Der gefrorene Himmel
von Richard Wagamese
Saul ist eines der vielen Kinder, die der kanadische Staat aus ihren Familien geholt hat und in Heimen aufzieht, um ihnen ihre indigene Kultur auszutreiben. Anders als all seine Leidensgefährten kann er dem herzlosen Zwang der Anstalt wenigstens zeitweise entkommen, denn er ist ein begnadeter Eishockeyspieler. Doch die Vorurteile in der Gesellschaft stoßen ihn rasch zurück.
Opfer der Zwangsassimilation
Wahrscheinlich ist nichts dagegen einzuwenden, dass eine Gruppe, eine Nation stolz auf ihre kulturellen Leistungen ist. Haben die Europäer im neunzehnten Jahrhundert nicht Herausragendes geschaffen in den schönen Künsten, in den Geistes-, Gesellschafts- und Naturwissenschaften, im Maschinenbau, in ihrer Infrastruktur? Leider hat sich daraus auch ein Überlegenheitsgefühl gegenüber anderen Kulturen entwickelt, aus dem sie die heute fragwürdige Berechtigung ableiteten, deren Individuen zu unterjochen und umzuerziehen, auf dass sie ebenfalls die »höhere Kulturstufe« erklimmen, ob sie wollen oder nicht. Brutale Zwangsassimilation gab es wohl in allen Kolonien bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts (wie auch gegenüber »minderwertigen« Minoritäten im eigenen Land), und das Konzept, anderen Kulturen die eigene überstülpen zu wollen, ist ja keineswegs ausgestorben.
Der Roman »Indian Horse«, bereits 2012 erschienen, 2017 verfilmt und erst jetzt in deutscher Sprache erhältlich (Übersetzung von Ingo Herzke), überrascht zunächst einmal mit der Erkenntnis, dass auch das als besonders tolerant und menschlich geltende Kanada solch dunkle Flecken in seiner Geschichte hat. Opfer waren die Ureinwohner, die wir seit Jahrhunderten absurderweise pauschal als Indianer zu bezeichnen pflegen, seit Kolumbus sie erstmals erblickte und falsch schlussfolgerte, in Indien angekommen zu sein. In Wirklichkeit handelt es sich um zahllose, über den riesigen Kontinent verstreute indigene Stämme, deren Lebensweise, Glauben und Gebräuche sich teilweise erheblich stärker voneinander unterscheiden als die der europäischen Völker. Egal – verachtet, an den Rand gedrängt, unterworfen und eingepfercht wurden sie von den Zuwanderern alle.
Der Schriftsteller Richard Wagamese (1955-2017) gehörte zu den kanadischen Ojibwe, Nordamerikas größter indigener Ethnie. Er erzählt in seinem bewegenden Roman (in den gewisse autobiografische Elemente einfließen) vom ursprünglichen Leben in diesem Stamm und von dessen Vorfahren, hauptsächlich aber vom Schicksal eines fiktiven Jungen namens Saul Indian Horse, der in das Räderwerk der institutionalisierten Umerziehung gerät und am real existierenden Rassismus des Landes scheitert. Im Jahr 1961, als die Handlung um das damals acht Jahre alte Kind einsetzt, ist die Hochzeit der kanadischen Zwangsassimilationsmaßnahmen eigentlich vorüber. Die ersten Erziehungsanstalten wurden in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gegründet, es folgten ca. dreitausend solche Einrichtungen, die letzte wurde erst 1996 geschlossen, und 2017 gab es noch etwa 900 Überlebende.
Sauls Familie ist von den Regierungsmaßnahmen bereits hart getroffen, hat sich in den unwegsamen Norden von Ontario zurückgezogen und hält sich dort in der Wildnis versteckt. Allerdings sind außer dem kleinen Saul nur noch seine Eltern und seine Großmutter dabei, denn die Behörden haben seine jüngere Schwester und den älteren Bruder bereits verschleppt. Dem gelingt zwar die Flucht aus dem staatlichen Erziehungsheim, aber er stirbt kurze Zeit später an TBC. Die Mutter ist ein seelisches Wrack, der Vater steckt voller Wut und Aggression. In ihrer Verzweiflung ziehen die Eltern fort und kehren nie wieder, während Saul bei der Großmutter zurückbleibt. Nachdem sie dem harten Winter zum Opfer fällt, wird der schutzlose Saul aufgegriffen und in der »St. Jerome’s Residential School« eingeliefert.
Was sich anhört wie ein Internat, ist in Wirklichkeit eine Erziehungsanstalt unter der Obhut der Kirche, wo etwa 120 indigenen Kindern alles ausgetrieben werden soll, was sie von ihren Vorfahren mitbringen. Die Mittel dazu sind brutal und gnadenlos. Der Tagesablauf ist streng strukturiert. Harte körperliche Arbeit, Kälte und Hunger sollen die Persönlichkeit der Kinder brechen. Die strengen Regeln werden konsequent überwacht, Übertretungen mit schlimmsten Züchtigungen geahndet. Physische und sexuelle Übergriffe kommen hinzu. Kein Kind wird jemals die »Eiserne Schwester« vergessen, eine enge Kiste im dunklen Keller, oder die stillen Schreie im nächtlichen Schlafsaal. Manche überleben die Torturen nicht.
