Rezension zu »Philby« von Robert Littell

Philby

von


Spionagethriller · Arche · · Gebunden · 290 S. · ISBN 9783716026809
Sprache: de · Herkunft: us

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Kim Philby - der Spion, der Verdauungspillen schluckte

Rezension vom 20.11.2012 · 2 x als hilfreich bewertet · noch unkommentiert

Harold Adrian Russell "Kim" Philby (geboren 1912 in Ambala, Indien, ge­stor­ben 1988 in Moskau) war Doppelagent der Briten und Russen. Während der Di­plo­ma­ten­sohn am Trinity College in Cambridge Wirt­schafts­wis­sen­schaf­ten studierte, schloss er sich einer sozialistischen Gruppe an, die für die Rechte der Bergarbeiter kämpfte. 1933 ging Philby nach Wien und stand auf Seiten der österreichischen Kommunisten gegen Dollfuss; ein Jahr später heiratete er Litzi Friedmann, eine jüdische Kommunistin und Agitatorin, die durch diese Ehe der Verhaftungswelle entging und mit Philby nach London fliehen konnte.
Über seine Frau knüpfte der russische Geheimdienst Kontakt zu Philby. Mit seiner Herkunft und seinem Intellekt war er genau der richtige Mann, und Philby ließ sich anwerben. Dem britischen Geheimdienst SIS war das nicht entgangen, obwohl Philby im Spanischen Bürgerkrieg als britischer Journalist und Franco-Unterstützer mit eindeutig faschistischer Tendenz arbeitete. Doch der SIS glaubte, ihn als Schachfigur für seine Zwecke ausnützen zu können: Mit Hilfe dieses Doppelagenten wollten sie die Sowjets in großem Umfang mit Fehlinformationen füttern. 1952 wurden Donald MacLean und Guy Burgess, zwei Kommilitonen aus Cambridge-Zeiten, als sowjetische Agenten enttarnt, und damit flog letztendlich auch Philby auf; der SIS konnte ihn nicht mehr halten, und Philby ging als Kriegsberichterstatter nach Beirut.
Nachdem Philby 1963 in die Sowjetunion floh und dort als angesehener KGB-Mann hoch dekoriert wurde, räumte James Jesus Angleton, der Chef der Spionageabwehrabteilung der CIA, ein, dass Philby auch CIA-Mitarbeiter war - und ein russischer Maulwurf, der geheimes Material des US-Atomwaffenprogramms an die Sowjets weitergegeben hat. Philby hatte Angleton schon 1942 kennengelernt und ihn im Auftrag des britischen Geheimdienstes ausgebildet, ehe er dann zur CIA wechselte ...

Was für ein Mann muss so einer sein? Kim Philby, Deckname "Sonny" (Söhnchen), war ein smarter, aber linkischer Mann. Er stotterte und litt unter Verdauungsproblemen. Eine Waffe mochte er nie tragen, denn er verabscheute Gewalt. Er hatte Angst vor einer Verhaftung - schon bei der Androhung von Folter würde er alles gestehen, sämtliche Namen verraten. Und das soll der legendäre Dreifach-Agent gewesen sein? Entweder sind alle auf die größte Lachnummer hereingefallen, oder er war der genialste Schauspieler aller Zeiten. Wahrscheinlicher ist wohl Letzteres.

Nun hat sich der Autor Robert Littell von der schillernden Persönlichkeit des Kim Philby faszinieren lassen - so wie vor ihm schon John le Carré ("Tinker, Tailor, Soldier, Spy", 1974; deutsch: Dame, König, As, Spion).

Lapidar fassen die Überschriften die Essenz jedes einzelnen der sechzehn Kapitel höchst unterschiedlicher Länge zusammen ("Teodor Stepanowitsch Mali wird eine letzte Zigarette verwehrt", "Drei Fliegen werden mit einer Klappe geschlagen"). Dem folgen unterschiedliche Textpassagen - Verhöre, Liebesgeschichten, Gesprächsprotokolle, Briefdokumente, Berichte oder Erzählungen. Der Autor gibt Personen aus Philbys innerem Zirkel Zeit und Raum, sich auf ihre individuelle Weise zu äußern. So ergibt sich ein Gesamtbild des facettenreichen Agenten, ein "Porträt des Spions als junger Mann" (Untertitel) aus etlichen Außenperspektiven, das allerdings historisch nichts Neues ans Tageslicht befördert.

