Wasser in der Wüste
Cayetano Brulé ist der Protagonist dieses gelungenen Krimis, der an einem für uns reizvoll-exotischen Schauplatz angesiedelt ist. Dass Señor Brulé ein Genussmensch ist, verrät schon sein rundes Bäuchlein; Pancho-Villa-Bart und Lucky Strikes unterstützen die Einschätzung. Er wurde etwa fünfzig Jahre vor Handlungsbeginn in Havanna geboren (ein paar Jahre vor Fidel Castros Revolution). Mit dreißig zog es ihn der Liebe wegen nach Valparaiso, »mittenhinein in die von Salvador Allende ausgelösten politischen Wirren«. Das Liebesabenteuer ging bald zu Ende; nur »lästige Erinnerungen und das Echo ihrer herrischen Säuferstimme« überlebten. Per Fernstudium erlangte Cayetano ein Diplom als Privatdetektiv, das ihm jedoch, wie den meisten seiner weltweit agierenden fiktionalen Kollegen, nur kärglich die Kasse füllt. Sein Auftragsbuch ist leer, während sich die unbezahlten Rechnungen türmen.
Dessen ungeachtet gibt er sich erst einmal voll ausgelastet, als Cornelia Kratz sein Büro betritt – 68er-Look, um die vierzig und attraktiv. Sie stellt sich als Auslandskorrespondentin der FAZ in Buenos Aires vor und spricht ihn auf einen Mord an, dem etwa vier Wochen zuvor der deutsche Entwicklungshelfer Willi Balsen zum Opfer gefallen war. Cayetano hatte in den Zeitungen darüber gelesen; inzwischen hat die Polizei den räuberischen Überfall auf das Haus in San Pedro de Atacama ad acta gelegt. Und nun steht diese deutsche Journalistin vor ihm und behauptet zu wissen, dass ein ganz anderes Verbrechen hinter Balsens Tod steckt. Der hatte sie nämlich kurz vor seinem Tod angerufen und gebeten, auf schnellstem Wege nach Chile zu kommen; er habe »etwas sehr Interessantes für die Presse entdeckt«.
Was tun? Cayetano lässt es lieber ruhig angehen, und in laufende offizielle Untersuchungen mischt er sich schon gleich nicht ein, könnte ihm das doch leicht Ärger mit den Carabineros oder der Kriminalpolizei einhandeln. Doch das in Aussicht stehende Honorar ist ein unschlagbares Argument dafür, den Auftrag der Journalistin anzunehmen.
Nach einigen Recherchen über Willi Balsen bei der deutschen Botschaft in Santiago und in chilenischen Zeitungsarchiven fliegt Cayetano in die Atacama-Wüste. Die Oase von San Pedro ist mittlerweile kein Geheimtipp mehr, sondern zum Touristen-Mekka geworden – fast alle Unterkünfte sind belegt. So muss sich Cayetano mit Cornelia Kratz, die ihn begleitet, ein Zimmer teilen.
Nicht nur die Hitze und die dünne Höhenluft auf 1500m machen Cayetano schwer zu schaffen. Auch der Fall Balsen entpuppt sich als kniffliger und vielschichtiger als erwartet. Balsen, ein ausgebildeter Fachmann auf dem Gebiet der Gewässerkunde, leitete im Auftrag und mit Geldern einer privaten deutschen Hilfsorganisation ein Projekt zum Bau von Brunnen und Bewässerungskanälen, um die Landwirtschaft weiterzuentwickeln. Doch nun drohen die Brunnen zu versiegen, wodurch die Menschen ihre Lebensgrundlage verlieren und schlimmstenfalls ihre Heimat verlassen müssen. Seiner Partnerin muss Cayetano nicht erklären, dass man »in diesem Teil der Welt arbeitet, um zu leben, während man [in Deutschland] lebt, um zu arbeiten«.
Die Atacama-Wüste ist zwar lebensfeindlich und staubtrocken, aber reich an Bodenschätzen. Das Bergbauunternehmen »Antares« hat sich Schürf- und Wasserrechte gesichert. Kollidierten deren Interessen mit Balsens Visionen? Oder haben die Atacameños, die Wüstenbewohner mit ihrem uralten Glauben an pachamama, die gute Mutter Erde, dem Europäer die Verantwortung dafür zugeschrieben, dass der sensible natürliche Kreislauf nach Jahrtausenden zerstört wurde, und Rache genommen?
Die Gegend ist außerdem reich an Kunstschätzen, denn hier verlief eine bedeutende Handelsroute der Inkas. Immer wieder werden bei Ausgrabungen gerade an Wasserläufen wertvolle Keramiken gefunden, reich mit Goldgravuren verziert. Hatte Balsen womöglich mit Antiquitäten gehandelt oder Fälschungen vertickert?
Cayetanos Ermittlungen kommen nicht recht voran. Mal scheinen sich verblüffende Zusammenhänge abzuzeichnen, dann wieder enden die Spuren in einer Sackgasse. Zeitweise rückt gar Eifersucht als Motiv in den Bereich des Möglichen, denn warum sonst sollte Balsens Geliebte Hals über Kopf verschwinden und sich, wie Cayetano später herausfindet, drei Tage nach dem Mord mit einer Überdosis Schlaftabletten umbringen? Mysteriös bleiben schließlich auch Balsens Aufzeichnungen und Terminvermerke in seinem Notizbuch. »Sierra Leone« war seine letzte Eintragung – was mag sie bedeuten?
Der verzwickte Kriminalfall wird gemächlich und ohne blutige Gemetzel, aber spannend zu einer Lösung geführt. Die zahlreichen Handlungsfäden werden überzeugend aufgedröselt, manche wieder fallengelassen, bis sich am Ende ein stimmiges, logisch schlüssiges Bild ergibt. Auch der unerwartete Schluss wirkt nicht wie ein Trick aus dem Zauberkasten. Einen wichtigen Beitrag zum Lesevergnügen leistet die sympathische Hauptfigur Cayetano Brulé, der den Fall gut nachvollziehbar auflöst.
Im Verlauf des Geschehens erfahren wir viel über die Geschichte des Landes und vor allem der Atacameños. Diese indigenen Wüstenbewohner sind ein verschlossenes Völkchen, das seine Riten und Mythen pflegt.
Roberto Ampuero, 1953 in Valparaíso geboren, ist im Hauptberuf Diplomat (seit 2012 chilenischer Botschafter in Mexiko). Sein Kriminalroman »El alemán de Atacama« erschien bereits 1996; eine deutschsprachige Ausgabe in der Übersetzung von Carsten Regling wurde erst 2012 bei Bloomsbury veröffentlicht, seit Mai 2013 auch als Taschenbuch erhältlich.
In den siebzehn Jahren seit der Erstausgabe hat sich die Welt weiter gedreht. Die Themen – Entwicklungshilfe, Wassergewinnung in der Wüste, Raubbau an natürlichen Ressourcen, Ausbeutung durch gewinnorientierte global players, politische Intrigen, Drogenkartelle usw. – haben nichts von ihrer Aktualität verloren, sondern im Gegenteil an Brisanz gewonnen; von Lösungen sind wir so weit entfernt wie damals. Insofern hat Ampueros ansprechender, sehr unterhaltsamer Krimi mit sozial- und geopolitisch kritischen Noten seinen vielfältigen Lesereiz nicht verloren und ist immer noch eine Empfehlung wert.