1997 zusammen mit zwei Kommi­li­tonen in einer kon­spira­tiven Wohnung von den politischen Mächten aus dem Weg geräumt worden. Gibt es einen Zu­sam­men­hang zwischen den beiden Morden?

Durch ihre Recherchen wird Derin in die politischen Wirren des Jahres 2000 hinein­gezogen, als die Kämpfe zwischen Machthabern und Terroristen eskalieren. De­mon­stra­tio­nen, Barrikaden, Hunger­streiks und Militär­aktionen bewegen Tausende und fordern viele Todesopfer.

Derin lernt Kerim kennen, einen jungen Mann, der sich in sie verliebt und sie als Bourgeoise für die agita­to­rische "Organisation" gewinnen will. Angezogen vom Leben der Menschen auf der anderen Seite ebenso wie von den Kämpfen gegen das politische Regime, bezieht sie ein Haus in den Slums des Gecekondu-Viertels. Dort wird sie toleriert, aber dazu gehört sie nicht. Hautnah erlebt sie mit, was in den "Todeshäusern" vor sich geht, wo sich Menschen für die "Organisation" dem Hunger­streik ange­schlossen haben: Dem heim­tückischen Gemein­schafts­zwang der "Organisation" erlegen, sterben Mütter, töten Henker ihre Opfer. Derin muss dem sinnlosen Treiben hilflos zuschauen, denn ihre Person und ihre Einstellung sind hier unerwünscht. Des­illusioniert verlässt sie das Viertel, aus dem sie wenigstens einen kleinen verwaisten Jungen in ihre Welt hinüber­retten kann.

Auf Drängen Derins kehrt die fünfzig­jährige Ülkü, eine ehemalige Journalistin, nach Istanbul zurück. Sie führte das letzte Interview mit Arin, bevor er dem Attentat zum Opfer fiel. Doch Ülkü will gar nicht ernsthaft in ihrer Ver­gan­gen­heit forschen. Als überzeugte Linke brach sie einst zu einem politischen Egotrip nach Moskau und Paris auf und ließ dafür ihren kleinen Sohn bei seiner Großmutter zurück. Der wurde später bei einer Polizei­razzia getötet. Sie weiß, dass sie nie Mutter­gefühle und Verant­wortung für ihren Sohn übernommen hat. Trägt sie womöglich indirekt Schuld an seinem Tod?

Die vierte Perspektive - die Kerims - ist sicher die dichteste und be­drückend­ste. "Der Prinz der Slums" ist nicht nur aktives Mitglied der kon­spira­tiven "Organisation", sondern will in ihrer Hierarchie aufsteigen, und dafür muss man einen Preis zahlen, "einzelne Personen [...] opfern", denn "Macht [ist] ein schmutziges Geschäft". Dass es für Derin und Kerim keine gemeinsame Zukunft geben kann, ist beiden schnell klar. Kerim ist durch­drungen vom Hass auf die herrschende Un­ge­rech­tig­keit, auf das Un­gleich­gewicht der Gesell­schafts­schichten. Derin aber steht zwischen beiden Welten; sie kann ihre Herkunft nicht ungeschehen machen.

Baydars Roman fesselt auf vielschichtige Weise. Die Autorin kann wunderbar erzählen; man versinkt förmlich in ihrem ästhetischen, warmen Sprachstil. Wer Istanbul schon einmal besucht hat, wird die Schauplätze der Handlung voller Wehmut und Sehnsucht wie­der­er­kennen. Blumen, Bäume, Farben, Gerüche - überall werden unsere Sinne angesprochen.

Packend und emotional aufwühlend lesen sich die Handlungs­stränge der vier Figuren. Sie kommen abwechselnd zu Wort, und doch muss man erst forschend ein bis zwei Seiten lesen, bis man den Ich-Erzähler ausmacht. Denn die Geschichten verweben sich ineinander, und manchmal erschließt sich erst aus der Ansicht des anderen eine individuell geprägte Variante des Geschehens.

Oya Baydars kritische politische Gesinnung tritt sehr deutlich zutage. "Dieses Land frisst seine Kinder, es schneidet sich die eigenen Finger ab." - diese Botschaft wiederholen ihre Figuren immer wieder. Bei aller ein­flie­ßen­den Kritik - vor allem an den Machen­schaften des türkischen Staats von 1990 bis 2000 - trägt sie sie nie auf­dring­lich oder kategorisch vor. Sie möchte als Literatin, nicht als Agitatorin geschätzt werden. Daher der Vorrang der fein­fühligen Charak­teris­tik der Pro­ta­go­nisten , daher die Offen­kundig­keit ihrer (in Teo re­präsen­tier­ten) Liebe zur Kultur, zur Poesie. Und daher ist es nur folgerichtig, dass Oya Baydar für ihren Roman "Das Judasbaumtor" ("Erguvan Kapısı", 2004 erschienen und von Monika Demirel ins Deutsche übersetzt) eine der bedeu­tend­sten türkischen Litera­tur­aus­zeich­nungen (den Cevdet-Kudret-Preis) erhalten hat.


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