Manhattan-Cops: Einsatz im Schleudergang
In ständig wechselnden Situationen mit immer neuen Herausforderungen konfrontiert – so begleiten wir in diesem außergewöhnlichen Krimi eine Crew der New Yorker Polizei durch ihre Nachteinsätze. Zum Atemholen bleibt weder den Cops noch dem Leser Zeit. Die Polizisten bewältigen ihren bemerkenswerten Job chronisch unterbesetzt, unter permanentem Zeitdruck und komplexen Anforderungen. Sie müssen durchgreifen und Verständnis aufbringen, kontrolliert auftreten, Emotionen im Griff behalten, alle juristischen Vorgaben strengstens beachten, Täter und Opfer gleichermaßen gerecht werden.
Der Roman setzt am St. Patrick's Day ein. Wie jede Nacht sind mehrere Reviere Manhattans zusammengefasst und fünf Beamte zu einem Team zusammengewürfelt worden. Das sind nicht nur viel zu wenige, sondern sie sind auch nicht alle gleich zuverlässig. Deshalb finden sich üblicherweise ein paar Freiwillige aus der Tagschicht, die sie unterstützen. Der Leiter ist Billy Graves, 42. Er hasst es, immer wieder auf ein neues buntes Sortiment von Aushilfen zu treffen, vor allem in dieser Nacht, die er als eine der schlimmsten des Jahres fürchtet. Schon in den frühen Morgenstunden werden sie übermüdet und nicht mehr zu gebrauchen sein. Er selbst – zwar »kompakt wie ein Footballer«, aber mit »vor Erschöpfung glasigen Augen« – ist nicht mehr der harte Draufgänger-Typ wie früher. Er hofft einfach, dass sein Team im nächtlichen Chaos von Manhattan von Ärger verschont bleibt, dass nur »Kleinscheiß« anfällt, den man der Streife rüberschieben kann.
Doch die Wirklichkeit sieht anders aus: »C'est la guerre.« Autor Richard Price jagt seinen Protagonisten, seine Mannschaft und uns Leser atemlos durch die Nächte. Es erinnert an gute Reportagen, wie er Episoden aneinander reiht, in denen sich Verbrechen unterschiedlichster Art ereignet haben, wie er Tatorte beschreibt, die Aufnahme der Spuren und erste Verhöre protokolliert, tumultartige Szenen festhält. Da hat ein Vater ein vier Monate altes Baby fallengelassen, dort gab es eine Messerstecherei, ein Transsexueller wurde erdrosselt, ein 100 kg schwerer Thunfisch aus der Küche eines Sushirestaurants gestohlen, und einem Anwalt, nackt, gefesselt und erstickt in seinem Bett aufgefunden, hat man mit einer Schere das Wort »SCHANDE« in den Rücken geritzt.
Billy nimmt seinen Job ernst. Er arbeitet am Rand seiner physischen und psychischen Belastbarkeit. Wenn er am Ende der Nachtschicht (die sich meist bis in den späten Vormittag hinzieht) ausgelaugt zu Hause eintrifft, sehnt er sich nach erholsamem Schlaf. Aber da erwartet ihn die Familie. Seine Frau Carmen (38) reibt sich in ihrem Job als Krankenschwester nicht weniger auf als er. Die beiden kampf- und streitlustigen Söhne Carlos (6) und Declan (8) verlangen, üblicherweise »in Camouflage-Montur« gewandet, nach Aufmerksamkeit, und Vater Billy Senior (78), ein Ex-Cop, bedarf mit seiner Demenz ganz besonderer Fürsorge.
Billys Einsatz in der Nachtschicht ist eine Art Strafversetzung, eine Verbannung in die Unterwelt. Als er vor Jahren einen gesuchten Verbrecher erschoss, prallte die Kugel ab und verletzte einen Zehnjährigen schwer. Obwohl Billy damals zugedröhnt war, konnte ihm keine Schuld nachgewiesen werden. Er hatte Freunde, die ihn schützten: die »Wildgänse«.
