Im Schwebezustand zwischen Leben und Tod
Nur drei Menschen wurden bei der Brandkatastrophe in der Grundschule eines privaten Trägers verletzt und ins Krankenhaus gebracht. Mutter Grace, 39, liegt in der neurologischen Abteilung. Sie ist bis jetzt nicht mehr zu Bewusstsein gekommen. Angeschlossen an einen Gerätepark wird sie künstlich am Leben erhalten. Ihre Tochter Jennifer, 17, wird in einer Spezialabteilung für schwerste Verbrennungen behandelt. Sie wird nur überleben können, wenn sich bald ein Spenderherz findet. Die 17-jährige Schulassistentin Rowena hat Verletzungen mittelschweren Grades davongetragen.
Während die Ärzte und Pfleger um das Leben von Grace und Jennifer kämpfen und Vater Mike zwischen den Krankenbetten hin und her pendelt, dem familiären Desaster aber machtlos zuschauen muss, stellt Mikes Schwester Sarah ihre Ermittlungen zur Brandursache an.
Mit einem literarischen Kniff lässt die Autorin Rosamund Lupton in ihrem Roman "Afterwards" , den Barbara Christ übersetzt hat, ihre Protagonisten Grace und Jennifer trotz ihrer schweren Handicaps weiterhin am Handlungsgeschehen teilnehmen. Einer Seelenwanderung gleich verlassen sie ihre Körper, um als eine Art Geister, die hören und sprechen können, die in der Realität agierenden Personen zu umschwänzeln. Ein bisschen hapert es allerdings bei der konsequenten Konzipierung der schwebenden Wesen. Zwar sind sie überall zugegen, aber dennoch verschließen sich ihnen Türen und hindern sie Wände. Sie können ihre Liebenden umarmen, aber darüber hinaus nicht ins Handlungsgeschehen eingreifen.
"Außer sich" ein Thriller? Wer das Buch mit dieser auf dem Cover suggerierten Erwartungshaltung aufschlägt, wird enttäuscht. Da gibt es weder knisternde Szenen, in denen dem Leser der Atem stockt vor Angst um das Wohlergehen einer Figur, noch actionreiche Verfolgungen; da treibt kein Psychopath sein Unwesen, und auch die Ermittler sind durchweg "normal": Sie verhören Beteiligte, Betroffene und Verdächtige und untermauern ihre Erkenntnisse und Schlussfolgerungen ganz rational, wie es sich gehört, z.B. mit DNA-Analysen. Die übernatürliche bzw. aus der psychischen Extremsituation erwachsende Fähigkeit (Einen Erklärungsversuch dafür erhalten wir nicht.) an sich kreiert ja noch keinen Nervenkitzel.
Interessant finde ich die variierenden Tempi im Handlungsverlauf. Auf der einen Seite erlebt Mike, wie schnell sein gesamtes Familienleben den Bach hinunter rauscht, ohne dass er dem das Geringste entgegensetzen könnte; ihm bleibt nur zu warten, auf ein Wunder zu hoffen. Die Aufklärung der Hintergründe zu dem Brandanschlag geht zügig und erfolgreich in knapp vier Tagen voran. In dieser Zeit erlebt Grace das, was vielen im Leben fehlt. Sie kann sich besinnen, sie kann auf ihre Familie blicken, und sie erkennt erst jetzt in der Außenansicht, was ihr über die Jahre nicht gelungen ist: Ist sie eine gute Mutter, eine gute Ehefrau gewesen? Warum hat ihre Tochter Jennifer sich nie vertrauensvoll öffnen können? Wie steht sie zu Mike, ihrem rational naturwissenschaftlich denkenden Mann, der mehr für die BBC unterwegs war, als sich um seine Familie zu kümmern? Und welch falsches Bild hatte sie von ihrer Schwägerin Sarah, einer Perfektionistin in ihrem Beruf!
Was kann Grace nur tun? Da wird ihr sensibler kleiner Junge, der achtjährige Adam, als Täter geoutet. Er wurde gesehen, habe das Inferno beim Spielen mit Streichhölzern verursacht. Jetzt ist er traumatisiert, spricht kein Wort mehr, bräuchte seine Mutter mehr denn je. Aber sie kann ihn nicht mehr gegen die Unbilden des Lebens verteidigen. Wie soll er ohne sie groß werden?
Als am Ende der Täter dingfest gemacht ist, findet Grace ihre Ruhe. Sie weiß in Mike einen fürsorglichen Vater, in Sarah eine zuverlässige Schwägerin, in ihrer Mum eine liebevolle Großmutter für ihre Kinder. Nun kann sie loslassen, in ihren Körper zurückfinden. Sie wird in neuer Bestimmung weiterleben. Ein Schluss, der ziemlich knapp an der Grenze zum Kitsch entlangschrammt ...
Rosamund Luptons Roman "Außer sich" ist unterhaltsam, dialogreich, leicht und flüssig zu lesen. Aber das Ergebnis ist mir insgesamt zu schlicht schwarz-weiß gemalt. Ein paar harmlose Bösewichter, wie sie das Leben nun mal bereitstellt, finden sich auf der einen Seite und werden nacheinander auch als Täter ins Visier genommen. Auf der anderen Seite steht die ganz normale, gutbürgerliche Familie: Vater, Mutter, eine intelligente Tochter, ein smarter Sohn. Wirkliche Probleme haben diese englische Bilderbuch-Familie bisher nicht belastet. Erst der Brand zerstört die heile Gegenwart des kleinen Mikrokosmos und gefährdet seine Zukunft. Zwei geliebte Familienmitglieder werden vielleicht bald aus ihrer Lebensmitte gerissen. Welche Emotionen, welche existenziellen Abstürze das für die Lebenden bedeuten kann, wird nicht thematisiert - und glücklicherweise auch nicht die Problematik um Koma-Patienten, Organtransplantationen u.ä. Derlei hätte denn doch mehr Tiefgang und Komplexität erfordert.