In Pater Gaston Leboutilier findet Saul einen einfühlsamen Vertrauten. Der lebensfrohe, beliebte Mann entdeckt in dem Jungen ein außergewöhnliches sportliches Talent und fördert es. Hinter den Mauern des Schulgebäudes wird eine Grasfläche zu einem Eishockeyfeld umgestaltet und eine Schulmannschaft gebildet. Wenn Saul mit simplen, viel zu großen Schlittschuhen, einem Schläger und gefrorenen Pferdeäpfeln als provisorischen Pucks trainiert, fliegt er förmlich übers Eis dahin in eine andere Welt.
Als Saul vierzehn Jahre alt ist, öffnet ihm sein Ausnahmetalent die ansonsten hermetisch verschlossene Tür seiner »Residential School«. Er darf bei den Turnieren indigener Mannschaften mitspielen, wenn die Reservate gegeneinander antreten und Ranglisten bilden. Seine herausragenden Leistungen erregen Aufsehen, und er erhält schließlich ein Angebot, zusammen mit Weißen in der Profi-Liga zu spielen. So wird er einer von verschwindend wenigen Indigenen, die in die National Hockey League NHL aufgenommen werden. und etabliert sich dort als gefeierter »First Star«.
Doch kann nicht sein, was nicht sein darf. Ein Indianer, der weiße Mitspieler austrickst, der eine Profi-Karriere macht, wie sie Weißen gebührt? Das ertragen weder die (weißen) Sportler auf dem Spielfeld noch die (weißen) Zuschauer auf den Rängen. Die einen nehmen ihn in die Zange, die anderen stimmen Kriegsgesänge an. Das zermürbt Saul unaufhaltsam. Nachdem er sich zu einem aggressiven, unfairen Akt hinreißen lässt, setzt der Kapitän den renitenten Star auf die Reservebank, und es dauert nicht lange, bis er aus dem Kader fliegt.
Erst achtzehn Jahre ist Saul alt, da hat seine glänzende Karriere bereits ihr Ende gefunden. Der Aufschlag auf dem Boden der Realität indigener Minderheiten ist hart. Saul reist durchs Land, nimmt jeden Hilfsjob an, setzt frustriert jeden verdienten Dollar in Alkohol um, verfällt seelisch und körperlich. Ein Therapiezentrum fängt ihn auf, doch anders als die Mitpatienten ist er außerstande, seine Vergangenheit in Redekreisen offenzulegen und zu verarbeiten. Sein persönlicher Betreuer rät ihm, seine Geschichte aufzuschreiben, und so wird das Ende des Romans zugleich sein Anfang: Sauls Memoiren beginnen.
Drei Themenkreise bestimmen Richard Wagameses Roman. Einer ist die ursprüngliche Kultur der Ojibwe. In der kurzen Zeit, die Saul mit seiner Großmutter zusammen ist, erfährt er aus ihren Erzählungen, wie die Vorfahren in freier Natur mit den Wildtieren zusammenlebten. Seine Großväter waren Fallensteller und Schamanen, stolz auf ihr Wissen und ihre Heilkräfte. Sie wussten von »Wassergeistern«, die zum Lied des Windes tanzten und deren blinkende, funkelnde Augen vom Wasserspiegel heraufleuchteten. Anders als die meisten ihrer Verwandten auf dem weiträumigen Kontinent nutzten die Ojibwe nicht deren eigenartiges, riesiges Tier ohne Geweih, dessen Hufe auf dem Erdboden wie Trommeln klangen. Die Ojibwe waren immer zu Fuß unterwegs.
Der zweite Schwerpunkt ist die erbarmungswürdige Lage der Kinder in den »Residential Schools«. Aus ihren Familien entführt, eingesperrt, isoliert, entwurzelt, gedemütigt und misshandelt, durchleiden sie hautnah, was ihnen angetan wird, können es aber nicht begreifen. Warum nur soll alles, was sie in ihrem bisherigen Leben zu schätzen gelernt haben, auf einmal verboten sein? All der Gaben seiner Vorfahren beraubt, steht Saul »unter dem Bann einer Macht, die ich nie verstand«. Was er und seine Altersgenossen an unerträglichen Repressalien auferlegt bekommen, projiziert Richard Wagamese drastisch in unser Kopfkino.
Das dritte Sachgebiet ist Eishockey, Kanadas Nationalsport. Viele Seiten lang haben wir den Eindruck, wir hielten ein Fachbuch darüber in Händen. So sachkundig wie enthusiastisch schildert der Autor, wie Saul mit traumwandlerischer Sicherheit über die Eisfläche flitzt, dabei intuitiv den Puck beim Mitspieler platziert oder ins Tor knallt, die Spielzüge der Gegner blitzschnell zu »lesen« vermag. Überzeugend vermittelt er das himmlische Glück, das Saul auf dem Höhepunkt seiner Karriere durchdringt, den Zusammenhalt und Sportsgeist der triumphierenden Mannschaft. Ebenso erleben wir mit ihm später den Hass der Gegner auf den talentierten Außenseiter und dessen Aufbegehren gegen die derben Beschimpfungen und unfairen Demütigungen. Er erschrickt selbst vor dem Ausmaß an Aggression, die in ihm explodiert und sich gegen ihn selbst richtet.
Ein bitterer Roman.