Mitte der Neunzigerjahre war das eine eingeschworene Gruppe von sieben äußerst engagierten jungen Cops. Ihr Einsatzort war eins der schlimmsten Reviere der East Bronx. Dort setzten sich die »Wildgänse« auf eigenwillige Weise durch und verschafften sich höchstes Ansehen. Die Verfolgung Krimineller nahmen sie als sportliches Spiel, eine berauschende Jagd durchs Milieu. Wer mitzuspielen bereit war, gehörte zur »Familie« und genoss Schutz. So wurden die Menschen im Viertel – die Betreiber der Bars, Friseurläden, Imbissbuden, geheimen Spielhöllen, die Wirtsleute, Kiffer und Straßenmädchen – allesamt Mitspieler und revanchierten sich auf ihre Weise: »vom Laster gefallene Ware ... ein Drink hier, ein Quickie im Stehen dort«. Für ihre Verdienste wurden die »WGs« mit dem »goldenen Detective-Abzeichen« dekoriert und »auf der Überholspur« an den Kollegen anderswo vorbei befördert, später über alle Bezirke verstreut und anderen Einheiten zugeteilt.
Dort bekamen sie es mit Kriminellen ganz anderen Kalibers zu tun – skrupellose Täter, schamlose Verbrechen. Sie waren den Cops namentlich bekannt, ohne dass sie ihnen ihre Taten offiziell nachweisen konnten. Sie blieben die »Unantastbaren«. Die »WGs« verfolgten und beobachteten sie über viele Dienstjahre hinweg, bis zum Ausscheiden aus dem Polizeidienst, bis zum heutigen Tag.
Zwanzig Jahre später ist nur noch einer der »WGs« im aktiven Dienst: Billy Graves, der Jüngste. Aber die »Anti-crime«-Partner halten immer noch engen Kontakt, treffen sich regelmäßig, kennen die (meist problematischen) Familienverhältnisse der anderen und ihre jeweiligen »Unantastbaren«, die sich als persönliche Dämonen (engl. »whites«) in ihrem Leben festgesetzt haben. Sie haben einander versprochen, diese Kriminellen nie aus den Augen zu verlieren, sondern zu jagen, irgendwann festzunehmen und zu erledigen.
Nun liegt am St. Patrick's Day eine Leiche im Bahnhof Penn Station. Der Mann muss, während er auf einen Zug wartete, mit einem Messer schwer verletzt worden sein und rannte dann blutend weg, bis er zusammenbrach. Billy kennt das Opfer: Jeffrey Bannion ist der »Unantastbare« seines Ex-Partners John Pavlicek. Sollte der ihn etwa zur Strecke gebracht haben? Billy verwirft den Gedanken, wenngleich er sich selber unter Druck fühlt, den Impuls in sich verspürt, endlich mit seinem »Unantastbaren« abzuschließen.
Während Billy hadert, wie er John Pavlicek in seiner Aufklärungsarbeit berücksichtigen soll, setzt seiner Familie ein Stalker zu. Milton Ramos beobachtet ihr Haus, Carmens Notfallpraxis und Declans Schule, und auf Carlos' Lieblingsjacke hinterlässt er einen blutroten Handabdruck.
»The Whites« von Richard Price ragt in vielerlei Hinsicht aus der Masse der Kriminalliteratur heraus. Die zu lösenden Fälle – ein »Unantastbarer« stirbt nach dem anderen – erzeugen gehörige Spannung, dominieren aber nicht den Plot. Vielmehr bohrt der Autor ganz tief in die Seele seines Protagonisten Billy sowie vieler Neben- und Randfiguren. Präzise beobachtend deckt er die sozialen Gegebenheiten der Menschen auf, so dass ein Konglomerat verletzter, belasteter Seelen in einer nachtaktiven, zerrütteten, kranken und resignierten Großstadtgesellschaft zum eigentlichen Inhalt des Romans wird.
Wir erleben Billy Graves in einem permanenten inneren Kampf und unter zunehmendem, schließlich unerträglichem Druck. Die schwierige Aufklärung der Mordtaten, der Loyalitätskonflikt mit seinen Partnern, die Angst um seine Famile, sein Bestreben, seine Pflicht zu erfüllen, an seinen Prinzipien, seinen letzten Idealen, seiner Moral festzuhalten – all das lässt ihn an die Grenze des für ihn Machbaren stoßen und schier verzweifeln.
Nicht alltäglich ist auch die Sprache. Miriam Mandelkow hat in ihrer gelungenen Übersetzung den originalen Stil übertragen. Kurz und knapp sind die Sätze, trocken der Ton der Dialoge, montageartig die Struktur aus vielen kleinen Episoden mit harten Schnitten ohne Überleitungen und Bezüge. Die Stimmung variiert durchaus: makaber und schalkhaft in den Szenen in Freund Redman Browns Beerdigungsinstitut, zart und einfühlsam in den ehelichen Szenen, wenn Billy und Carmen sich streiten und versöhnen.
Am Ende stimmt alles: Es war »ein ganz passables Happy End«.