Rezension zu »Das Meer am Morgen« von Margaret Mazzantini

Das Meer am Morgen

von


Belletristik · Dumont · · Gebunden · 127 S. · ISBN 9783832196844
Sprache: de · Herkunft: it · Region: Sizilien

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Lampedusa - Schicksal hinter den Nachrichtenbildern

Rezension vom 18.11.2012 · 12 x als hilfreich bewertet · noch unkommentiert

2011 - die rauen Stürme des "Arabischen Frühlings" wirbeln in Libyen alles durcheinander. Jamila ist kaum 20 und schon Witwe. Fanatische Regierungssöldner haben ihren Mann Omar grund- und sinnlos erschossen. Nun treibt sie mit ihrem kleinen Sohn Farid, etwa 5, auf einem überladenen Geisterschiff übers Mittelmeer und hofft in Europa auf ein neues Leben in Sicherheit. Ohne es zu ahnen, werden die beiden damit zu Werkzeugen Gaddafis, der im verzweifelten Kampf um seine Macht drohte, Europa mit einer Flut von Flüchtlingen zu überschwemmen.

Wenige Monate später - Gaddafi war gestern - reisen Angelina, 52, und ihre Eltern in die Gegenrichtung: Die italienische Familie sucht das Vorgestern, folgt den Erinnerungen an eine glückliche Vergangenheit in Libyen, die mit Gaddafis Umsturz 1970 ihr abruptes Ende fand. Auch sie mussten damals vor Gaddafi übers Meer nach Italien fliehen.

Margaret Mazzantini berichtet in ihrem brandaktuellen Roman (Mare al mattino, übersetzt von Karin Krieger) in drei Kapiteln von den Schicksalen der beiden Familien über drei Generationen. Sie sind politisch-historisch miteinander verflochten, ihre Bewegungen teils parallel, teils gegenläufig; der Plot zielt auf einen gemeinsamen Kollisionspunkt hin: die italienische Mittelmeerinsel Lampedusa; und doch begegnen sie einander niemals.

Der erste Teil führt uns in eine der letzten Sahara-Oasen Libyens. Wie seine Vorfahren - nomadisierende Beduinen - einstmals lebten, erfährt der kleine Farid aus Erzählungen seines Großvaters Mussa. Der Junge trägt noch deren Sensibilität für seine Umgebung in sich, wenn er die Sterne am klaren Nachthimmel betrachtet oder einer scheuen Gazelle, die sich neugierig nähert, einen Zweig hinhält, bis sie vorsichtig die Pistazien davon abrupft. Das Tier wird zum Sinnbild für den Verlust - Glück, Harmonie, Geborgenheit, Unschuld ...
Farids Eltern Jamila und Omar sind in der modernen Zeit nach den Ölfunden (1959) und dem Staatsstreich des jungen Oberst Muammar al-Gaddafi geboren und aufgewachsen. Der charismatische Revolutionsführer ließ die Wüstensiedlungen betonieren, moderne Häuser und Schulen bauen. Auch Mussa sagte damals, der Raïs habe ein armes Land bedeutsam gemacht. Jamila konnte Gesang studieren, Omar wurde Fernsehtechniker.
Jetzt halfen Omars Antennenanlagen mit, die Nachrichten vom Aufstand gegen Gaddafi und von dessen Krieg gegen die Rebellen auch in die Oase zu tragen. Mussa verliert seinen Glauben an den "König der Könige". Als Omar getötet wird, fliehen Jamila und Farid.
Auf abenteuerlichen Wegen erreichen die beiden das Meer. Dem Seelenverkäufer, der die Flüchtigen aufnehmen soll, sieht jeder an, dass er eher Untergang als Rettung verspricht. Und doch flehen alle den skrupellosen Vermittler an, nach Italien mitgenommen zu werden, denn eine zweite Chance gibt es nicht. Auf See erwartet sie schier Unvorstellbares.

