Rezension zu »Der Mond flieht« von Rax Rinnekangas

Der Mond flieht

von


Belletristik · Graf · · Gebunden · 160 S. · ISBN 9783862200344
Sprache: de · Herkunft: fi

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Die Grenzen der Unschuld

Rezension vom 28.10.2016 · 1 x als hilfreich bewertet · noch unkommentiert

Es ist eine düstere Welt, die Rax Rinnekangas in seinem mit dem finnischen Literatur­preis ausge­zeich­neten Roman schildert. Dabei beginnt die Erzählung des erwach­senen Prota­gonisten Lauri mit dem Rückblick auf einen Sommer seiner Jugend, den er als beglückend und berauschend erlebte. Doch die einzig­artigen Wochen enden in einer Katastrophe, die er nie vergessen wird. Selbst der Mond, so meint schon der Ori­ginal­titel »Kuu Karkaa« (Über­setzung: Stefan Moster), flieht vor dem, was hier einst geschah.

Jedes Jahr verbringt Lauri die Sommerferien in Latvala, wo ihn seine Ver­wand­ten und ihr Bauern­hof er­warten. Er weiß schon, dass er gemein­sam mit seinen beiden Cousins, dem etwas jüngeren Leo und der etwas älteren Sonja, im ge­regel­ten Tages­ablauf gewisse Pflichten zu erfüllen hat. Doch was die drei danach treiben, darum kümmern sich Onkel und Tante nicht. Sie haben mit der Land­wirt­schaft alle Hände voll zu tun, und auch ihre Ge­danken­welt hält sie gefangen. Ein fester Glaube diktiert ihnen ein aske­tisches Leben fern von allem Welt­lichen, strenge Ver­haltens­regeln, schlichte dunkle Kleidung. Nur bei ihren ge­legent­lichen Er­weckungs­zere­monien erlauben sie sich eksta­tische Ver­zückung. Im Schatten all der Be­trieb­sam­keit wachsen die Kleinen von ihnen unbe­merkt auf und genießen ihre unge­zügelte Freiheit. »Die Gläu­bigen hatten vor lauter Glauben ihre eigenen Kinder nicht gesehen.«

Im Sommer springen, tanzen, lachen, toben die drei in der Natur, die in ihrer Vor­stellung durch und durch beseelt ist, selbst die Steine, die sie sammeln. Sonja, in der Schule die Beste ihrer Klasse, philo­sophiert: »Die Menschen werden mit Steinen im Herzen geboren. Darum beten sie soviel. Sie bitten darum, in ihrem Herzen möge das Gewicht des Steins nach­lassen.« Gern klettern sie auf den »Prügel­mann«, eine finstere, hohe Fichte, an der der Legende nach vor Urzeiten ein böser, sündiger Knecht gehängt wurde. Wenn die Kinder oben in den Ästen sitzen und das ferne Dorf sehen, lassen sie mit viel Geschrei und heftigen Be­we­gun­gen die Äste schwingen und träumen mit aus­ge­streck­ten Armen, sie flögen in Flug­zeugen durch die Lüfte.

In jenem schicksalhaften Jahr, als Lauri dreizehn Jahre alt ist, entdecken die drei Cousins etwas Neues. Unter der sicheren Anleitung der elfen­gleichen Sonja (»schöne Gesichts­züge, fast weißes Haar ... ein uner­klärlich fernes, mystisches Wesen«) beginnen sie einander zu berühren, erforschen ihre Körper, genießen unbe­kannte Gefühle, und nichts hält sie in ihrer Neugier zurück. Aber je weiter sie fort­schreiten, desto stärker wird ihre Ahnung, dass sie etwas Unrechtes tun, dass sie ihr Handeln vor allen anderen verbergen müssen.

Dass damit die Idylle einer »Sommer­geschichte« ihre Unschuld verliert und ein böses Ende droht, darauf haben uns schon die ersten Sätze des nur 160 Seiten starken Büch­leins einge­stimmt: »Auf den Tod nahmen wir keine Rück­sicht. Wir kannten ihn nicht und dachten auch nicht an ihn, bis er in jenem Sommer in unser Leben trat.« Den Weg ins Verderben und darüber hinaus entwickelt Rax Rinne­kangas in drei Kapiteln: »Freude«, »Trauer«, »Sühne«. Mit dem inzes­tuösen Ge­schlechts­verkehr der Kinder schleicht sich die Er­kenntnis ein, eine verbotene Grenze über­schritten zu haben. Ge­wissens­nöte und die ständige Furcht vor Ent­deckung plagen insbe­sondere den dümm­lichen Leo, der sich von einem Ernte­helfer intensiv beob­achtet glaubt. Schließlich eskalieren aufgestaute Emotionen in einem Streit zwischen Leo und Sonja, und die Prophe­zeiung der Anfangs­sätze wird blutige, grausame Realität.

Die Welt von Latvala ist geteilt. Das ge­heimnis­volle, sinn­liche Parallel­univer­sum der Kinder ist umgeben von der spröden, für sie un­ver­ständ­lichen Welt der fröm­melnden Großen. Zu der gehören aber nicht alle Erwach­senen. Lauris Groß­vater zum Beispiel steht außer­halb der ver­schwo­renen Gemein­schaft. Er wohnt abseits des Dorfes, man meidet ihn und schweigt sich über ihn aus. Der plötzliche Herztod seiner Frau hatte ihn in den Kriegs­jahren zu einer Wahn­sinns­tat getrieben. Mitten im kalten Winter hatte er seine vier Kinder in warme Schaf­felle gewickelt, auf einen Schlitten gepackt und die mensch­liche Fuhre einfach an der Land­straße außerhalb des Dorfes zurück­ge­lassen. Es waren Verwandte, die sich der Kinder an­nahmen und sie groß­zogen.

Vierzehn Jahre lang blieb der Mann verschollen, und im Dorf rankten sich die ab­sonder­lichs­ten Speku­la­tionen um ihn. Aber »das Böse kehrt immer auf die Erde zurück«, wissen die Streng­gläu­bigen. Auch Groß­vater tauchte auf wie ein von den Toten Auf­er­stan­dener, forderte sein Erbteil und führte fortan ein zurück­gezoge­nes Ein­siedler­dasein. Mit guter Arbeit in seinem Sägewerk fand er langsam wieder Aner­kennung und wurde wenigs­tens geduldet.

Lauri begegnet seinem mysteriösen Verwandten zum ersten Mal, als er nach der entsetzlichen Katastrophe, die den Sommer der Unschuld jäh beendete, in tiefster Trauer ganz allein gelassen ist. Der alte Mann hatte die Kinder schon lange beob­achtet, vielleicht auch von ihren ver­botenen Spielen gewusst. Auf den Ferien­gast Lauri war er besonders stolz und hatte ihn ins Herz geschlossen. Nun führen die beiden ein ernstes Gespräch. Der lebens­erfah­rene Groß­vater erzählt seinem Enkel nicht nur von sich, sondern spricht mit ihm auch über Grund­sätz­liches – über die Trauer um einen ver­lore­nen gelieb­ten Menschen, über die Bedeutung eigen­ständi­gen Ent­scheidens, über den eigenen Gott und den der anderen. Erst als gereifter Erwach­sener wird Lauri die Worte seines Groß­vaters verstehen und zu würdigen wissen.


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