Zu einem Unikat, zu einem Spionagethriller ganz besonderer Art macht das Buch aber des Autors literarische Bearbeitung des Stoffes. Auf grandiose Weise analysiert er, entwickelt rasante Dialogschlachten mit messerscharfer Logik und spitzem Humor als Waffen, malt Charaktere aus, legt ihnen Äußerungen in den Mund, die Schreibmaschine oder die Feder, dass man seinen lesenden Augen kaum trauen will.

Hat man je gehört, dass einer Spion für die Russen sein möchte, um später enttarnt in Moskau leben zu können? Dass "Stalins Sowjetrussland das Land auf Erden sei, das Shangri-la am nächsten" kommt? Dass in jenem Paradies "die Wirtschaft ... brummt"? Hier sprechen natürlich die linientreuen Verfechter der "reinen Lehre".

Robert Littell macht die (Un-) Geister der Vergangenheit wieder zu Menschen aus Fleisch und Blut, einschließlich des "hochgeachteten Josef Wissarionowitsch" (Stalin). Als eine treue Genossin versucht, Philby als britischen Agenten auffliegen zu lassen, führt sie ins Feld, angesichts seiner englischen Herkunft und seines bourgeoisen Hintergrundes könne sein Engagement für die Weltrevolution nur unecht sein. Dieses Argument aber schmettert der Genosse Stalin wie folgt ab: Er selber sei ein Beispiel für einen "Apfel ..., der so weit vom Stamm gefallen ist": Er sei der Sohn eines versoffenen Schuhmachers, der die Bedeutung des Wortes "Proletariat" wohl kaum gekannt habe.

Das reine Spionagegeschäft, also die Übergabe geheimer Nachrichten zwischen Philby und seinen Kontaktmännern, wird als so unprätentiös beschrieben, als habe er ein paar Birnen aus Nachbars Garten als Geschenk mitgebracht. Und der Mann, der schon bei seiner Anwerbung preisgab, nicht mutig zu sein, blieb sich treu: Das Töten hat er nie gelernt.

Hat Stalin wirklich Philby den Befehl gegeben, Franco zu töten? Dass Philby den Auftrag - wenn es ihn gab - verweigerte, hätte ausreichen müssen, um ihn später anzuklagen, aber Stalin will von dem Auftrag nichts gewusst haben und hält ohnehin einen Journalisten wie Philby für völlig ungeeignet für so eine Aufgabe.

Eines der Vergnügen beim Lesen dieses Buches ist, dass man sich häufig fragt: Wieviel von dem, was Littell da vorführt, ist eigentlich blanke Fiktion - oder anders herum: Wieviel davon könnte eventuell tatsächlich geschehen sein? Stellenweise glaubt man, er mache sich schlichtweg lustig über die Herrschaften in den oberen Etagen von Caxton House (dem Hauptquartier des SIS) oder führe Stalin vor. Viele Gestalten sind ideologisch derart verblendet, dass man nicht weiß, ob man über sie lachen oder weinen soll. Ab und an gefriert das Blut in den Adern. Das Grauen füllt manchmal nur eine halbe Seite, aber jeder versteht: Die Revolution frisst ihre Kinder. Und welch schreckliche Not verrät der Satz, den wohl jeder Gefangene an seinen letzten Verhörenden richtet, egal, was man noch aus ihm herauspressen will, ehe Stalins Schergen ihn hinrichten: "Ich muss so lange wie möglich mit Ihnen reden" (S. 22 und 259). Hier geht es darum, das eigene Leben um ein paar Minuten zu verlängern ...

Robert Littells "Philby" (Young Philby, übersetzt von Werner Löcher-Lawrence) ist ein Spionagethriller, der begeistert, der seine Figuren fern von allen Konventionen dieses Genres frei im Raum tanzen lässt. Begleitet von skurriler Musik, stehen sie geradezu kopf, scheinen abgehoben zu haben vom Boden der Tatsachen ...

Dieses Buch habe ich in die Liste meiner 20 Lieblingsbücher im Winter 2012 aufgenommen.


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