Rezension zu »Die Unantastbaren« von Richard Price

Die Unantastbaren

von


Kriminalroman · Fischer · · Gebunden · 432 S. · ISBN 9783100024169
Sprache: de · Herkunft: us

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Manhattan-Cops: Einsatz im Schleudergang

Rezension vom 13.01.2016 · noch unbewertet · noch unkommentiert

In ständig wechselnden Situationen mit immer neuen Heraus­for­de­run­gen kon­fron­tiert – so be­glei­ten wir in diesem außer­ge­wöhn­lichen Krimi eine Crew der New Yorker Polizei durch ihre Nacht­ein­sätze. Zum Atem­holen bleibt weder den Cops noch dem Leser Zeit. Die Poli­zisten be­wäl­tigen ihren be­mer­kens­wer­ten Job chro­nisch unter­be­setzt, unter per­ma­nentem Zeit­druck und kom­plexen Anfor­de­run­gen. Sie müs­sen durch­greifen und Ver­ständ­nis auf­brin­gen, kon­trolliert auf­tre­ten, Emo­tionen im Griff be­hal­ten, alle juris­ti­schen Vor­gaben strengs­tens be­achten, Täter und Opfer glei­cher­maßen ge­recht werden.

Der Roman setzt am St. Patrick's Day ein. Wie jede Nacht sind mehrere Reviere Man­hat­tans zu­sam­men­ge­fasst und fünf Beamte zu einem Team zu­sam­men­ge­wür­felt worden. Das sind nicht nur viel zu we­nige, son­dern sie sind auch nicht alle gleich zu­ver­lässig. Des­halb finden sich üb­licher­weise ein paar Frei­willige aus der Tag­schicht, die sie unter­stützen. Der Leiter ist Billy Graves, 42. Er hasst es, immer wieder auf ein neues buntes Sorti­ment von Aus­hilfen zu treffen, vor allem in dieser Nacht, die er als eine der schlimms­ten des Jahres fürchtet. Schon in den frühen Morgen­stunden werden sie über­müdet und nicht mehr zu ge­brau­chen sein. Er selbst – zwar »kompakt wie ein Foot­baller«, aber mit »vor Er­schöp­fung glasigen Augen« – ist nicht mehr der harte Drauf­gän­ger-Typ wie frü­her. Er hofft ein­fach, dass sein Team im nächt­lichen Chaos von Man­hat­tan von Ärger ver­schont bleibt, dass nur »Klein­scheiß« anfällt, den man der Streife rüber­schie­ben kann.

Doch die Wirklichkeit sieht anders aus: »C'est la guerre.« Autor Richard Price jagt seinen Pro­ta­gonis­ten, seine Mann­schaft und uns Leser atem­los durch die Nächte. Es erin­nert an gute Re­por­tagen, wie er Episo­den an­ein­an­der reiht, in denen sich Ver­bre­chen unter­schied­lichs­ter Art ereig­net haben, wie er Tatorte be­schreibt, die Auf­nahme der Spuren und erste Verhöre proto­kolliert, tumult­artige Szenen fest­hält. Da hat ein Vater ein vier Monate altes Baby fal­len­ge­las­sen, dort gab es eine Mes­ser­steche­rei, ein Trans­sexuel­ler wurde er­dros­selt, ein 100 kg schwerer Thun­fisch aus der Küche eines Sushi­restau­rants ge­stoh­len, und einem Anwalt, nackt, gefesselt und erstickt in seinem Bett auf­gefun­den, hat man mit einer Schere das Wort »SCHANDE« in den Rücken ge­ritzt.

Billy nimmt seinen Job ernst. Er arbeitet am Rand seiner physi­schen und psychi­schen Belast­barkeit. Wenn er am Ende der Nacht­schicht (die sich meist bis in den späten Vor­mit­tag hin­zieht) aus­ge­laugt zu Hause eintrifft, sehnt er sich nach erhol­sa­mem Schlaf. Aber da erwar­tet ihn die Familie. Seine Frau Carmen (38) reibt sich in ihrem Job als Kranken­schwes­ter nicht weni­ger auf als er. Die beiden kampf- und streit­lusti­gen Söhne Carlos (6) und Declan (8) ver­langen, üblicher­weise »in Ca­mou­flage-Mon­tur« gewan­det, nach Auf­merk­sam­keit, und Vater Billy Senior (78), ein Ex-Cop, bedarf mit seiner Demenz ganz beson­derer Für­sorge.

Billys Einsatz in der Nachtschicht ist eine Art Straf­ver­setzung, eine Verban­nung in die Unter­welt. Als er vor Jahren einen gesuch­ten Verbre­cher er­schoss, prallte die Kugel ab und verletzte einen Zehn­jähri­gen schwer. Obwohl Billy damals zuge­dröhnt war, konnte ihm keine Schuld nach­gewie­sen werden. Er hatte Freunde, die ihn schütz­ten: die »Wild­gänse«.

