Rezension zu »Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt« von Peter Stamm

Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt

von


Ein alternder Schriftsteller begegnet dem jugendlichen Abbild seines eigenen Lebens. Trifft der Doppelgänger damit seine eigene Zukunft? Ein Spiel mit Realität und Fiktion, Freiheit und Vorbestimmung.
Belletristik · Fischer · · 160 S. · ISBN 9783103972597
Sprache: de · Herkunft: de

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Chance auf Reset?

Rezension vom 25.05.2018 · noch unbewertet · noch unkommentiert

Christophs Schriftstellerkarriere befindet sich im Leerlauf. Fünfzehn Jahre ist es her, dass sein erstes und einziges Buch erschien und genügend Aufmerk­samkeit fand, um bis heute Publikum für Lese­reisen anzu­locken. Wie die Beziehung mit Magda­lena, von der er in seinem Erstling erzählt, nach drei Jahren scheiterte, so sind auch Christophs künstle­rische Ambitio­nen versandet. Die Erinne­rungen an Magda­lena begleiten den Fünfzig­jährigen freilich unvermin­dert bis in seine Träume.

Nach einem Leseabend in seiner Heimatstadt widerfährt Christoph Frappie­rendes: Im Nachtportier des Hotels meint er sich selbst als jungen Mann zu erkennen. Die Doppel­gänger­schaft erweist sich als umfassend: Der junge Mann, Chris genannt, wohnt im selben Haus wie er einst, ist ebenfalls Schrift­steller, selbst seine Freundin Lena ähnelt der Magda­lena von damals, und beide sind Schau­spielerin­nen.

Christoph ist gebannt und besorgt. Leben die beiden sein eigenes Leben nach wie eine Imitation? Oder hat er das ihre vorgelebt wie einen Probe­lauf? Beeinflusst, beschädigt oder bessert nun jeder Schritt das Schicksal der anderen?

In Stockholm verabredet sich Christoph (der Ich-Erzähler) mit der zwanzig Jahre jüngeren Lena und bietet ihr an: »Ich möchte Ihnen meine Geschichte erzählen.« Er versteht das als Warnung. Natürlich ist Lena verblüfft, dass den älteren Herrn nichts, was sie ihm über sich und Chris berichtet, überrascht, dass ihm ihr Leben so vertraut scheint. Indem der Romancier an der Schwelle des Alters ihr seine Lebens- und seine geschei­terte Liebesge­schichte zu Magda­lena offenlegt (»eine Geschichte über unsere Trennung und über die Unmög­lich­keit der Liebe«), muss sie befürchten, dass auch die Entwick­lung ihrer eigenen Beziehung mit Chris Element der Doppel­existenzia­lität sein und sie ihre Zukunft keines­wegs so frei entfalten könne, wie sie glaubt. Was bliebe dann anderes übrig, als die »sanfte Gleich­gültig­keit der Welt« zu ertragen, die uns Menschen unbetei­ligt zuschaut, wie wir unsere Existenz zu gestalten trachten?

Auf einen Blick in ihre eigene Zukunft hoffend, drängt Lena, Christoph solle ihr enthüllen, wie denn alles ausgeht. Doch das ist ihm unmöglich. Im Leben, sagt er, gibt es keine Regeln wie in Geschichten. »Ein literari­scher Text braucht eine Form, eine Folge­richtig­keit, die unser Leben nicht hat … Ein Ende haben Geschich­ten nur in Büchern.« Und »Glück macht keine guten Geschich­ten«.

