
Überblicke, Rückblicke, Einblicke
Seit er sich erinnern kann, pflegt Peter Henisch eine schöne Vorliebe. Er macht es sich am Fenster bequem und schaut hinaus auf die Welt, lässt den Blick schweifen, verweilt hier und da, folgt Hinweisen und Personen, studiert gleichzeitig – quasi auf einer observatorischen Metaebene – die Wechselwirkung zwischen dem Gesehenen und seinen Gedanken und Empfindungen. Als gereifter, sprachlich sensibler Autor fasst er all dies in einen munter dahinfließenden Plauderton, und man wird als Leser nicht satt, sich zu freuen und zu staunen, was da so alles vorbeitreibt.
Im neuen Buch des österreichischen Schriftstellers, Journalisten und Musikers (1943 in Wien geboren) geht sein Blick vorwiegend durch zwei Fenster der Wiener Obergeschosswohnung, in der er mit seinen Eltern nach Kriegsende lebte. Während das Küchenfenster recht prosaisch den Hof mit Teppichklopfstange und Abfallkübeln zeigt, weist das andere Fenster hinaus in die Stadt, wo sich Menschen tummeln, Handel und Wandel vollziehen und ganz am Ende das Meer lockt.
Inhaltlich geht es um Persönliches – sein eigener Werdegang, die Eltern, Onkel Willi und die beiden Omas (wobei die »belesene« schon Hauptperson des Henisch-Romans »Eine sehr kleine Frau« war) – und Allgemeines aus Alltag, Kultur (von Filmen bis zu Anker-Bausteinen) und Politik. Was die Lektüre so unterhaltsam und die Atmosphäre so menschlich und warmherzig macht, ist (neben dem freundlichen Konversationston des Erzählens), dass der Autor gar nicht erst versucht, historische oder sonstige Wahrheiten verkünden zu wollen. Er fühlt sich wohl dabei, sich keinem Konzept unterordnen zu müssen. Scheinbar rein assoziativ (»Und jetzt fällt mir der Abend ein, an dem ...«) reiht er Impressionen und Anekdoten, kommt vom Hölzchen aufs Stöckchen und misstraut bisweilen selbst seiner eigenen Erinnerung (»Das muss 1952 gewesen sein – oder war es 1951?«).
Ab und zu plauscht er aus den Gesprächssituationen heraus, in die ihn eine ambitionierte Jungjournalistin 2015 geschleust hat. Mit Mikrofon und Kopfhörer ausgerüstet und bestens vorbereitet, interviewt sie ihn mehrere Male – und weiß schon vorher so viel über ihn, dass ihre beharrlichen Nachfragen (»Aber war das nicht Old Surehand ..., den Sie im Bücherregal Ihres Vaters entdeckt haben?«) ihm auf die Nerven gehen. Selbst Frau S., »die Chefin der Cafékonditorei um die Ecke«, meint, aus der Zeitung schon genug über den bekannten Autor erfahren zu haben, um ihn hinsichtlich der Fakten seines Lebens korrigieren zu können (»Aber irgendwo hab ich gelesen, dass Sie eine Katze – oder war das ein Kater? – namens Murr gehabt haben.«).
Neben der Gabe einer aufmerksamen Beobachtung zeichnen Peter Henisch – den Knaben wie den Erwachsenen – eine blühende Fantasie und eine Neigung zum Träumen aus. Er kann sich nicht nur spielend in die Leute drunten auf der Gasse, sondern sogar »total ins Fell der Katze versetzen«, die neben ihm kauert und doch ganz abwesend ist, fixiert auf das Treiben der Vögel auf dem Dach gegenüber. Und wenn ratsam, distanziert er sich ironisch von sich selbst: »Oder soll ich den kleinen Buben [sich selbst] ... lieber Paul nennen?« Dazu animiert ihn Frau S., die auch »Eine sehr kleine Frau« gelesen hat und jetzt den Autor (Peter Henisch) nicht vom Erzähler (Paul Spielmann) trennen mag.
Als dominantes Leitmotiv schleichen Scharen von Katzen, des Autors Lieblingstiere, durch das Buch. Sie sind der Inbegriff des scheinbar ziellosen, gelangweilten Herumstromerns und des in sich ruhenden, genüsslichen Dösens; dabei sind all ihre Sinnesorgane angespannt, um nur ja nichts zu verpassen. In den Wohnungen und in freier Wildbahn begegnen sie uns in vielen Inkarnationen, in allen Farben und Musterungen, und die profiliertesten sind durch einen Namen geehrt.
Zu den bedeutsamsten Menschen, die der Autor – pardon: der Erzähler – porträtiert, gehört sein Vater Walter. Der war nur 1,52 Meter groß, aber vielseitig talentiert und ein Optimist. Er war Kriegsberichterstatter für die Wehrmacht, später Presse- und Kunstfotograf. Mit handwerklichem Geschick hat er die Wohnungen hergerichtet und auch für die Präsentation seiner Bilder genutzt. Dass darunter Aktfotos waren, sorgte bei manchen Besuchern für Verwunderung.
