Rezension zu »Mr. Chartwell« von Rebecca Hunt

Mr. Chartwell

von


Belletristik · Luchterhand · · Gebunden · 256 S. · ISBN 9783630873473
Sprache: de · Herkunft: gb

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Kriegsheld Churchills Mühsal, Tränen und Schweiß

Rezension vom 30.05.2012 · noch unbewertet · noch unkommentiert

Depression ist in den westlichen Gesellschaften zur Volkskrankheit geworden und hat erschreckende Ausmaße angenommen. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts hingegen war sie der Bevölkerung weitgehend unbekannt und ein Tabuthema. Wie sollte man sich das denn auch vorstellen: "Die Seele ist krank"? Die Betroffenen galten als übersensible Hypochonder, als Jammerlappen und Drückeberger, die sich aus der Verantwortung des Alltags stehlen wollten. Der Volksmund wusste schlichten Rat: "Sollen sie sich doch zusammenreißen, sich nicht so in alles hineinsteigern, dann wird es schon werden." Hilfreich war das damals ebenso wenig wie heute.

Aber auch die Wissenschaft stößt noch im 21. Jahrhundert in Diagnostik und Therapie an ihre Grenzen. Zwar kann sie übereinstimmende Verhaltensweisen bei den Betroffenen statistisch ermitteln und auswerten; zwar versteht man inzwischen Stoffwechselvorgänge, die noch vor ein paar Jahrzehnten absolut unzugänglich waren; zwar hat man eine Vielzahl differenziert wirkender Pharmaka entwickelt; weil die Erkrankung jedoch äußerst individuell verläuft, ist sie äußerst schwer zu behandeln – sofern sich ein Patient überhaupt anderen anvertraut. Jeder von ihnen empfindet sein Leiden (das auch schwere körperliche Schmerzen mit sich bringen kann) völlig anders. Angehörige schaffen es mit viel Liebe und Verständnis, zu akzeptieren, dass in ihrer Mitte jemand lebt, der keinerlei Lebensfreude mehr aufbringen kann, sich allem verschließt, ja sogar das Lebenselixier Sonne meidet, sich lieber in ein dunkles Zimmer zurückzieht und nur noch seine Ruhe haben möchte. Der Hoffnung beraubt, jemals wieder zu gesunden, ist für viele der Selbstmord geradezu eine Erlösung. Dies zu begreifen ist für einen gesunden Menschen fast unmöglich.

Dass auch Großbritanniens Kriegsheld Sir Winston Churchill unter Depressionen litt, passt so gar nicht zu dem tradierten Image des kernig-griesgrämigen Premierministers, der seine Landsleute in einer berühmten Rede (am 13. Mai 1940) auf eine langwierige Schlacht einschwört, in der sie nur "blood, toil, tears, and sweat" (Blut, Mühsal, Tränen und Schweiß) zu erwarten hätten, ehe sie den Sieg erringen werden.

Sir Winston Leonard Spencer-Churchill wurde 1874 in Woodstock geboren, und die Familie war genetisch belastet. Schon sein Vater litt unter Depressionen, und auch seine Kinder erkrankten daran. Churchill vertraute sich einem Psychoanalytiker, Lord Moran, an, betrieb aber auch eine Art Selbstmedikation: Willensstärke, Arbeitswut, die die Nacht zum Tag machte, Whisky, Nikotin und gutes Essen ermöglichten es ihm, seine politischen Amtsgeschäfte in einer schweren Zeit wahrzunehmen.

Churchill selbst bezeichnete seine bipolare Depression, die ihn in immer wiederkehrenden Episoden schwer belastete, als "Black Dog". An eben dieser Tiermetapher setzt die Autorin Rebecca Hunt das Konzept ihres Debütromans an. Sie erweckt den schwarzen Hund zum Leben, benennt ihn nach Churchills Landsitz Chartwell in Kent und personifiziert in dem lebensgroßen, sprechenden Monster das erdrückend schwere, unendlich erschöpfende Scheusal der Depression, das kommt und geht, nicht mit sich handeln lässt und sich gerade dann nicht verzieht, wenn der Heimgesuchte es gerne hätte.

Der Zeitrahmen des Romans "Mr. Chartwell", den Hans Ulrich Möhring übersetzt hat, umfasst nur eine halbe Woche: von Mittwoch, 22. Juli, bis Montag, 27. Juli 1964. Dies ist der Tag, an dem Churchill nach über 60 Jahren als Abgeordneter endgültig aus dem Parlament verabschiedet wird. Er ist 89 Jahre alt und an den Rollstuhl gefesselt, als er seinen Ruhestand beginnt. Er malt im Garten, betrachtet die schwarzen Schwäne, sitzt gerne und lange in seinem Bett, arbeitet im Satinbademantel an seinem Schreibtisch, Whisky und Zigarre dürfen nicht fehlen. Oft schweifen seine Gedanken zu seiner großen Liebe, seiner treuen und starken Ehefrau Clementine. Die erbittet in einem Gespräch mit Mr. Chartwell, er möge ihrem Mann für seine letzten Lebensjahre doch einen gnädigen Waffenstillstand gewähren.

Die alleinstehende, melancholische Bibliotheksangestellte Esther Hammerhans staunt nicht schlecht, als sich auf ihr Inserat hin ein großer Hund bei ihr vorstellt und das Zimmer in ihrem Reihenhaus in Batterseas für ein paar Tage zu mieten wünscht. Lange zögert sie, diesem hässlichen Bild des Grauens, das seinen Tee so unappetitlich schlabbert, Unterkunft zu bieten. Doch schließlich kann sie Mr. Chartwell, dem "charismatischen Talkmaster", nicht widerstehen, bietet er ihr doch obendrein eine Pauschale von 1000 Pfund, was ihrem Jahresgehalt im Westminster Palace entspricht. Er vertraut ihr an, dass er einen Auftrag bei einem politischen Kunden habe, der ihn schon ziemlich lange kenne. Nein, Freunde seien sie nicht; zwar möge er den Mann, doch der andere fürchte und verachte ihn zutiefst.

Mit bestem Humor der bewährten englischen Art beschreibt Rebecca Hunt harmlos-nett, dabei aber hintergründig, makaber und grotesk das Verhalten des menschlichen Hundes Mr. Chartwell – wie er seine Zähne mit Esthers Kochlöffel und Trockentuch putzt, wie er Patiencen legt, das traute Heim zerkratzt und verdreckt, sich mehr und mehr breit macht und intelligent parliert. Mit zittriger Stimme "Tiptoe through the Tulips" summend, dringt er in pantomimischem Schleichgang als "Weihnachtsmann aus der Unterwelt" fast unbemerkt in die Intimsphäre der anderen ein. Sein Opfer – Churchill – macht er schier wahnsinnig: Der möchte sich gern auf ein Buch konzentrieren und den Hund links liegen lassen, doch es ist ein Ding der Unmöglichkeit, jemanden zu ignorieren, der klappernd Steine kaut ...

Natürlich bleibt das Lachen jedem Leser im Halse stecken, sobald er sich die Doppeldeutigkeit des Erzählten bewusst macht. Auf dem unspektakulären Cover sitzt Mr. Chartwell und liest seine Zeitung, gemütlich, mit seinem treuen Hundeblick gleich Sympathie und Zutrauen erweckend – doch über ihm rücken drohende schwarze Wolken an. Sie symbolisieren die Urgewalt, das wahre Monster, das sich nie vertreiben lässt, die unerträgliche schmerzhafte Belastung, Churchills täglichen Krieg mit seinem inneren Feind.


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