Im (doppelt so umfangreichen) Mittelteil geht es um die italienische Familie. Die Großeltern Antonio und Santa folgen 1938 begeistert dem Ruf des Duce, Libyen in einen fruchtbaren Landstrich zu verwandeln - zu Italiens Nutzen. Schnell schließen sie Freundschaft mit den Einheimischen, man hilft sich gegenseitig, der Ackerbau in den italienischen Siedlungen floriert.
Im Krieg von den Briten vertrieben, kehren viele dieser Kolonisten nach 1945 nach Nordafrika zurück - und sind in ihrer alten Heimat willkommen. In den Fünfziger und Sechziger Jahren bilden die Taliani eine erfolgreiche, wohlhabende Mittelschicht. Christen, Juden, Muslime leben friedlich zusammen, arbeiten, respektieren einander und die Institutionen der anderen, genießen das Leben gemeinsam.
1959 wird in Tripolis, wo Antonio und Santa mit viel Engagement eine erfolgreiche Kerzenzieherei aufgebaut haben, ihre Tochter Angelina geboren. Das kulturell fruchtbare Klima der heiteren Hafenstadt wird ihr Nährboden. Ihr liebster Spielkamerad ist Ali, der Sohn eines Wachslieferanten.
Nach Gaddafis Revolution ist eine seiner ersten Aktionen, alle Taliani des Landes zu verweisen. Trotz ihrer Verdienste, "aus der Wüste einen Obstteller gemacht" zu haben, sollen sie für die Missetaten des Kolonialismus bezahlen; alles Hab und Gut müssen sie zurücklassen.
Die erneute Vertreibung kostet die Familie der Kerzenfabrikanten ihre Identität. Angelina, die elf Jahre lang "araba" und gleichzeitig "taliana" war, wird nun als "tripolina" schräg angeschaut. Die Großeltern fassen in ihrer neuen/alten Heimat kaum Fuß, verlieren ihre Lebensfreude, hängen ihren Erinnerungen nach, vereinsamen, "ihrer selbst beraubt".
Als der "Arabische Frühling" losbricht, wohnt Angelina, inzwischen Studienrätin, mit ihrem Sohn Vito bei Catania. Vito ist orientierungslos und faul. Früher war er ein Meerkind, aber jetzt taucht und fischt er nicht einmal mehr. Während der Party zu seinem 18. Geburtstag wird ihm plötzlich bewusst, wie hohl sein bisheriges Leben ist, wie wenig es wirklich sein eigenes ist (Die Beschreibung der Disco-Mentalität gehört zu den stärksten Passagen des Buches.). Als Facharbeit für sein Abitur will er die Geschichte seiner Familie aufschreiben; er sucht seine Wurzeln.
In den Ferien besuchen sie die Großeltern auf Lampedusa. Angelina ist dort angespannt, des rückwärtsgewandten Lamentos überdrüssig. Linderung ihrer aller Sehnsüchte soll der Ausflug ins alte Tripolis bringen, den Vito anregt. Neugierig streunen sie durch die Stadt auf der Suche nach Wiedererkennbarem, nach Bekannten. Was sie finden, ist ernüchternd und desillusionierend - die neue Zeit hat die Fäden zur erlebten Geschichte gekappt.

Der dritte Teil führt die beiden Familienstränge aufeinander zu - doch berühren sie sich nie ...

Die international politisch und sozial engagierte Autorin, zwei Jahre jünger als Angelina, hat viele Themen in ihren kurzen Roman gepackt. Die Charaktere bleiben auf die Bedürfnisse der Handlung beschränkt; sie entfalten sich wenig. Doch die politisch-historischen Zusammenhänge zur Expansionshistorie Italiens seit etwa 1911 und zur Geschichte Libyens skizziert Margaret Mazzantini sehr eindrucksvoll, ebenso Libyens Wüstenkultur seit der Zeit der Händlerkarawanen aus Zentralafrika. All dies sind bei uns weithin unbekannte, aber höchst interessante Entwicklungen. Faszinierend sind auch die dichten Naturbeschreibungen des ersten Teils und die erschütternde Schilderung von Farids und Jamilas Überfahrt.

Durchweg pflegt die Autorin einen geradezu reportagehaften Stil - kurze Sätze, Wortgruppen wie Pinselstriche. Episoden und Stimmungen fügen sich wie Mosaiks zusammen, Erinnertes und Aktuelles vermischen sich darin. So entsteht ein anschauliches und eindringliches Buch über Ereignisse und Geschichten, die zu schnell in Vergessenheit geraten.

P.S.: Mit dem Film "Das Meer am Morgen" von Volker Schlöndorff hat dieser Roman nichts zu tun.


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