Igor, niemand ist so besonders wie du!
Oma Nettie sitzt in der U-Bahn auf dem Weg nach Hause. Sie war noch kurz bei Stanley, der einen Schnellimbiss führt. Hier kauft sie oft für sich und Igor ein, teilt Stanley ihre Sorgen mit. Der hat gut reden, denkt sie nun, "Pff, als wenn das Leben so einfach gestrickt wäre!" (S. 256).
Nettie ist 56 Jahre alt. Seit fast zwei Jahrzehnten drehen sich ihre täglichen Sorgen nur um eine Person: Igor. Er ist der Sohn ihrer Tochter Jolie, die mit 16 von zu Hause abgehauen, auf die schiefe Bahn geraten, mit Drogen und Kriminalität in Kontakt geraten und obdachlos geworden ist – und die einen behinderten Jungen, Igor, geboren hat.
Als Igor fünf Jahre alt war, beschloss das Sozialgericht, Jolie das Sorgerecht zu entziehen. Da Nettie einen festen Arbeitsplatz als Toilettenfrau nachweisen konnte, wurde Igor ihr zugesprochen. Nach dem Prozess spuckte Jolie ihre Verachtung Nettie ins Gesicht; sie würden einander nie mehr wiedersehen.
Nach all den Jahren hat Nettie ihrer Tochter verziehen, sieht sogar Fehler bei sich selber – war sie doch als junges Ding voll der Hippie, träumte davon, mit einem umgebauten VW-Bus nach Indien zu reisen, war immer aufsässig, ein querköpfiger Teenager, der auch von zu Hause ausriss. Vielleicht hatte sie Jolie vernachlässigt, ihr nicht alles gegeben.
Jetzt muss Nettie Jolie wiederfinden, um ihr von Igor zu berichten, der, seit er 16 Jahre alt ist, in einer Behindertenwerkstatt sein eigenes Geld verdient. Eine kurze Zeit hatte er sogar eine Freundin, Lisa, die ein kleines Baby mitbrachte und bei ihnen wohnte. Lisa hatte einen Fahrradunfall gehabt, im Koma gelegen und ist seither hirngeschädigt. Aber was tut Oma Nettie nicht alles, nur Igor zuliebe – auch wenn sie sich so ihre Gedanken macht: Es stinkt ihr, dass sie nun "zwei von der Sorte" und obendrein ein Baby in ihrer Wohnung hat. Und hat Lisa ihren Igor womöglich nur ausgenutzt, um einen Schlafplatz zu finden? Vorher lebte sie bei der Heilsarmee und verkaufte Obdachlosenzeitungen.
Renate Dorrestein lässt uns in eine Welt eintauchen, die den meisten völlig fremd sein wird. Ihre Protagonisten sind vom Leben gebeutelt und gehärtet, leben genügsam auf unterstem Sozialniveau, haben ein einfaches Gemüt und einfache Gedanken, aber ihre Menschlichkeit bewahrt. Dabei steht Nettie im Mittelpunkt. Ihre Arbeitskolleginnen in der Toilettenabteilung sind, neben Stanley, ihre einzigen "normalen" Gesprächspartner, aber eine geistige Bereicherung können sie ebenso wenig sein wie ein kritisches Korrektiv ihrer Vorstellungen und Pläne.
Nettie nimmt ihre schwere Aufgabe voller Ehrlichkeit und Aufopferungsgabe an. Sie ist glücklich, ihr einziges Lebensziel erreicht zu haben: Igor muss nicht eingesperrt oder in einem Heim untergebracht leben, wenngleich er schon mal Dinge missverstehen und in seiner Wut alles kurz und klein schlagen kann. Jetzt ist er tagsüber betreut und baut voller Stolz Wohnmobile zusammen.
Igor beobachtet seine Umwelt und teilt sich dem Leser in einfachen Sätzen aus seiner Perspektive und in seiner individuellen Logik mit. Als er zehn Jahre alt ist, fragt er: "Oma, gibt es noch so einen wie mich?" (S. 35). Bemerkt er tatsächlich, dass er anders ist? Trotz seiner geistigen Behinderung gelangt er zu frappierenden Einsichten: "Vorausdenken macht glücklich, zurückdenken nicht." "Man muss nur immer klaren Kopf behalten." (S. 25). Wie jeder andere Mensch sehnt er sich nach Liebe, braucht Sex, empfindet Trauer. Insbesondere Bobbie, seiner ersten und einzigen wahren •platonischen) Liebe, trauert er nach. Sie arbeitete nur kurz in der Werkstatt, hielt den Lärm und die vielen Menschen um sie herum nicht aus und ging wieder fort. Vielleicht gibt es eines Tages ein Wiedersehen ...
Nettie hat es Stanley zu verdanken, dass man ihren Igor nicht verhaftet und wegsperrt. Stanley hat die Sache mit Lisa, Igor und dem Baby von Anfang an richtig eingeschätzt. Ohne große Worte geht er den Weg auf Igors Weise mit ihm zurück und bringt die Angelegenheiten zu einem guten Ende ... Dann kann er Nettie berichten, was sich damals wirklich zutrug – und wovon sie keinen Schimmer hatte.
Renate Dorresteins Roman "Alles voller Hoffnung" macht Mut und gibt "Hoffnung", dass es immer einen Weg gibt, und wenn es auch nur ein ganz kleiner Lichtschimmer ist, der diesen vom Schicksal hart getroffenen Menschen Sonne bringt.
Trotzdem fällt es mir schwer, dieses Buch so ganz ohne Kritik abzulegen. Mir fehlt es darin an Differenzierung. Nettie ist ein solcher Gutmensch, dass sie jede Herausforderung annimmt und dafür ihr eigenes Ich restlos aufgibt, und das ist mir denn doch zu einseitig oder klischeehaft. Auch Nettie steht einmal ein Ausraster zu ...
Literarisch absolut überzeugend gelingt es der Autorin, sich in Igor hineinzuversenken. Die Gestaltung seines Handelns und seiner immer wieder verblüffenden Gedanken könnte einen Behinderten kaum sensibler, respektvoller und authentischer porträtieren und ist weit davon entfernt, ihn auch nur ansatzweise als minderwertig abzuqualifizieren.
Renate Dorrestein wurde 1954 in Amsterdam geboren, arbeitete zunächst als Journalistin und gehört heute zu den bedeutendsten niederländischen Autorinnen. Mehrere ihrer Romane wurden für wichtige niederländische Literaturpreise nominiert.