Kühle Miniaturen
Das hübsche Cover der kleinen Sammlung von Erzählungen "Seerücken" von Peter Stamm vermittelt einen bildlichen Eindruck von dem, was uns in den Texten erwartet. In sieben winzigen, fein ziselierten, Filmstreifen ähnlichen Panoramen ziehen vor uns vereinzelte Menschen, die meisten allein, nach links oder rechts vorüber. Die Bäume tragen keine Blätter mehr, die Hintergrundfarbe ist weiß – oder liegt Schnee? Überall stehen herrenlose Fahrräder herum, und es gibt eine Straßenbahn. Bei näherem Hinsehen findet man immer gleiche Bildelemente, unterschiedlich zerschnitten, und durchschaut die Montagetechnik. Wir sehen also einen sehr reduzierten, künstlichen Ausschnitt aus der Welt der Menschen.
Als solche empfand ich auch die Kurzgeschichten Peter Stamms. In einem nüchternen, unaufgeregten Sprachstil gestaltet er die Atmosphäre der jeweiligen Situation, in die er seine Figuren hinein montiert:
Wie furchtbar muss sich ein Pfarrer fühlen, dessen Gemeinde ihn ablehnt, die seinen Gottesdienst boykottiert.
Keine geringere Frustration erleidet Sara, die Klavierlehrerin in der Geschichte "Der letzte Romantiker". Erst kündigt ihr talentiertester Schüler mit der Begründung, er müsse sich fortan auf eines seiner beiden Hobbys konzentrieren. Und da gebe er dem Schwimmen den Vorzug. Sara kann das nicht nachvollziehen: Klavierspielen ist ein Kulturgut, aber doch kein Hobby. Existenzieller trifft sie, wie sie beim Vorspiel als Konzertpianistin abgefertigt wird: Schon nach wenigen Takten unterbricht sie der Chefdirigent und empfiehlt ihr, doch besser in einem Altenheim aufzutreten, wo sie ein dankbares Publikum finden werde. Wie wird Sara damit fertig? Zuhause greift sie zur Schere und zerlegt ihren Philodendron, und wenngleich sie sich danach wie eine Mörderin fühlt, so "war sie trotzdem erleichtert" (S. 146).
Warum muss das Schicksal Hermann so zusetzen? Ihm wird klar, dass er nicht einmal in der Lage ist, einen Koffer zu packen. Immer hatte Rosmarie für alles gesorgt. Die aber liegt jetzt auf der Intensivstation: künstliches Koma, Gehirnoperation. Völlig kopflos ist Hermann, der Boden ist ihm unter den Füßen weggerissen worden. Er stellt den Koffer später heimlich ab, verlässt das Krankenzimmer, "ohne Rosmarie noch einmal anzusehen" (S. 160).
Eine große Herausforderung ist die rätselhafte Erzählung "Im Wald". Die Schülerin Anja lebt unentdeckt drei Jahre in einem Wald. In der Natur hat sie ihr Zuhause gefunden, jedoch ausdrücklich, ohne ein Ökofreak zu sein oder dort einer zu werden. Als sie 20 Jahre später heiratet, kommt sie in der normalen Welt immer weniger zurecht. Seit jeher fühlt sie sich in ihren Träumen von einem mysteriösen Jäger verfolgt.
Der Reigen dieser Szenen beginnt allerdings geradezu amüsant. In der ersten Geschichte, "Sommergäste", sucht ein Schriftsteller Ruhe, um einen Aufsatz zu überarbeiten. Dazu mietet er sich in einem abgelegenen Hotel ein, zahlt schon im Voraus für Unterbringung und Halbpension. Dass das Haus verlassen steht, bis auf das junge Mädchen Ana, die jedoch weder sein Bett noch ein vernünftiges Abendbrot macht, verwundert ihn zwar, aber er beschwert sich nicht. Das Haus ist ohne Strom und Wasser, und als eines Tages ein Auto mit zwei Herren (Konkursverwalter und Kaufinteressent) auftaucht, ist Ana spurlos verschwunden. Ein kafkaeskes Konzept ...
Auch in "Sweet Dreams" ist der Protagonist ein Schriftsteller, der – wie der Autor selbst – Menschen beobachtet, um sie in seiner fiktionalen Geschichte wieder auferstehen zu lassen.
Einige Geschichten sind in die Thurgauer Gegend am Bodensee eingebettet. Der Seerücken ist die höchste Erhebung dort, stark bewaldet und in einer dünn besiedelten ländlichen Region gelegen.
Der Erzählungsband ist meisterliche Literatur in Miniaturen. Die Geschichten, in denen Peter Stamm Menschen mit zumeist unabwendbaren persönlichen Schicksalsschlägen konfrontiert, berühren den Leser auf eigentümliche Weise – und lassen ihm doch Distanz, werfen mehr Fragen auf, als sie Antworten geben.