Einmal schuldig, immer schuldig ...
Petra Hammesfahr, 1951 geboren, gilt als eine der erfolgreichsten deutschen Krimi-Autoren. Seit 1991 hat sie unzählige Romane und Erzählungen geschrieben, von denen einige erfolgreich verfilmt wurden, wie zum Beispiel Der stille Herr Genardy (verfilmt 1997), Der Puppengräber (2003) und zuletzt Die Lüge (2008).
In meinem Bücherschrank steht einzig "Der Puppengräber", ein Psychothriller, der mich 2003 begeisterte, weil die Autorin uns ganz raffiniert und intuitiv in die Psyche von Individuen hineinblicken lässt, die vom "Durchschnittsmenschen" weit abweichen, seien es traumatisierte oder von Geburt an benachteiligte Personen oder Käuze aus der Spezies der "ganz normal Wahnsinnigen".
Nach diesem Erfolgsrezept baut sie in ihrem neuesten Krimi "Die Schuldlosen" ein breit angelegtes Familienepos auf, das drei Generationen inklusive Verwandten und Angeheirateten umfasst. In einem kleinen Kaff putscht der Tratsch manchen Schicksalsschlag erst richtig hoch und sortiert die Gesellschaft in Akzeptierte und Außenseiter.
Janice Heckler, die "Dorfmatratze", provoziert die Männer auf unangenehm aufdringliche Weise, bis man sie eines Tages halbnackt und tot im Dorfbach findet. Lothar weiß etwas über den mutmaßlichen Täter: Er überraschte seinen Freund Alex am Tatort, wie er Janice' Kopf ins Wasser drückte. Alex hatte an dem Tag private Probleme, die er im Lokal "Linde" im Suff hatte ertränken wollen. Was die Begegnungen am Bach angeht, hat er leider einen Filmriss – nur Lothars Worte sind ihm im Gedächtnis geblieben: "Lass sie los, du bringst sie ja um." Das reicht. Obwohl der Fall nie ganz aufgeklärt wird (weder Janice' Highheels noch ihre Kleidung wurden je gefunden), geht Alex für sechs Jahre ins Gefängnis.
Nach seiner Haft kehrt Alex in sein Heimatdorf zurück. Da möchte er in die Villa einziehen, die ihm seine verstorbene Mutter vererbt hat, und Kontakt zu seiner Tochter Saskia aufnehmen, die er seit ihrer Geburt vor sieben Jahren nicht mehr gesehen hat. Doch keiner will ihn inmitten der Gemeinschaft wohnen haben. Die ganze Vergangenheit blubbert wieder hoch ...
Alex war nämlich ein verhätscheltes Kind. Seine Mutter hatte ihn, nachdem ihre Tochter Alexandra verstorben war, als Ersatz in Mädchenkleidung gesteckt und mit Puppen spielen lassen. Kein Wunder, dass er in der Schule gemobbt wurde und sich danach zum prügelnden Schrecken des Ortes entwickelte. Kaum hatte er den Führerschein, da baute Alex bei einer Spritztour einen Verkehrsunfall, bei dem der beifahrende Gebrauchtwagenhändler auf grausame Weise ums Leben kam, und danach blieb alles Übel an ihm hängen. Jetzt ist Alex für uns Leser deutlich markiert; die Autorin hat ihn in etwas schlichter Schwarz-weiß-Malerei hinreichend fokussiert.
Selbst der blindeste Maulwurf wird schon frühzeitig durchschauen, dass Alex für jemand anderen die Schuld am Tod von Janice Heckler auf sich genommen hat, während der wahrhaft Schuldige in Ruhe, Glück und Frieden leben darf. So plätschert der Roman ohne große Ausschläge der Spannungs- und Überraschungskurven vor sich hin, ohne dass wir durch plötzliche Kehrtwendungen, sensationelle Geheimnisenthüllungen oder schwergewichtige Motive aus der Feierabendruhe gebracht würden.
Zwar ist dieser Krimi kein großer Wurf der Autorin, aber doch eine nette Unterhaltungslektüre bewährter Art, wie man sie so oder ähnlich auch schon mal gelesen hat. Überzeugend ist die Autorin in ihrer unaufgeregten Darstellung des dörflichen Lokalkolorits mit einfachen, biederen, bornierten und teilweise schlicht dummen Menschen, die hinter ihren Gardinchen ihr Süppchen kochen. In dieser Gemeinschaft gibt es vieles, was es gibt, aber besser nicht geben sollte. Hinter der heilen Fassade lebt die Lüge. Wer es schafft, einem solchen Ort der Doppelmoral zu entfliehen, mag sich glücklich schätzen, wird aber trotzdem zeitlebens verurteilt und nicht verstanden werden ...