All dies hat Christoph selbst erfahren. Magda­lenas Rat, »ein Buch über dich und mich, über unser Leben, unsere Liebe« zu schreiben, half ihm zwar aus einer Schreib­blockade, führte ihn aber in ein Dilemma. Je mehr er über Magda­lena schrieb, desto vertrauter wurde ihm dieses literari­sche Geschöpf, während ihm sein reales Vorbild fremder wurde. Die Erkennt­nis schreckt ihn, und er wird skeptisch gegen­über »großen Worten und Gefühlen, zweifelte nicht nur an jenen der anderen, sondern auch an meinen eigenen.«

Natürlich handelt es sich bei den Doppelungen nicht um platte Wieder­holun­gen. Gerade die Brüche und Risse in den vermeint­lichen Spiegelun­gen faszi­nie­ren und verun­sichern die Prota­gonis­ten wie den Leser. Sie provozie­ren Fragen nach dem Wesen der eigenen Existenz, nach Vor­bestim­mung, Zufällen und Freiheit. Hätte Christoph mit dem Wissen, was alles geschehen wird, nach einem Reset in Gestalt Chris’, des jüngeren Ichs, andere Wege beschritten? Hätte das Leben eine andere Wendung genom­men, wären sie sich nie begegnet? Verständ­lich, dass Lena sich sorgt, Christoph habe als Schrift­steller in »unser Leben« einge­griffen, rein »aus Neugier, um auszu­probie­ren, was dann geschieht«. Doch können sich die fiktionalen Akteure ihrer von Christoph vorge­schriebe­nen Rolle nicht entziehen, einfach anders agieren als erwartet? Im Übrigen existiert das fragliche Buch ja viel­leicht gar nicht. »Wie soll dieses Buch noch mal heißen, das ich in ein paar Jahren schreiben werde und das Sie längst publiziert haben wollen?«, fragt Chris, als er Christoph trifft. Der Titel ist nirgendwo aufzu­treiben und nicht einmal im Katalog der Zentral­biblio­thek aufgenom­men. Am Ende steht die radi­kalste Frage: War alles nur Fiktion, hat Christophs Leben so gar nicht stattge­funden?

In seinem kleinen Roman – 155 luftige Seiten – manövriert Peter Stamm seine Figuren wie auf einem Schachbrett in ausge­klügel­ten Zügen hin und her. Sein raffinier­tes Jonglie­ren mit Realitä­ten, Träumen und Fiktion, mit Gegen­wart und Vergangen­heit gewinnt an Tempo, Zeit­ebenen wechseln übergangs­los und oft unbemerkt.

Wiewohl ästhetisch erfüllend, ist dieser schlicht und fedrig leicht formu­lierte, von schwere­loser Melan­cholie durchwehte Künstler­roman nicht jeder­manns Sache. Der Schwer­punkt liegt auf dem intellek­tuellen Reiz der philo­sophi­schen Frage­stellun­gen, denen die arg artifi­zielle Gesamt­konstruk­tion und das im Kern phantas­tische Grundmotiv dienen.

Am Ende des Romans erinnert sich der Ich-Erzähler an ein Erlebnis als Zwanzig­jähriger. Bei einem Spazier­gang in seinem verschneiten Heimat­dorf sieht er auf der anderen Seite des Flusses einen alten Herrn, der auf dem steil an­steigen­den Weg gestürzt ist und ohne Hilfe nicht mehr aufstehen kann. Der junge Mann bringt den verwirrten Alten, der von einer Frau erzählt, »mit der er spazieren gegangen sei«, zurück ins Männer­heim. Das Bild legt nahe, dass Anfang und Ende des Ich-Erzählers zusammen­fließen. Denn der junge Mann hat bereits die Reife des Alters, und mit dem Greis verbindet ihn etwas, »was viel tiefer reicht als Worte, als würden wir eins, ein vier­beini­ges Wesen, zugleich alt und jung, am Anfang und am Ende«. Noch ehe sein Leben richtig begonnen hat, stellt er sich sein Ende vor, »von allem befreit [...], ohne eine Spur zu hinter­lassen«. Die Vorstel­lung stimmt ihn nicht traurig, sondern erscheint ihm »an­gemes­sen und von einer klaren Schönheit und Richtig­keit«.

Übrigens ist der Titel ein Zitat aus dem Essay »Der Mythos des Sisyphos« (1941) des Exis­tentia­listen und Nobel­preis­trägers Albert Camus: »La tendre indifférence du monde«.


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