Mitte der Neunzigerjahre war das eine einge­schwo­rene Gruppe von sie­ben äußerst en­ga­gier­ten jungen Cops. Ihr Ein­satz­ort war eins der schlimms­ten Reviere der East Bronx. Dort setzten sich die »Wild­gänse« auf eigen­willige Weise durch und ver­schaff­ten sich höchs­tes Ansehen. Die Verfol­gung Krimi­neller nahmen sie als sport­liches Spiel, eine be­rau­schen­de Jagd durchs Milieu. Wer mit­zu­spie­len bereit war, ge­hörte zur »Familie« und genoss Schutz. So wurden die Menschen im Viertel – die Betrei­ber der Bars, Friseur­läden, Imbiss­buden, gehei­men Spiel­höllen, die Wirts­leute, Kiffer und Stra­ßen­mäd­chen – allesamt Mit­spieler und re­van­chierten sich auf ihre Weise: »vom Laster ge­fal­lene Ware ... ein Drink hier, ein Quickie im Stehen dort«. Für ihre Ver­dienste wurden die »WGs« mit dem »gol­de­nen Detec­tive-Ab­zei­chen« deko­riert und »auf der Über­hol­spur« an den Kolle­gen an­derswo vorbei befördert, später über alle Be­zirke verstreut und ande­ren Ein­heiten zuge­teilt.

Dort bekamen sie es mit Krimi­nellen ganz an­deren Kalibers zu tun – skrupel­lose Täter, scham­lose Ver­bre­chen. Sie waren den Cops na­ment­lich be­kannt, ohne dass sie ihnen ihre Taten offi­ziell nach­weisen konn­ten. Sie blieben die »Un­an­tast­baren«. Die »WGs« ver­folg­ten und be­obach­teten sie über viele Dienst­jahre hin­weg, bis zum Aus­scheiden aus dem Polizei­dienst, bis zum heutigen Tag.

Zwanzig Jahre später ist nur noch einer der »WGs« im akti­ven Dienst: Billy Graves, der Jüngste. Aber die »Anti-crime«-Partner halten immer noch engen Kontakt, treffen sich regel­mäßig, kennen die (meist prob­le­mati­schen) Fa­mi­lien­ver­hält­nisse der ande­ren und ihre je­wei­ligen »Un­an­tast­baren«, die sich als per­sön­liche Dä­mo­nen (engl. »whites«) in ihrem Leben fest­ge­setzt haben. Sie haben ein­ander ver­sprochen, diese Krimi­nellen nie aus den Augen zu ver­lie­ren, sondern zu jagen, irgend­wann fest­zu­neh­men und zu er­ledi­gen.

Nun liegt am St. Patrick's Day eine Leiche im Bahnhof Penn Station. Der Mann muss, während er auf einen Zug war­tete, mit einem Messer schwer verletzt worden sein und rannte dann blutend weg, bis er zu­sam­men­brach. Billy kennt das Opfer: Jeffrey Bannion ist der »Un­an­tast­bare« seines Ex-Part­ners John Pavli­cek. Sollte der ihn etwa zur Strecke gebracht haben? Billy verwirft den Ge­danken, wenn­gleich er sich selber unter Druck fühlt, den Impuls in sich verspürt, endlich mit seinem »Un­an­tast­baren« ab­zu­schlie­ßen.

Während Billy hadert, wie er John Pavlicek in seiner Auf­klä­rungs­arbeit be­rück­sich­ti­gen soll, setzt seiner Familie ein Stal­ker zu. Milton Ramos beob­ach­tet ihr Haus, Carmens Not­fall­praxis und Declans Schule, und auf Carlos' Lieb­lings­jacke hinter­lässt er einen blut­roten Hand­ab­druck.

»The Whites« Richard Price: »The Whites« bei Amazon von Richard Price ragt in vielerlei Hinsicht aus der Masse der Kri­mi­nal­lite­ratur heraus. Die zu lösenden Fälle – ein »Un­an­tast­ba­rer« stirbt nach dem anderen – erzeugen gehö­rige Spannung, domi­nieren aber nicht den Plot. Vielmehr bohrt der Autor ganz tief in die Seele seines Pro­tago­nis­ten Billy so­wie vieler Ne­ben- und Rand­figu­ren. Präzise beob­ach­tend deckt er die so­zia­len Ge­geben­heiten der Men­schen auf, so dass ein Kon­glo­merat ver­letzter, belas­teter Seelen in einer nacht­aktiven, zer­rütte­ten, kranken und re­signier­ten Groß­stadt­gesell­schaft zum ei­gent­lichen Inhalt des Romans wird.

Wir erleben Billy Graves in einem perma­nenten inneren Kampf und unter zuneh­men­dem, schließ­lich uner­trägli­chem Druck. Die schwierige Auf­klärung der Mord­taten, der Loya­litäts­kon­flikt mit seinen Partnern, die Angst um seine Famile, sein Be­streben, seine Pflicht zu erfül­len, an seinen Prinzi­pien, sei­nen letzten Idealen, seiner Moral fest­zu­hal­ten – all das lässt ihn an die Grenze des für ihn Mach­baren stoßen und schier ver­zwei­feln.

Nicht alltäglich ist auch die Sprache. Miriam Man­del­kow hat in ihrer ge­lun­ge­nen Über­setzung den origi­nalen Stil über­tragen. Kurz und knapp sind die Sätze, trocken der Ton der Dialoge, mon­tage­artig die Struktur aus vielen klei­nen Episo­den mit harten Schnitten ohne Über­leitun­gen und Bezüge. Die Stimmung variiert durch­aus: makaber und schalk­haft in den Szenen in Freund Redman Browns Be­erdi­gungs­insti­tut, zart und ein­fühl­sam in den ehe­li­chen Szenen, wenn Billy und Carmen sich streiten und ver­söh­nen.

Am Ende stimmt alles: Es war »ein ganz pas­sables Happy End«.


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