Manche der Fotografien zeigten Peters geliebte Mama, und sie war mindestens so ansehnlich wie all die Damen, die Vater »künstlerisch« ablichtete. Peter erinnert sich an ihre Schönheitspflege hinter einem abgeschirmten Waschtisch in der Küche, wo sie Fingernägel lackiert, Haare zupft, Lippen über die Kontur hinaus schminkt, die alltäglichen Wollsachen gegen Modischeres tauscht. Doch schon mit vier oder fünf Jahren spürt der Junge, dass in Mamas Herz eine leise Traurigkeit liegt, die sie wie in einem Strom langsam abwärts treibt.
In der gegenüberliegenden Wohnung sieht alles ganz anders aus. Da wohnt die Hausmeisterin mit ihrer Familie, über die man nur in gedämpftem Modus spricht. Mit ihrem arbeitslosen, dem Alkohol verfallenen Mann hat es die »abgehärmte« Frau »bestimmt nicht leicht«. Ihre Tochter Friedi ist Peters erste Vertraute. Die beiden gleichaltrigen Kinder verstehen sich gut, »auch ohne Worte«. Sie unterhalten sich per Zeichensprache von Fenster zu Fenster. Später treffen sie sich heimlich und zeigen einander, »was uns unterscheidet«. Mit Frauensachen kennt Friedi sich aus. Peters Mama, mit Stöckelschuhen und Nylonstrümpfen, taxiert sie direkt als »mondän«, eine »feine Dame«.
Im Übrigen behüten die Eltern Henisch ihr verträumtes Einzelkind. Auf die raue Gasse soll er nicht – »die Gassenbuben sprechen nicht nach der Schrift und werfen mit Steinen«. Umso genauer betrachtet er das Spiel der Kinder (»die meisten barfuß«) auf den Schutthügeln, den Leiterwagen-Mann, der »Fetzen, Bana (Gebeine)« ruft, die Musikanten, denen er ein paar in Zeitungspapier gewickelte Groschen hinunterwirft. Die Frauen tragen Kopftücher, die Männer Hüte; manche Kriegsversehrte gehen auf Krücken, andere tragen dunkle Brillen, weil sie blind sind (und nicht etwa, um sich vor der Sonne zu schützen).
Da er im Kreis von Erwachsenen aufwächst, die ihn kaum wahrzunehmen scheinen, ist Peter selbstgenügsam, nachdenklich und altklug. Er nimmt die gehörten Wörter auf, denkt über die »eigenartige Betonung nach«, wie beispielsweise »Jud« oder »Nazi«, und nähert sich den dahinter verborgenen Geschichten über den Klang dieser frühen Worte an. All dem in Ruhe nachgehen zu können, empfindet er als ein Geschenk für seine spätere Arbeit. »Woher kommen wir, wohin gehen wir, wieso ist es so gekommen, was ist davon geblieben?«
Die so beiläufig und in unergründlicher Abfolge dahinplätschernden kurzen Episoden, Erinnerungen und Eindrücke ergeben einen wunderbaren Fleckerlteppich aus zart pointierten Farbtupfern, vermitteln aber auch interessante Einblicke zur Zeitgeschichte, etwa zur politischen Lage der in vier Zonen aufgeteilten Stadt Wien, zum heiklen Identitätsgefühl ihrer Einwohner, zum noch viel heikleren des Landes Österreich, das mit dem Staatsvertrag vom 15. Mai 1955 zwischen den alliierten Besatzungsmächten und der österreichischen Bundesregierung wieder ein souveräner, demokratischer Staat wird. Vergleichende Blitzlichter auf unsere gegenwärtigen Verhältnisse erweitern die Perspektive ebenso wie die kursiv abgesetzten Passagen, in denen Henisch von späteren Reisen nach New Orleans, Prag, Paris, Istanbul und Isfahan berichtet. »Damals lag noch nicht soviel Angst in der Luft«.
»Suchbild mit Katze« ist ein feinsinnig erzähltes Dokument, das sehr persönliche Eindrücke aus der Geborgenheit einer Wiener Kindheit mit den sozialen, politischen und kulturellen Gegebenheiten der Nachkriegszeit und Ausblicken auf die Gegenwart verbindet. Gewiss wird es besonders die Generation ansprechen, die jene Jahre selbst erlebt hat und deren Erinnerungen inzwischen nostalgisch schöner gefärbt sein mögen, als die Realität war – das Cover mit Sepia-Tönung setzt auf diesen Lockeffekt. Ein Verharmloser ist der Wiener Fenstergucker Peter Henisch jedoch nicht. Vielleicht ein wenig altersmilde.