Die Grenzen der Unschuld
Es ist eine düstere Welt, die Rax Rinnekangas in seinem mit dem finnischen Literaturpreis ausgezeichneten Roman schildert. Dabei beginnt die Erzählung des erwachsenen Protagonisten Lauri mit dem Rückblick auf einen Sommer seiner Jugend, den er als beglückend und berauschend erlebte. Doch die einzigartigen Wochen enden in einer Katastrophe, die er nie vergessen wird. Selbst der Mond, so meint schon der Originaltitel »Kuu Karkaa« (Übersetzung: Stefan Moster), flieht vor dem, was hier einst geschah.
Jedes Jahr verbringt Lauri die Sommerferien in Latvala, wo ihn seine Verwandten und ihr Bauernhof erwarten. Er weiß schon, dass er gemeinsam mit seinen beiden Cousins, dem etwas jüngeren Leo und der etwas älteren Sonja, im geregelten Tagesablauf gewisse Pflichten zu erfüllen hat. Doch was die drei danach treiben, darum kümmern sich Onkel und Tante nicht. Sie haben mit der Landwirtschaft alle Hände voll zu tun, und auch ihre Gedankenwelt hält sie gefangen. Ein fester Glaube diktiert ihnen ein asketisches Leben fern von allem Weltlichen, strenge Verhaltensregeln, schlichte dunkle Kleidung. Nur bei ihren gelegentlichen Erweckungszeremonien erlauben sie sich ekstatische Verzückung. Im Schatten all der Betriebsamkeit wachsen die Kleinen von ihnen unbemerkt auf und genießen ihre ungezügelte Freiheit. »Die Gläubigen hatten vor lauter Glauben ihre eigenen Kinder nicht gesehen.«
Im Sommer springen, tanzen, lachen, toben die drei in der Natur, die in ihrer Vorstellung durch und durch beseelt ist, selbst die Steine, die sie sammeln. Sonja, in der Schule die Beste ihrer Klasse, philosophiert: »Die Menschen werden mit Steinen im Herzen geboren. Darum beten sie soviel. Sie bitten darum, in ihrem Herzen möge das Gewicht des Steins nachlassen.« Gern klettern sie auf den »Prügelmann«, eine finstere, hohe Fichte, an der der Legende nach vor Urzeiten ein böser, sündiger Knecht gehängt wurde. Wenn die Kinder oben in den Ästen sitzen und das ferne Dorf sehen, lassen sie mit viel Geschrei und heftigen Bewegungen die Äste schwingen und träumen mit ausgestreckten Armen, sie flögen in Flugzeugen durch die Lüfte.
In jenem schicksalhaften Jahr, als Lauri dreizehn Jahre alt ist, entdecken die drei Cousins etwas Neues. Unter der sicheren Anleitung der elfengleichen Sonja (»schöne Gesichtszüge, fast weißes Haar ... ein unerklärlich fernes, mystisches Wesen«) beginnen sie einander zu berühren, erforschen ihre Körper, genießen unbekannte Gefühle, und nichts hält sie in ihrer Neugier zurück. Aber je weiter sie fortschreiten, desto stärker wird ihre Ahnung, dass sie etwas Unrechtes tun, dass sie ihr Handeln vor allen anderen verbergen müssen.
Dass damit die Idylle einer »Sommergeschichte« ihre Unschuld verliert und ein böses Ende droht, darauf haben uns schon die ersten Sätze des nur 160 Seiten starken Büchleins eingestimmt: »Auf den Tod nahmen wir keine Rücksicht. Wir kannten ihn nicht und dachten auch nicht an ihn, bis er in jenem Sommer in unser Leben trat.« Den Weg ins Verderben und darüber hinaus entwickelt Rax Rinnekangas in drei Kapiteln: »Freude«, »Trauer«, »Sühne«. Mit dem inzestuösen Geschlechtsverkehr der Kinder schleicht sich die Erkenntnis ein, eine verbotene Grenze überschritten zu haben. Gewissensnöte und die ständige Furcht vor Entdeckung plagen insbesondere den dümmlichen Leo, der sich von einem Erntehelfer intensiv beobachtet glaubt. Schließlich eskalieren aufgestaute Emotionen in einem Streit zwischen Leo und Sonja, und die Prophezeiung der Anfangssätze wird blutige, grausame Realität.
Die Welt von Latvala ist geteilt. Das geheimnisvolle, sinnliche Paralleluniversum der Kinder ist umgeben von der spröden, für sie unverständlichen Welt der frömmelnden Großen. Zu der gehören aber nicht alle Erwachsenen. Lauris Großvater zum Beispiel steht außerhalb der verschworenen Gemeinschaft. Er wohnt abseits des Dorfes, man meidet ihn und schweigt sich über ihn aus. Der plötzliche Herztod seiner Frau hatte ihn in den Kriegsjahren zu einer Wahnsinnstat getrieben. Mitten im kalten Winter hatte er seine vier Kinder in warme Schaffelle gewickelt, auf einen Schlitten gepackt und die menschliche Fuhre einfach an der Landstraße außerhalb des Dorfes zurückgelassen. Es waren Verwandte, die sich der Kinder annahmen und sie großzogen.
Vierzehn Jahre lang blieb der Mann verschollen, und im Dorf rankten sich die absonderlichsten Spekulationen um ihn. Aber »das Böse kehrt immer auf die Erde zurück«, wissen die Strenggläubigen. Auch Großvater tauchte auf wie ein von den Toten Auferstandener, forderte sein Erbteil und führte fortan ein zurückgezogenes Einsiedlerdasein. Mit guter Arbeit in seinem Sägewerk fand er langsam wieder Anerkennung und wurde wenigstens geduldet.
Lauri begegnet seinem mysteriösen Verwandten zum ersten Mal, als er nach der entsetzlichen Katastrophe, die den Sommer der Unschuld jäh beendete, in tiefster Trauer ganz allein gelassen ist. Der alte Mann hatte die Kinder schon lange beobachtet, vielleicht auch von ihren verbotenen Spielen gewusst. Auf den Feriengast Lauri war er besonders stolz und hatte ihn ins Herz geschlossen. Nun führen die beiden ein ernstes Gespräch. Der lebenserfahrene Großvater erzählt seinem Enkel nicht nur von sich, sondern spricht mit ihm auch über Grundsätzliches – über die Trauer um einen verlorenen geliebten Menschen, über die Bedeutung eigenständigen Entscheidens, über den eigenen Gott und den der anderen. Erst als gereifter Erwachsener wird Lauri die Worte seines Großvaters verstehen und zu würdigen wissen.