
Liebe kann zum Gefängnis werden
Die 70-jährige Elsa ist an einer der aggressivsten Krebsvarianten erkrankt, ihr bleibt nur noch wenig Lebenszeit. Bis vor kurzem hat sie noch erfolgreich als Psychologin praktiziert.
Auf ihrem Lebensweg hat sie sich zu einem starken, unnachgiebigen Charakter entwickelt, der sich keine Vorschriften machen lassen möchte. So bestimmt Elsa, dass sie nicht in einem Hospiz untergebracht werden soll, sondern ihre letzten Tage zuhause verbringt, so normal wie möglich und ohne viel Aufhebens.
Ihr Mann Martti, ein bekannter Maler und Visionär, ergibt sich der Situation, fürchtet jedoch die nahenden Gefühle des Verlustes, der Trauer. Um seine Schwächen wissend und sich als Versager einschätzend, glaubt er den ihn erwartenden Belastungen nicht gewachsen zu sein.
Tochter Eleonoora, Chirurgin, übernimmt das Organisatorische, arrangiert den Tagesablauf, hält Kontakt mit den Ärzten. Ein Krankenbett, eine Schmerzpumpe und sanitäre Hilfsmittel werden geliefert. Für ihre erwachsenen Töchter Maria und Anna ist es eine Selbstverständlichkeit, sich stundenweise um die Großmutter zu kümmern.
Gemeinsam feiern sie ein glückliches Weihnachtsfest, saunieren im Sommerhaus, baden im See, fangen Fische. Dann stirbt Elsa einen für alle unerwartet schnellen Tod. Elsas letzte Gedanken gelten ihrer Tochter Eleonoora: Sie muss sie unbedingt sprechen, sie um Verzeihung bitten. Doch vergeblich – ihre Tochter nimmt das Handygespräch nicht an ...
Das zentrale Thema in Riikka Pulkkinens Roman "Wahr" ist mitnichten die Sterbebegleitung, so naheliegend das auch wäre. Es sind vielmehr die Lebenden, die engsten Verwandten, insbesondere Eleonoora und Anna, die den Plot bestimmen. Eine Episode, die schon Jahre zurück liegt, hat sie geprägt, sie zu sehr gefühlsempfänglichen, verletzbaren Menschen gemacht. "Wahr" ist die Auseinandersetzung mit Liebe, Vertrauen, Bindung, Lügen, Wut, Hass, Verachtung, Verantwortung und einer ganz großen Schuld, die einer aus ihrer Mitte trägt. Jemand hat sich völlig ausgeliefert, all seine Liebe gegeben, um sich in dem tiefen Gefühl des Sich-selbst-Verlierens dann wieder zu finden. Eine Liebe, die zum eigenen Gefängnis wurde ...
Warum leidet Eleonoora so sehr? Ihre große Angst vor dem baldigen Verlust ihrer Mutter ist nicht zu übersehen. Sie kann kaum noch essen, ist abgemagert bis auf die Knochen. Wie sah ihre Kindheit aus, als Mutter Elsa ständig auf Forschungsreisen ging und sich ein Kindermädchen, die junge Studentin Eeva, aufopferungsvoll um sie kümmerte? Hat sie damals vielleicht etwas erlebt, das einem kleinen Kind weh tat? Hat sie schon einmal jemanden verloren, dem sie ihr Vertrauen schenkte? Lebte sie in einer großen Lebenslüge, die sie erst spät versteht?
Auch Anna hat eine besondere Bindung zu ihrer Großmutter. Die beiden plaudern recht offen über Annas jetziges Leben und ihre kleine Krise, die alle aufschreckt. Hatte sie eine Depression, eine Beziehung mit einem Mann mit Kind? Gemeinsam planen sie ein Picknick im Freien, Anna stöbert im Kleiderschrank und entdeckt ein feines Kleid mit einer breiten Schärpe. Ach, das sei von Eeva, dem Kindermädchen ...
Offensichtlich gibt es in der Familie ein Tabuthema, doch nach und nach erfährt Anna mehr von dem Geheimnis, das alle tief in sich tragen und nie verarbeitet haben. Anna entdeckt Parallelitäten zu ihrem eigenen Leben. Da gab es jemanden, der genau wie sie bis zur Selbstaufgabe geliebt hatte. Sie muss daraus lernen, sich selber schützen. An Eevas dramatischem Ende trägt für Anna nur einer Schuld; den stellt sie zur Rede, verurteilt ihn. Aber er akzeptiert das nicht für sich; für ihn gibt es nichts zu bereuen; er ist mit sich im Reinen, und Anna wendet sich ab.
"Wahr" ist ein Roman intensiver Emotionen, die man sich so feinfühlig, wie die Autorin Riikka Pulkkinen sie ohne Kitsch aufbereitet hat •und von Elina Kritzokat aus dem Finnischen übersetzt wurden), kaum noch vorstellen kann. Gibt es in unserer oberflächlichen, konsum- und medienorientierten Welt tatsächlich noch Menschen, die zu solcher Hinwendung fähig sind? Die Autorin entwickelt vier solch beeindruckende Charaktere.
Ihr Sprachstil wirft den Leser in ständig wechselnde Zeiten, lässt die Figuren aus ihren Perspektiven erzählen. Manchmal kann das mitten im Text geschehen. Aus einer Person erwächst die gefühlsmäßig ähnlich veranlagte andere. Diese Mittel lockern die nahezu durchgehend melancholische Atmosphäre etwas auf.
Dennoch: Wenig Handlung, kaum Erheiterndes – da muss man sich wohl einen sonnigen Tag aussuchen, um von der insgesamt dunklen, trüben Stimmung nicht hinuntergezogen zu werden.
Riikka Pulkkinen, 1980 geboren, ist eine der erfolgreichsten jungen Autorinnen Finnlands. "Wahr" wurde für den wichtigsten finnischen Literaturpreis, den Finlandia-Preis, nominiert.