Keine Beißhemmung, bitte!
»Wie gut, dass ich kein Dicker bin,« sang Marius Müller-Westernhagen 1978, als er noch jung und hager war. Schon damals war sein Text nicht politically correct; er brachte dem Rocker den Vorwurf ein, er mache sich über Menschen lustig, die unter ihrem ungeliebten, unverschuldeten, wenn nicht krankheitsbedingten Übergewicht leiden.
Mit dem bildkräftigen Titel »Fettberg«, den die Autorin Phyllis Kiehl ihrem Roman verliehen hat, will sie wohl auch ein bisschen pieksen. Was damit genau gemeint ist, legt sie nicht fest – ein Ort, gar eine Person, ein Schimpfwort? Welche Assoziationen, welche Gefühle sollen, dürfen wir damit verknüpfen? Fünfunddreißig Jahre nach Westernhagen sind wir auf der Hut.
Fest steht als unverfängliches, unbestreitbares Faktum: Fettleibigkeit ist schädlich. Unter der ständigen Überbelastung leiden die inneren Organe, der Knochen- und Muskelapparat. Viele der betroffenen Mitmenschen grämen sich, sind unzufrieden mit sich selbst, fühlen sich als Außenseiter, wo doch in den westlichen Konsumgesellschaften ein ganz anderes Schönheitsideal propagiert wird. Im Extremfall hassen sich Übergewichtige bis hin zu selbstzerstörerischen Tendenzen.
Wie ist ihnen zu helfen? Die einen versuchen, ihre Fresssucht zu mäßigen, oder stellen ihre Ernährung um, andere greifen zu Medikamenten, wieder andere lassen sich operieren.
Phyllis Kiehl erzählt von der »Weiko-Sud Fastenklinik«, einer Institution, wo (laut Klappentext) »eine Gruppe extrem übergewichtiger Patienten … mit eigenen Regeln und Ritualen« lebt; sie »propagiert eine neue Lust am Unmaß und versteht unter ›Hunger‹ etwas ganz anderes als einen knurrenden Magen …«
Was erwartet uns da – eine Groteske? eine Satire? eine Tragödie? Voyeurismus? Realismus? Vielleicht ist es ein erfolgversprechendes Konzept, wenn gleichgesinnte Leidensgenossen in der Abgeschiedenheit eines Sanatoriums zur Ruhe kommen können. Mit der inneren Einkehr fällt das Abnehmen sicher ebenso leichter wie die Akzeptanz des eigenen Schicksals …
Falsch gedacht! Diese Privatklinik ist gar kein Schonreservat. Die gut betuchte Klientel wird nicht in Watte gepackt – im Gegenteil: Das Therapiekonzept setzt auf reinen Horror. Hinter den Mauern des Baukomplexes, der wie ein Hochsicherheitsgefängnis abgeschottet ist, werden die Fettleibigen systematisch gedemütigt, frustriert, gequält. Der Tag beginnt mit dem Antreten zum öffentlichen Wiegen. Dazu versammeln sich alle in einem rundum verspiegelten showroom. Einer nach dem anderen muss auf die erhöhte Wiege-Plattform aus kaltem Metall steigen, zu der eine schräge Rampe hinaufführt. Wer die Steigung nicht allein bewältigt, den schiebt ein Pfleger nach oben, wie der Abdecker ein Rind in den Viehtransporter drückt. Das aktuelle Tagesgewicht strahlt für jeden sichtbar vom Display. Wer zuviel aufzubieten hat, für den ist anschließend ein »Papiertag« angesagt: Statt in Alltagskleidung wird er in hautfarbenes Papier gewandet, was den Mitbewohnern Anlass zu befreiendem Spott und Feixen bietet – bis sie selbst dran sind. Der diskriminierenden Maßnahmen gibt es noch viele, wie etwa ein fröhliches Ratespiel beim Mittagessen: Wie viele Kalorien hat dieses köstliche Kartoffelpüree? – Schade, falsch geraten! Und schon verschwindet das Objekt der Begierde in einem »trichterförmigen Gulli« in der Tischmitte.
Nun soll die skurrile Anstalt einen neuen Chefarzt bekommen. Am Nachmittag wird der Neue erwartet: Dr. Ariel Tense, 43, direkt von der renommierten Cristobal-Klinik in Brasilia. Was wird sich mit ihm ändern?
Easy – die Gesamtsituation verschärft sich noch weiter, die Atmosphäre spitzt sich zu. Während Dr. Tense sein neues Domizil durchschreitet, ihm Energie einhaucht, verweigert ihm der Leiter der Klinik, der legendäre Dr. Sago, ein Vorstellungsgespräch. Warum ist er mit der Neubesetzung nicht einverstanden? Zugegeben – mit diesem skurrilen Mann scheint irgendetwas ganz und gar nicht in Ordnung zu sein. Was auch immer es ist, verständlicherweise gerät er in Rage, als er, das anerkannte Genie, der »Chirurg am Skalpell der wörtlichen Rede«, der Meister der »Gehirnwäsche« bis zum völligen Zusammenbruch seiner behandelten Patienten, nun auf einen Termin bei diesem Dilettanten Sago warten muss …
Im Verlauf einer Modenschau, die die Designerin und Managerin des Labels »Huge« (Mode für Übergewichtige) und selbst Weiko-Sud-Patientin, organisiert hat, explodiert der »Fettberg«: Es wird gemordet und vergewaltigt – wer steckt dahinter? Wie konnte sich die Situation so aufheizen?
Phyllis Kiehls »Fettberg« ist ein originelles Buch mit Krimieinschlag, in amüsantem Alltagston und dialogreich erzählt, voll von bissiger Ironie und satirischen Spitzen, frei von Beißhemmung aus political correctness. Die menschlichen Abgründe dürfen unbeeinträchtigt genossen werden. Denn hier trügt der Schein; in einer großen Lüge haben sich einige auf Kosten anderer gemütlich eingerichtet, und nur wenigen Auserwählten ist es vergönnt, in den inneren Zirkel vorzudringen.
Guten Appetit!